Dienstag, 6. Mai 2014

Die Plage - Epilog: Aluns Gerechtigkeit

Nach einem tiefen Schlaf - ich hatte mir am Abend zuvor ein Zelt weit weg von unserem Schnarchtroll ausgesucht - wurde ich vom Zwitschern der Vögel geweckt. Als ich aus meinem Zelt hinaustrat und mich streckte, sah ich ein paar Honigschwalben, die durch die Gestänge der zum Teil schon abgebauten Karawanenzelte glitten. Der Sonnengott Alun küsste die Schlafenden wach - es war ein verheißungsvoller Morgen.

Die Händler waren mit dem Abbau der Zelte wohl etwas voreilig gewesen - ich sah wie sich hunderte Menschen auf den Markt drängten - keine Rede mehr von einem »Müden Markt«!
Meine Gefährten schienen aus ihren Feldbetten gefallen zu sein - ihre Zelte waren leer - selbst Vivana war wohl schon wieder unterwegs.

Ich schlenderte über den Markt und schaute mir die Stände an. Ein Bogner verkaufte Eschenholzbögen und gehärtete Pfeile. Eine in dicke Tücher gehüllte Obsthändlerin pries ihre Äpfel und Birnen an. Daneben war ein Fischhändler, der geräucherte Heringe feil bot.
Vivana und Tarkin standen am Stand eines Bauern, der ihnen gerade mehrere Rationen Hartkäse und Pökelfleisch überreichte. Sie hatte sich also wieder erholt von ihrer Magenverstimmung. Anneliese entdeckte ich beim Feilschen mit einer Stoffhändlerin. Sie hatte sich das gegerbte Wolfsfell geholt und wollte sich einen Mantel daraus nähen lassen.

Wir hatten für unsere Verdienste reichlich Silberlinge bekommen. Bislang besaß ich nur einen alten Bauerndolch, einen Gürtel und ein Hemd, das mir askalonische Soldaten überlassen hatten. Ich brauchte unbedingt etwas, worin ich meine Fundstücke - neben der Flöte des Rattenmannes einige Felle und Federn - verstauen konnte. Ich konnte bei der freundlichen Stoffhändlerin einen Geldbeutel und einen kleinen Rucksack für drei Silberlinge erwerben.
»Eine Lederrüstung wäre auch nicht schlecht!«, überlegte ich laut, bei den Blessuren durch Ratten, Wölfe und Kadavermaden, die ich schon erleiden musste. Es gab auf dem Markt nur einen Händler, der Waffen und Rüstungen anbot. Sein Stand wurede scheinbar von den Bürgern gemieden.

Da sah ich zufällig die Stadtwache, die uns in die Kanalisation begleitet hatte und von den Ratten ziemlich malträtiert worden war. Er grüßte mich freundlich und stellt sich als Alwyn vor - gestern in der Hektik waren die Höflichkeiten flöten gegangen - wir hatten den armen Kerl nicht einmal nach seinem Namen gefragt. Er war beim Notor gewesen und hatte sich von ihm einen neuen Wundverband anlegen lassen. Ich bekam ein schlechtes Gewissen - wir hatten uns gestern noch nicht einmal um seine Verletzungen gekümmert. Er machte mir keine Vorwürfe, sondern war froh, dass die Rattenplage endlich vorbei war. Er hatte sogar ein Lächeln auf den Lippen: »Dank euch bin ich ein Held in Altem! Der Ratsherr hat mir ein Lob ausgesprochen und mich reich belohnt!«
Er klimperte mit seinem Geldbeutel.

Er sah, dass ich mich für den Waffenstand interessiere: »Bei diesem Orell, der fetten Kröte, müsst Ihr aufpassen. Der hat die Notlage ganz schön ausgenutzt! Er war der einzige, der während der Plage Brot angeboten hat - und hat dafür von den Menschen ihr letztes Hemd verlangt. Kein Wunder, dass niemand mehr etwas mit ihm zu tun haben will! Er hat zum Tausch auch Waffen und Rüstungen angenommen, die will er jetzt wohl loswerden…«
Er erinnerte mich noch einmal an die anstehende Verhandlung über den Rattenfänger, zu der uns der Notor als Zeugen bestellt hatte, und verabschiedete sich dann.

Der Krämer Orell.

Ich versuchte mein Glück beim Krämer, doch hatte dieser nichts als Verachtung für mich übrig, als ich mit ihm feilschen wollte. Nach einigem Hin und Her, dem Einschreiten Vivanas, Anfeindungen und Drohungen … zahlte ich schließlich doch den überteuerten Preis. Was für ein Halunke, dieser Orell!

»Hört! Hört!«, klang es plötzlich über den Marktplatz. Inmitten der Menge stand ein Herold, der gerade wieder ansetzte.
»Hört! Hört! Der Rat der Stadt Altem will heute Abend Gericht halten über den Rattenfänger, der so viel Unglück über unsere schöne Stadt gebracht hat. Alle sollen sich auf dem Richtplatz am Nordufer des Rostwassers einfinden!«

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Mit einem mulmigen Gefühl im Magen begab ich mich am Abend zusammen mit meinen Gefährten zum Richtplatz. Hier hatte sich schon eine riesige Menschenmenge versammelt - es schien fast so, als seien tatsächlich alle Bürger dem Ruf des Herolds gefolgt. Wir wurden von den Stadtwachen in die vorderste Reihe geleitet, da wir als Zeugen aussagen sollten - so bekam ich mit meinen Ein-Schritt-Dreißig wenigstens etwas mit von der Verhandlung. Als die Leute Urota sahen, wichen sie freiwillig zurück und ebneten uns den Weg.

Am Ufer des dreckigen Flusses, der trefflich den Namen »Rostwasser« trug, stand ein verwittertes Podest aus dunklem Holz. Hierauf hatten sie einen langen Tisch gestellt, an dem der Rat Platz genommen hatte. In der Mitte des Podests prangte das, was den Schuldigen erwartete - der Galgen.

Zwei Mitglieder des Rats kannte ich bereits: den sehr ernst drein blickenden Ratsherrn Largo und den Notor Fugan Tayn mit seiner weißen Mähne. Beim dritten Mitglied handelte es sich um einen greisen, barhäuptigen Mann. Er schien Alunpriester zu sein, denn er trug das typische Gewand mit dem Sonnenrad.

Dann kamn sie: drei Stadtwachen mit dem Rattenfänger in der Mitte. Beim ersten Anblick des Übeltäters begannen die vorher so friedlichen Bürger Altems zu schreien und zu fluchen: »Hängt ihn!« - »Hängen ist nicht genug! Vierteilt ihn! Oder noch besser - vorher ans Rad!« - »Wo ist deine Krone, Rattenkönig?« - »Rattendämon, wir schicken dich zurück in den Abgrund!«

Der Rattenfänger musste sich mit am Rücken gefesselten Händen in die Mitte des Podests stellen. Hier war er dem Zorn der Bürger Altems ausgesetzt. Sie hatten faules Obst, einige sogar tote Ratten, mitgebracht und bewarfen ihn damit.
Der Ratsherr erhob sich schließlich und brachte die aufgebrachte Menge mit einer beschwichtigenden Geste zur Ruhe. Als er uns bemerkte, nickte er uns freundlich zu und setzte dann an:
»Werte Bürger der Stadt Altem. Wir haben uns heute hier versammelt, um diesem Mann, der uns nur als der Rattenfänger bekannt ist, nach dem Recht des Lichts und der Vernunft, ein Maß an Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen, wie es das Gebot ist!
Wir werfen ihm vor, dass er zum einen zahlreiche Kinder entführt, Menschen verletzt und zum anderen unsere Stadt mit der Rattenplage überschwemmt hat. Unser ehrenwerter Notor Fugan Tayn und unser alt-ehrwürdiger Alunpriester Ian Terek werden die öffentliche Befragung des Angeklagten vornehmen.«

Damit übergab er mit einem Nicken das Wort an den weisen Notor. Fugan Tayn erhob sich und schaute dem Rattenmann, der von den Wachen in Richtung der Richterbank gedreht worden war, direkt ins Gesicht: »Nun Fremder, verrate uns zunächst deinen Namen!«

Ich sah von der Seite, wie der Rattenmann den Notor spöttisch anlächelte und ihm dann vor die Füße spuckte. Eine der Wachen teilte ihm dafür einen Hieb mit der stumpfen Seite einer Hellebarde aus - ihm blieb kurz die Luft weg und der Spott war verschwunden.

Das Schreien und Zetern der Leute schwoll bedrohlich an - Largo fiel es diesmal schwerer, die Menge wieder in den Griff zu kriegen. Er fauchte den Rattenmann an: »Rattenfänger, dir muss klar sein, dass du am Galgen endest, wenn du nichts zu sagen hast. Ich glaube kaum, dass sich für dich ein Fürsprecher finden wird!«
Ich sah, wie der Rattenfänger die Stirn runzelte. Er schien auf die Bitte Largos einzugehen, denn er wandte sich an die hasserfüllte Menge:
»Ich schaue euch in die Augen als einer von euch. Ich stamme nicht von hier, doch bin ich ebenso verdammt wie ihr. Ihr führt ein Leben in einer stinkenden, zerstörten Stadt und könnt nicht anders, als euer Bestes zu versuchen. Auch ich versuchte einst mein Bestes. Ich war ein Künstler, ein Gaukler im großen Zirkus des Talas Sambar. Niemand konnte sich abwenden, wenn Estrella zu meiner Musik tanzte. Ich hatte Talent - und Hoffnung - damals. Die Hoffnung, einst vor Königen zu spielen und dafür reich entlohnt zu werden.
Und Estrella, meine kleine weiße Ratte, würde in einem goldenen Käfig schlafen.
Doch dann warfen sie uns hinaus und ließen uns in der stinkenden Gosse zurück! Wir mussten von dem leben, was wir uns erbetteln konnten - und das war herzlich wenig. Doch ich hatte immer noch Hoffnung, Hoffnung, dass sich wieder alles zum Guten wenden würde - bis zu jenem Tag - jenem Tag, als die Kinder kamen!«

Ein Funkeln des Wahnsinns trat bei den letzten Worten in seine Augen, die auf ein kleines Mädchen fielen, das sich aus Furcht schnell unter dem Rock seiner Mutter verkroch.

»Erzähl uns, was an jenem Tag geschah!«, forderte ihn der Notor auf.

Der Rattenfänger hatte seinen Kopf gesenkt. Während einer langen Pause atmete er mehrmals tief ein und aus. Dann hob er wieder seinen Kopf - Wahnsinn war scheinbar Trauer gewichen - dicke Tränen kullerten seine Wangen herunter.
Er blickte den Notor an und fuhr heulend fort:
»Diese Kinder, sie haben sich angeschlichen, meine Flöte zerbrochen und dann«, er brach in ein lautes Schluchzen aus, »und dann meine Estrella getötet! Ohne Grund, aus Spaß, Spaß am Töten!«

Ian Terek sah bestürzt zum Notor hinüber und bedeutete ihm, sich hinzusetzen. Der alte Priester stemmte sich mühsam an der Tischplatte hoch und begann mit zittriger Stimme:
»Auch Ihr seid ein Kind des Lichts, junger Mann. Warum habt ihr die Kinder unserer ehrbaren Bürger entführt? Wolltet ihr euch für die Gräuel rächen, die euch widerfahren sind?«

Der Rattenfänger reagierte zunächst nicht auf die Frage. Unerwartet brach er plötzlich in ein lautes Gelächter aus. Die Menge wurde unruhig, der Ratsherr musste wieder einschreiten.

»Nein!«, fauchte der Angeklagte dann den alten Priester an.
»Es war ein Lichtverehrer wie Ihr einer seid, der mich hierher schickte. Er sagte, er wolle mir helfen, mich von der Straße holen. Er gab mir sogar eine neue Flöte, die unzerbrechlich sei und mir neue Hoffnung geben sollte!«

»Ein Bruder des Lichts soll euch hierher geschickt haben?«, fragte der Priester ungläubig zurück.

»Ja, und er hat mich zu dem gemacht, der jetzt vor euch steht!«, schmetterte ihm der Rattenmann entgegen.

»Das ist eine schwere Beleidigung der Bruderschaft des Lichts. Das alleine genügt, um euren Tod zu rechtfertigen! Ist euch das klar?«, schimpfte der Alte mit jetzt sehr energischer Stimme.

Wieder dieses unheimliche Lachen des Rattenfängers.

»Nennt uns den Namen des Priesters, damit wir ihm eine Taube schicken können!«, verlangte der Notor, der sich weit über den Tisch nach vorne gebeugt hat.

»Ich kenne seinen Namen nicht. Er war ein Priester in Medea, wo ich in der Gosse hauste! Die Güte, die mir durch ihn widerfuhr, wollte ich weitergeben. Ich kam mit guten Vorsätzen nach Altem.«

»Du Schwein! Hängen sollst du!«, kam ein Zwischenruf aus der Menge.

»Nun haben wir von euch eine traurige Geschichte gehört. Doch was habt ihr zu den Vorwürfen zu sagen?«, schaltete sich jetzt doch der Ratsherr ein.

Der Rattenmann wandte seinen Blick ab und schwieg.

Der Notor ließ die Eltern vortreten, deren Kinder entführt worden waren. Sie berichteten über die Ängste, die sie aushalten mussten. Die Menge wurde wieder lauter und forderte die sofortige Hinrichtung.

Dann waren wir an der Reihe. Widun schilderte in kurzen Worten unsere Entdeckungen in der Kanalisation und unseren Kampf mit dem »Rattendämon«. Mit der Schilderung der getöteten Ratten und des Feuers, das wir gelegt hatten, trat wieder dieses Funkeln des Wahnsinns in seine Augen.
»Die Ratten - sie sind meine einzigen Freunde! Die Menschen sind die Monster! Überall habe ich gesehen, wie sie meine Freunde getötet haben! Und wieder diese Kinder, wie sie sich über jede getötete Ratte gefreut haben! Ich hasse sie! Ich hasse sie!«

Jetzt zappelte er wie tollwütig und Speichel tropfte aus seinem Mund.

Ich sah, wie der Rat der Drei sich besprach. Dann erhob sich der Alunpriester, dem scheinbar die Verkündung des Urteils oblag.
»Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass die Sachlage eindeutig ist! Der Rattenfänger, der uns seinen Namen nicht verraten will, ist schuldig! Er trägt die Schuld an der Rattenplage, der Entführung zahlreicher Kinder Altems und der Verbreitung der Rattenpest - der einige Bürger erlegen sind! Wir verurteilen dich hiermit - im Namen Aluns, des Gottes des Lichts und der Gerechtigkeit - zum Tode durch den Strang! Das Urteil wird sofort vollstreckt!«

Der Rattenfänger hatte aufgehört, sich zu schütteln und wurde zum Galgen begleitet. Ich sah, wie er Anneliese einen bösen Blick zuwarf und etwas vor sich hin murmelte - ich konnte ihn nicht verstehen. Ein vermummter Soldat legte ihm den Strick um den Hals. Die Menge johlte. Dieses Gemurmel, war das eine Verwünschung gewesen? Vielleicht sogar ein Todesfluch? Die anderen teilten meine Bedenken - doch was sollten wir tun?
Urota entschloss sich dazu, den Henker aufzuhalten. Doch zu spät. Bevor er auch nur zum Sprung auf das Podest ansetzen konnte, hatte der Henker die Falltür geöffnet und der Rattenkönig stürzte hinab. Ein lautes Knacken hallte über den Richtplatz, als ihm das Genick brach. Die Menge war noch immer völlig außer sich - diesmal jedoch vor Freude!
Das war also das Ende des Rattenkönigs - aber war es auch das Ende der Plage?

Ich zog mich ins Karawanenlager zurück und leckte meine Wunden - bis zum nächsten Abenteuer.