Samstag, 2. November 2019

Kalte Brise - Kapitel 3: Die Geisterinsel

Wir landeteten an einer Bucht der Geisterinsel. Zur Linken zogen sich dunkle Felsen hinauf, während zur Rechten tropfende Palmen und weitere Bäume einen dichten Wald bildeteten. Nebel waberte von den Hügeln meerwärts und empfing uns am breiten Sandstrand.
»Wie romantisch«, flüsterte Saradar und kuschelte sich an Maluna.
Der Kapitän und Dugan waren die ersten an Land, sie scheuchten bunte Vögel auf, während aus der Ferne das Geschrei von Tieren an unsere Ohren drang, die sich wohl um etwas Essbares stritten.
Haldart gab seine Befehle: »Zwei Leute sammeln Holz und machen ein Feuer!« - Hierzu meldeten sich Widun und Tarkin.
»Drei Leute suchen nach frischem Wasser!« - Dafür waren Dugan, Edwen und Urota zuständig; während Urota locker zwei leere Fässer trug, mühten sich die beiden Menschen mit einem Fass ab.
»Dann brauchen wir noch jemanden, der Obst und essbare Wurzeln sammelt!« - Anneliese und Freya sprangen auf.
»Wer geht auf die Jagd?«, fragte der Kapitän in die Runde. Hierfür erklärte ich mich bereit, Saradar wollte mich begleiten: er hatte sicher Zweifel an meinen Fähigkeiten als Jäger.
Die Insel war schön: wenn der Nebel nicht gewesen wäre, wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass es hier spuken könnte. Wir gingen in den Wald und schon bald wurde ich das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Dann ein Kreischen – haarige Wesen sprangen in den Baumkronen hin und her. Sie hatten große Augen, die im Zwielicht des Waldes funkelten und uns nachglotzten. Ich schätzte, dass sie in etwa so groß waren wie ich selbst, also ein Schritt dreißig. Wenn ich meinen Bogen auf sie richtete, versteckten sie sich sofort hinter dicken Ästen und Stämmen.
Saradar gebot mir plötzlich, still zu sein. Er hatte etwas entdeckt: eine Wildsau. In etwa zwanzig Schritt Entfernung wühlte sie gerade den Boden auf. Saradar nickte mir zu. Ich legte an und schoss einen Pfeil auf das Schwein – es quiekte und versuchte, hinkend davonzulaufen – doch der Gjölnar war schneller und stach es ab. Die Pfeilspitze hatte das rechte Hinterbein der Sau durchbohrt. Zufrieden mit unserem Jagderfolg kehrten wir zum Schiff zurück.

»So eine Scheiße!«, hörten wir Dugan fluchen, wobei ihm sein Kautabak in hohem Bogen aus dem Mund flog. Haab hatte ihm soeben berichtet, dass der Kater des Kapitäns verschwunden war.
»Ich befürchte, diese Kreischlinge haben ihn entführt!«, meinte er. »Nicht auszudenken, wenn Haldart davon entfernt. Dieses fette Fellknäuel ist das einzige, was seinen Zorn besänftigen kann – ohne ihn bricht der Vulkan aus!«
Inisch versuchte die Mannschaft zu beruhigen: »Ein Glück, dass Haldart gerade ein Nickerchen macht. Wir müssen los, den Kater so schnell wie möglich zurückholen! Wer kommt mit?«

Maluna, Vivana und Tarquan blieben zurück, um unsere Habseligkeiten zu bewachen, falls sich diese Kreischlinge noch einmal dazu entschließen sollten, an Bord zu kommen.
Der Rest der Gruppe – mit Dugan als Begleitung – betrat die Insel. Kairn rief uns noch hinterher, dass er meinte gesehen zu haben, dass die Entführer in Richtung der Ruinenstadt davongesprungen seien. Wir drangen in den Dschungel ein und entdeckten schon bald einen überwachsenen Weg. Wir folgten dem einstmals breiten Pfad - immer wieder hörte ich ein Kreischen aus den Baumkronen. Die Luft war schwül und trieb und Schweißperlen auf die Stirn. Nach einer halben Stunde stießen wir auf die Ruinen der Stadt Sagoria: sie war an einem Hügel terrassenartig erbaut worden, von den Mauern hingen Schlingpflanzen herunter, die zerfallenen Steinhäuser waren von Pflanzen und Moos überwuchert. Ich erkannte eine Mühle, hinter der sich ein Wasserfall ergoss. Ihr Wasserrad war vermodert und drehte sich nicht mehr. Wir stiegen eine zerbröckelte Treppe zum ersten Plateau hinauf.
Anneliese schaute sich um: »Wo ist der Kater?«
Saradar griff sich in die Hose und zog sein Wiesel heraus.
»Radaras, such den Kater!«, befahl ihm der Khor'Namar. Das Wiesel schüttelte sich kurz und sprang davon. Es schnüffelte und lief dann schnurstracks auf ein noch recht gut erhaltenes Gebäude zu, das einmal eine Schmiede gewesen sein musste. Wir lauschten: tatsächlich, Katzenlaute!

Saradar fackelte nicht lange und stieß die Tür auf. Was mir als erstes auffiel, war der Gestank – es roch nach nassem Fell und Fäkalien. Die Schmiede schien der Versammlungsort dieser Kreischlinge zu sein. Es war ohrenbetäubend laut – als wir eintraten, hüpften sie wild durcheinander, einige schwangen an den morschen Deckenbalken hin und her, andere versuchten, sich hinter den eingestürzten Wänden zu verstecken. Auf der ehemaligen Esse hatte sich ein dicker Kreischling niedergelassen, der seine Artgenossen auch von der Körpergröße her deutlich überragte.
Ein Kreischling.
Der ebenso dicke braune Kater saß auf seinem Schoß, wurde von ihm gestreichelt und schnurrte ganz zufrieden. Als uns der mutmaßliche Häuptling erblickte, warf er den Kater erschrocken einem Kreischling zu, der neben ihm hockte. Zeiselbart fauchte – und wurde weitergereicht. Der nächste wusste auch nichts mit ihm anzufangen und warf ihn weiter, bis der Kater schließlich wie eine heiße Knolle von Kreischling zu Kreischling durch die Luft geschleudert wurde. Das zufriedene Schnurren war längst einem panischen Fauchen gewichen. Wir ernteten einen bösen Blick des Oberkreischlings. Er sprang von seinem Thron, stellte sich auf die Hinterbeine und begann, auf den Boden zu trommeln. Aus allen Richtungen stürzten sich die Bestien mit gefletschten Zähnen auf uns. Maluna, Tarquan und Vivana streckten ihre Köpfe zur Schmiede herein – sie waren uns doch hinterher gekommen. Pferd bereute es gleich wieder, die Kreischlinge warfen mit Steinen nach uns, und ihn hatte der erste erwischt. Ein Stein prallte wirkungslos von Saradars Brust ab, während Vivana und Maluna aus dem Hinterhalt zwei Kreischlinge erwischten. Dem Häuptling ragte bereits ein Pfeil aus dem Ohr – was ausreichte, um zwei Feinde in die Flucht zu schlagen. Ich ließ meine Wunderbohne zu Boden fallen und beschwor einen Waldgeist. Wie gewünscht übernahm er die Kontrolle über den Bohnenmann. Saradar verfehlte einen Kreischling mit seinem Bastardschwert, da ihm dieser geschickt auswich: »So ein flinker Affe!«
Der Häuptling war wütend, er sprang Urota an und stach ihm mit seinen langen Krallen in den Hals – schwarzes Trollblut schoss heraus. Edwen sicherte die Schmiede nach hinten ab, während Vivana einen der Feinde mit ihrem Dolch erlegte. Urota suchte Vergeltung für den Angriff des Häuptlings und versetzte ihm einen gewaltigen Hieb mit der Ogrensaxt. Freya wurde von zwei Kreischlingen umzingelt – ein Gebet an den Lichtgott, ein Aufblitzen und die beiden sprangen geblendet davon. Ein weiterer Kreischling stürzte von einem Dachbalken und schlug mit dem Schädel gegen die Kante des Amboss, sodass er leblos liegen blieb. Mein Bohnenmann war für die Kreischlinge zu langsam, er holte zu seinen Schlägen immer weit aus und bis seine Ranken ihr Ziel erreicht hätten, war jenes bereits auf und davon. Saradar hatte sich inzwischen des Häuptlings angenommen – dieser war zwar stärker, aber weniger flink als seine Kampfgenossen. Saradars Hieb traf – mit tödlichem Ausgang. Der Rest der Kreischlingbande verzog sich durch ein Loch im Dach.
Dugan war überglücklich: »Der Kater ist gerettet!« - und wir damit auch, dachte er bestimmt.

Wir schauten uns in der Schmiede noch ein wenig um. Der Oberkreischling hatte auf der Esse einen glitzernden Haufen hinterlassen: seine gesammelten Schätze. Wir fanden einen Beutel mit 22 Silberlingen, die wir untereinander aufteilten. Edwen nahm sich einen schweren Schmiedehammer, ein gutes Breitschwert und ein Paar rostige Schulterschützer. Freya schnappte sich eine Speerspitze. Als Edwen auch noch ein weiteres Langschwert mitnahm, meldete sich Saradar: »Ist das nicht zuviel des Guten?«
Edwen schüttelte den Kopf – er hatte wohl im Sinn, die Sachen zu verkaufen. Vivana hatte sich inzwischen des Katers angenommen und versucht, ihn in den Stoffbeutel zu stecken.
»Passt nicht!«, gab sie es auf und stopfte das verwirrte und verängstigte Tier stattdessen in ihren Rucksack.
»Ich hoffe bloß, das doofe Vieh trinkt nicht aus einer meiner Phiolen, dann fallen ihm alle Haare aus, oder schlimmer noch – es leckt an meinem Giftfrosch!«
»Lebt der überhaupt noch?«, fragte ich die Diebin.
»Natürlich, ich füttere ihn jeden Tag!«, behauptete sie.

Wir verließen die Schmiede und schauten uns in der Ruinenstadt um. Nachdem wir ein Burgtor passiert hatten, fiel mein Blick auf einen eigentümlichen Turm – und dann auf Annelieses Begleiterin: die Fee flog wirbelnde Kreise und hinterließ dabei eine blaue Glitzerspur; immer schneller und mit größerem Radius bis ein Surren erklang – urplötzlich hielt sie inne, ganz und gar in Glitzerstaub gehüllt. Die Magiebeflügelte bedeutete Anneliese, ihr zu folgen. Sie flog schnurstracks auf ein Turmfenster zu, das ihr blaues Leuchten schließlich verschluckte. Wir entschieden, der Fee zu folgen und überquerten den Burghof. Die Inselfestung zerfiel und bröckelte - der Dschungel hatte sie sich einverleibt, Wurzeln sprengten die Mauern der Steinbauten und Schlingpflanzen überwucherten sie. Eine steinerne Brücke hatte jedoch der Zeit getrotzt und erlaubte uns, den reißenden Bach zu überqueren, der den Wasserfall speiste. Das Innere der Burg lag offen vor uns: die Mauer des Hauptgebäudes wirkte, als sei sie von einer Gigantenfaust eingeschlagen worden. Ein verkohlter Baum, der einst eine mächtige Eiche gewesen sein mochte, bestärkte die Trostlosigkeit des Ortes.
»Eine tyrische Eiche!«, bemerkte Pferd.
»Hat wohl der Blitz getroffen!«, mutmaßte ich.
Tarquan belehrte mich: »Wisst Ihr, die Tyrer, die diese Burg errichtet haben, stammen von den waldbewohnenden Valoreanern ab. Sie flüchteten einst vor den brandschatzenden Imbriern und suchten Zuflucht im Land des Regens und eben auch hier, auf dieser Insel. Für ihre Festungen suchten sie sich Orte mit besonderen Bäumen aus. Zur Einweihung wurden diese dann verbrannt als Andenken an den Grund für ihre Flucht.«
Karte von Sagoria auf Tamureth.
Wir erreichten den dunklen Turm, in dem die Fee verschwunden war. Seine Tür wehrte uns den Eintritt mit schwerer Eiche, eisernen Beschlägen und dem Fehlen eines Schlosses. Widun sah sich den Beschlag, der sich anstelle des Schlosses fand, genauer an: er trug Symbole für Feuer, Wasser und Erde.
»Vielleicht ist das ein Hinweis, wie man die Tür öffnen kann?«, fragte sich Widun laut. Er überlegte noch einen Moment und pustete dann auf den Beschlag – es passierte: nichts! Urota drängte den Mnamnpriester mit einem freundschaftlichen Schubs beiseite und riss berstend und krachend - aber ohne große Anstrengung - die Tür aus ihren Angeln. Modrige Fäulnis schlug uns entgegen, als wir das Erdgeschoss betraten. Das spärliche Licht bildete einen Tunnel im aufgewirbelten Staub. Ich erkannte ein wurmstichiges Bett mit einer zerschlissenen Matratze, mehrere dickbauchige Fässer sowie eine zerfallene Treppe, die nach oben führte. Widun schnupperte an den Fässern: »Riecht sehr säuerlich, wenn hier einmal guter Wein drin war, ist er inzwischen zu Essig geworden!«
Tarkin stand am Treppenansatz: »Ich möchte mich dort oben gern mal umsehen; ich gehe auch voran, so leicht wie ich bin, wäre es doch gelacht, wenn mich die Stufen nicht trügen!«
Nach dem Knarzen der Treppenstufen hörte ich das Quietschen einer Falltür, dann folgten auch Anneliese, Widun und Vivana dem Kobold hinauf.

Tarkin sah sich um: was für ein Durcheinander! Ringsum verstaubte Regale, vom Holzwurm durchlöchert und vollgestopft mit vergilbten Schriftrollen, alten Büchern mit von Mäusen benagten Rücken, Phiolen, Flaschen, Glaskolben, viele davon in Scherben auf dem Boden, überall Flecken von bunten Flüssigkeiten und Pülverchen. Auf einem großen Eichentisch stapelten sich Pergamente, alle kreuz und quer verteilt. Widun bückte sich und hob ein paar der Glaskolben auf, sicherlich hatte er etwas »Geistreiches« damit vor.
»Pst!«, forderte Anneliese. »Im Nebenraum, hört ihr das nicht auch?«
Tarkin öffnete furchtlos die nur angelehnte Tür zum Nebenraum. Wind blies durch die offenen Turmfenster und ließ zwei Phiolen auf einem Pergament hin- und herrollen und gegeneinander schlagen.
Anneliese stellte ihre Koboldohren auf: »Das Scheppern meine ich nicht – was ich meine, klingt eher nach einem Wimmern!«
Vivana schaute vorsichtig hinter ein sperriges Holzregal, das umgekippt war, und den Blick auf eine Nische in der Wand verwehrte.
»Ein blaues Leuchten!«, rief sie. Die anderen traten hinzu und halfen ihr dabei, das Regal beiseite zu räumen.
»Meine Fee!«, rief Anneliese und erstarrte zugleich vor Schreck: ihre Fee schmiegte sich an die schmutzige blau-graue Robe eines Menschen – eines toten Menschen! Der Leichnam lehnte zusammengekauert an der Turmwand, die verblichenen, arkanen Symbole am Saum zeichneten ihn als Wind- und Wassermagier aus. Sein Gesicht war von einer Kapuze verborgen, nur ein paar weiße Barthaare ragten heraus. Die blaue Fee klammerte sich an seine Brust und wirkte tieftraurig.
Vivana beugte sich über den Toten und zog ihm die Kapuze herunter – ein blanker Schädel grinste ihr entgegen.
»Seltsam«, stellte die Jujin-Diebin unbeirrt fest, »es sieht fast so aus, als ob ihm jemand mit einer scharfen Klinge das Gesicht abgetrennt hätte! Scheint aber schon eine ganze Weile her zu sein.«
Anneliese war plötzlich ganz aufgeregt. Sie bückte sich und hob die skelettierte Hand des Zauberers in die Höhe. Darunter wurde ein zerbrochener Zauberstab sichtbar, an dessen Ende ein blauer Edelstein funkelte. Sie war hin und weg, betrachtete ihn noch einen Moment fasziniert, ihre Finger strichen über die kunstvoll eingeschnitzten Glyphen, dann ließ sie ihn in ihrem Stoffbeutel verschwinden.
»Schade, dass er zerbrochen ist!«, bedauerte die Koboldin. Die anderen waren dazu übergegangen, das Studierzimmer des Magiers nach Nützlichem oder Wertvollem zu durchstöbern. Vivana fand eine Schatulle, die einen Silberring mit einem Schlangensymbol, einen grünen Edelstein – den sich Maluna schnappte – und drei Goldtaler und 34 Silberlinge beinhaltete. Sofort entbrannte ein Streit über die Aufteilung der Beute. Anneliese hatte einen arkanen Folianten entdeckt, sie blätterte darin und erkannte erfreut, dass er vier Zaubersprüche des ersten und einen des zweiten Zirkels umfasste. Vivana sammelte Phiolen mit bunten Flüssigkeiten: »Hm, scheinen keine Gifte sondern irgendwelche magischen Tränke zu sein!«
Freya kam neugierig die morsche Treppe heraufgesprungen, um sich, dort angekommen, besorgt umzublicken.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Widun.
»Die Sachen werden doch nicht etwa verflucht sein?«, wollte Vivana wissen.
Die Wichtelpriesterin zuckte mit den Schultern: »Nein, kein Fluch, aber irgendetwas Unheilschwangeres liegt in der Luft!«
Die blaue Fee hatte inzwischen vom toten Magier abgelassen und flog ganz aufgeregt im Kreis, schließlich ließ sie sich auf Annelieses Schulter nieder.
»Sie zittert«, bemerkte die Koboldmagierin. »Irgendetwas stimmt hier nicht! Mich beschleicht auch so ein seltsames Gefühl!«
Tarkin fragte verwundert: »Ist es dunkler geworden oder bilde ich mir das nur ein?«
Die blaue Fee verkroch sich ängstlich in Annelieses Kragen. Eine Windbö, gefolgt von einem Krachen – die Fensterläden waren zugeschlagen.

»Alles in Ordnung da oben?«, rief ich hinauf.

In der Mitte des Raums im Obergeschoss erschien plötzlich ein violettes Leuchten und eine Gestalt zeichnete sich langsam ab - eine Fee, aber gegenüber Annelieses magischer Begleiterin war diese auf groteske Weise entstellt: ihre Augen glühten vor Zorn, ihre Zähne waren gefletscht, ihr dunkles Gewand war zerfleddert und flatterte wie ihre langen Haare wild und bedrohlich um ihren Körper. Ihre Flügel hatten Risse und schienen aus violettem Kristall zu bestehen. Wirbelnd flog sie im Dreieck – an den Eckpunkten öffneten sich arkane Portale, durch die drei weitere Dunkelfeen in die Wirklichkeit übertraten. Sie glichen der ersten Fee bis aufs Haar. Die magischen Wesen begannen gleichzeitig mit ihrem violetten Feenstaub arkane Zeichen zu schreiben, ein Funkenknistern lag in der Luft.

Saradar spürte, wie sich seine roten Haare aufrichteten. Er zögerte nicht und rannte kampfeslustig die Treppe hinauf – es splitterte: er hatte eine Stufe durchgetreten, konnte sich aber abfangen.

Tarkin hatte in einer Ecke des Raums einen kleinen Eisenkäfig entdeckt, den er geistesgegenwärtig auf eine der Dunkelfeen schleuderte. Tatsächlich gelang es ihm, sie darin zu fangen. Die übrigen Feen hatten ihren Funkenzauber vollendet und trafen Freya und Maluna jeweils mit einer Ladung, während sie Widun verfehlten. Widun warf einen Glaskolben nach einer Dunkelfee, die dadurch gegen die Wand gedrückt wurde.

Ich entschied mich, in Eichhörnchenform die zerstörte Treppe hinaufzulaufen und mich dem dort droben tobenden Kampf anzuschließen.

Vivana zückte einen Giftdolch, zielte und traf eine der Feen, die dadurch gelähmt zu Boden ging. Tarkin schlug nach einer der Feen – vorbei. Freya betete an den Lichtgott – ein kurzes Aufblitzen ließ eine Dunkelfee geblendet zurück, sodass es Saradar gelang, sie mit seiner Axt zu spalten – jedoch nicht in zwei Feenhälften: ihr Körper verschwand ins Nichts.
Anneliese zauberte einen Flammenstrahl – die Dunkelfee antwortete ebenfalls mit einem Feuerzauber: eine feurige Hand erfasste Widun, dessen Kutte sofort brannte. Tarkin stach zu und durchbohrte eine der Feen – auch diese löste sich auf.
»Das waren nur Trugbilder!«, rief Anneliese.
»Dann muss die richtige Dunkelfee noch da sein!«, rief ich und sprang auf die letzte freie Dunkelfee zu. Ich verfehlte sie, doch Widun traf sie mit seinem Knüppel. Zornig schraubte sich die violette Fee durch die Luft und krachte mit voller Wucht in den prallen Bauch des Mönchs. Vivana traf sie mit einem Pfeil. Ich versuchte erneut, sie durch einen Sprung abzufangen – schon wieder vorbei! Ein weiterer Pfeil zischte durch die Luft – diesmal von Maluna – und traf die Dunkelfee tödlich. Während sie wie ein Stein zu Boden ging, verblasste ihr Trugbild im Eisenkäfig. Widun starrte wie gebannt auf die tote Fee, bis ihm bewusst wurde, dass er ja noch brannte: er wälzte sich rasch über den Boden, um die Flammen zu löschen. Die Fensterläden öffneten sich wieder wie von Geisterhand – auch im Erdgeschoss war die schwere Eichentür aufgeschwungen. Am Boden neben der toten Dunkelfee funkelte etwas im hereinfallenden Licht.
»Das sind kristallgewordene violette Tränen!«, stellte Anneliese fest und steckte eine davon ein, während sich Freya die zweite nahm. Widun hatte der Kampf sehr zugesetzt, der Halbschrat hinkte die morsche Treppe hinab, hob den Deckel von einem der Fässer und nahm etwas von der tiefroten Flüssigkeit mit einem Glaskolben auf. Dann murmelte er etwas, das so klang wie »Heiliges Gesöff« und schluckte den Inhalt des Kolbens in einem Zug herunter. Auch Maluna hatte sich verletzt – Vivana reichte ihr etwas Wundzumach. Jetzt kam endlich die Koboldmagierin die Treppe herunter: stolz präsentierte sie uns die blaue Robe des toten Magiers: »Ich konnte einfach nicht widerstehen!«

Wir verließen den Turm und kehrten zum Strand zurück. Schon von weitem konnten wir Kapitän Haldart sehen, wie er nervös auf den Planken hin und her ging. Doch statt uns anzuschreien, ging er vor Erleichterung in die Knie, als ihn Zeiselbart aus Vivanas Rucksack heraus anschnurrte. Der dicke Kater sprang ihm in die Arme und die Welt war für den Kapitän wieder in Ordnung. Freudig umarmte er jeden und drückte jedem zehn Silberlinge in die Hand.
»Es wird Zeit, diese Insel zu verlassen!«, rief er. »Lichtet den Anker, setzt die Segel! Die Tyrische See wartet auf uns!«
»Ja, überlassen wir Temureth den Geistern!«, stimmte Fischknochen mit einem Schaudern zu.