Freitag, 30. Juni 2017

Des Henkers Braut - Kapitel 6: Im Zwielicht

Ein Pfeil zischte an mir vorüber. Ein Stöhnen aus einem der Sträucher folgte. Edwen hatte wohl einen der Räuber getroffen. Schnell schoss ich einen Pfeil hinterher, doch er blieb in den Zweigen hängen. Urota hatte den Leichnam des Novizen abgelegt und setzte seinen Bogen ein, blieb aber auch erfolglos.
Saradar, der sich waghalsig – oder sollte ich lieber sagen kopflos – in den Kampf gestürzt hatte, wurde von zwei Räubern in die Zange genommen. Einer der beiden hatte ihn mit dem Schwert am Arm verletzt.
Neben mir heulte plötzlich Urota auf. Ein Pfeil steckte in seinem Oberschenkel. Tarquan wurde ebenfalls von zwei Räubern angegriffen, einer hatte ihn an der Hand verletzt.
»Wo ist Vivana?«, ging es mir durch den Kopf. Sie hatte sich im Schatten versteckt.
Edwen brüllte Saradar hinterher: »Du Hitzkopf! Wo hast du uns da wieder reingeritten? Das sind zu viele!«
Saradar hatte gerade einen der Räuber mit seiner Zweililie niedergerungen und war zum Dichten aufgelegt: »Der Mut wächst mit der Gefahr; die Kraft erhebt sich im Drang.«

Wir waren umringt – mit den Nahkämpfern vor uns und den Bogenschützen im Rücken würden wir wohl hier nicht mehr lebendig rauskommen. Doch da – ein Funken Hoffnung - nein, das war untertrieben - das Buschwerk brannte.

»Pass beim nächsten Mal gefälligst besser auf und steck keine Büsche neben mir an! Mein Fell brennt!“, ertönte plötzlich eine wohlbekannte Koboldstimme – Tarkin?
»Aus dem Weg, du Fellknäuel!«, hörte ich Anneliese in ihrem Kommandoton – gefolgt von einem weiteren Aufflackern. Ein brennender Räuber sprang aus dem Gebüsch und wälzte sich am Boden – gefolgt von unseren Gefährten Anneliese, Tarkin und Widun. Doch wer war das? Eine schlanke, rothäutige Frau folgte ihnen – mit den lodernenden Flammen im Rücken – ein imposanter Anblick. Sie erhob die Hände und schien an eine fremde Gottheit zu beten.

Auch Saradar hatte sie erblickt: »O holde Maid, mir wird ganz warm ums Herz!«
Tarkin sah irgendwie traurig aus, als er sein angekokeltes Fell betrachtete: »Muss mich wohl mal rasieren …«
Doch die Traurigkeit war sofort wieder verflogen, als er sich auf den brennenden Räuber stürzte. Edwen spickte einen weiteren Räuber mit Pfeilem. Auch ich hatte den Bogen angelegt und landete einen Glückstreffer. Mein Pfeil traf den Räuber genau zwischen die Augen. Er ging danieder wie ein nasser Sack. Vom Räuberhauptmann hörten wir ein lautes »Rückzug!«, doch so einfach wollten wir sie nicht entkommen lassen. Widun und Saradar bemühten sich vergebens, mit zwei der Halunken fertig zu werden. Auf ein lautes »Ducken! --- SINGI SIDAR DUBLON« folgte Annelieses neuester Zaubertrick, ein doppelter Flammenstrahl, dem einer der beiden Opponenten zum Opfer fiel.
»So macht man das!«

Einer der Bogenschützen fiel mit einem Röcheln aus den Büschen. Vivanas Dolch steckte in seinem Rücken. Die noch unbewaffnete Rothäutige holte sich das Kurzschwert eines Gefallenen.

Edwen und ich verfolgten weiter unsere Taktik und garnierten den nächsten Räuber mit scharfem Federschmuck.
Tarquan hatte sich für seine Handverletzung gerade revanchiert, als die verbliebenen Banditen schließlich dem Beispiel ihres Hauptmannes folgten, ihre Beine in die Hand nahmen und – teils noch brennend – das Schlachtfeld verließen.


Der Kampf war vorbei. Ich sammelte rasch ein paar Pfeile ein, während sich die schöne Rothäutige ein Lederwams über ihr Seidengewand streifte. Neugierig hatten wir unbewusst einen Kreis um sie herum gebildet. Sie stellte sich etwas schüchtern in gebrochener Sprache vor: »Mein Name ist Maluna, ich bin eine Feueralwe.«
Während Widun von ihrer Rettung vor einem feisten Händler aus Hon berichtete, überreichte Tarkin Edwen ein Schriftstück: »Von der Bruderschaft! Die Tekk greifen an! Toran und Benesch sind verschollen! Wir müssen los zum Rösserpass!«
Edwens Gesichtsausdruck wurde ernst, er rieb sich über den stoppligen Bart.

Der Blick der Alwe hatte die ganze Zeit auf Saradar geruht – sie schien sehr angetan vom muskelgestählten Körper unseres »Vollkriegers« zu sein – zumindest bis er seinen Mund aufmachte: »Tarkin, mit Dir an der Seite werde ich als stolzer Krieger zu Ehren Osirs in jede Schlacht ziehen! Aber wir haben hier noch eine Aufgabe zu erledigen! Wir haben die Novizen ins Dorf gebracht, dann hat die Hexe einen umgebracht, und sie hat auch die Quelle vergiftet.«

Urota hatte sich Zedricks Leiche wieder über die Schulter gelegt. Erst jetzt schienen die anderen zu realisieren, was passiert war.
Widun: »Das stimmt mich sehr traurig.« Wir unterrichteten unsere Gefährten über die weiteren Vorkommnisse, begannen bei der Hinrichtung, über Bruder Inotius, die ausgeweideten Novizen und den Zurkakkult bis hin zur Begegnung mit der Hexe.
Vivana: »Ich bin nicht überzeugt, dass die Hexe an allem schuld ist! Vielleicht sind die Heilkräuter ja als Gegenmittel gegen das Pilzgift aus der Quelle gedacht!«

Im Zwielicht des Mondes gingen wir weiter bis zur Quelle, die leise vor sich hin plätscherte. Die Kobolde führten zwei Rappen am Zügel, die sie von Tarso für die Reise erhalten hatten.
Vivana: »Seltsam, hier wirkt alles wieder ganz normal.«
Tarquan wies uns auf die Schleifspuren nach Nordwesten hin, die er heute Mittag schon gesehen hatte, wir waren ja Zedricks Schreien nach Nordosten gefolgt und schließlich auf die Höhle mit der Hexe getroffen. Nach etwa hundert Schritten endete die Schleifspur abrupt. Instinktiv schauten wir nach oben – da hing etwas im Baum, im Zwielicht war es kaum zu erkennen. Ich verwandelte mich in meine Eichhörnchengestalt und kletterte hoch. Es war eine Gestalt in einem weißen Gewand, die mit einem Seil festgebunden worden war. Als ich mich dem Toten im Geäst näherte, scheuchte ich eine Armee Fliegen auf und ein süßlicher Geruch drang an meine Nase. Schnell zerbiss ich das Seil und der Körper fiel zu Boden.
Beim Aufprall verursachte er ein ekelhaft platschendes Geräusch. Meine Gefährten sprangen erschrocken beiseite. Aufgrund des fortgeschrittenen Stadiums der Verwesung, oder wie Saradar es ausdrückte: »Ist der vergammelt, der Priester!« - war es schwer zu sagen, um wen es sich handelte.

Wir beschlossen, die Leichen des Novizen und des Priesters hier zu begraben. Ich sprach ein Gebet an Ianna und Widun ließ einen Obstbrand herumgehen.
»Dieser heilige Tropfen soll euch ein Segen sein«, stellte Widun fest und fuhr etwas pietätlos fort: »Aber jetzt freue mich auf ein herzhaftes Essen!«

Tarkin warf ein: »Dein Magen muss erst einmal warten! Wir haben keine Zeit! Wir müssen diese Hexe finden, damit wir rasch zum Rösserpass aufbrechen können! Vielleicht ist sie in dieser alten Ruine?«
Mit einer unglaublichen Flinkheit hatte er einen Baum erklommen und berichtete uns: »Ich sehe eine Höhle und da hinten die Stadt. Ich muss wohl noch ein bisschen höher!«
Als er die Baumkrone erreicht hatte, rief er erfreut: »Im Südwesten, da ist ein Kreis aus Steinen, das könnte die Ruine sein!«

In einem Ring aus Felsbrocken stand die Ruine einer Steinhalle, deren dunkle Mauerreste fast gänzlich von Moos überwachsen waren. Dieser düstere Ort ließ mir kalte Schauder über den Rücken laufen. Überall krabbelten Käfer, Würmer und Spinnen herum. Saradar kramte sein Schoßtier hervor: »Sehr gut! Was zum Futtern für mein Wiesel!« - Na dann, guten Appetit. Ich tastete nach meinem Huhn, es schien in eine Art Dauerschockstarre verfallen zu sein.
In der Halle stand ein Altar, der von dunklen Flecken überzogen war. Bei genauerem Hinsehen entpuppten sich diese als eingetrocknete Blutflecken.
»Nicht auszudenken, was sich hier früher abgespielt haben muss!“, warf Tarquan ein. Edwen hatte in einer Ritze einen alten Ritualdolch entdeckt: »Der hat dabei sicher eine Hauptrolle gespielt!«
Am Rand des Altars war ein Spinnensymbol eingraviert: das Zeichen Zuraks.
Beim Heraustreten sah ich den dunklen Mond Lor im Firmament stehen; es schien mir kurz so, als ob der Abstand zwischen ihm und dem hellen Mond kleiner wäre als sonst, aber das war vielleicht nur eine optische Täuschung.
Die Pferde wieherten plötzlich angsterfüllt.
»Keine Spur von der Hexe! Wir sollten diesen unheimlichen Ort so schnell wie möglich wieder verlassen!«, schlug Tarkin vor, der sich in der Umgebung umgesehen hatte. Wir beschlossen uns aufzuteilen, Vivana sollte der Stadtwache über die Vorkommnisse berichten, während der Rest der Gruppe auf Saradars Vorschlag hin in die Weinberge ging, um am Grabe Di'Vars nach weiteren Hinweisen zu suchen.

Zama strahlte heute Nacht so hell, dass wir in seinem Lichte tatsächlich im östlichen Weinberg das frische Grab unter einem abgebrochenen Alunsymbol fanden. Ohne längere Diskussionen hatte sich Urota bereit erklärt, die Leiche auszugraben. Auf der Brust des kopflosen Leibs fanden wir das eingeritzte Symbol der Zurakspinne.
Finn: »Seltsam, diese Spinne muss ihm erst kurz vor oder nach dem Tod eingeritzt worden sein! Wenn er der Anführer des Zurakkults gewesen sein soll, dann macht das doch keinen Sinn! Da ist etwas so faul, dass es zum Himmel stinkt!«

Wir waren alle hundemüde und Widuns Magenknurren hat mittlerweile eine besorgniserregende Lautstärke erreicht, sodass wir zur Stadt zurückkehrten. Die Stadtwachen waren mürrisch, mussten sie doch zu dieser späten Stunde noch unsere Waffen und die beiden Rappen verstauen. Auf eine Begleitung Urotas verzichteten sie diesmal.
Vivana hatte uns ausrichten lassen, dass wir sie im Fasanenruf finden könnten. Nachdem wir Hunger und Durst gestillt hatten, bezogen wir zwei Zimmer der Gaststätte. Nach dem Vorfall der letzten Nacht mit dem Bullbeißer beschlossen wir, auch in der Gaststätte Wachen einzuteilen. Tarkin und Vivana wollten draußen die Augen offen halten, da wir keine Lust hatten, auch die beiden anderen Novizen am nächsten Morgen ohne Herz aufzufinden. Maluna hielt vom Zimmer aus die Straße im Blick, während mir so langsam die Augen zufielen...