Samstag, 2. November 2019

Kalte Brise - Kapitel 3: Die Geisterinsel

Wir landeteten an einer Bucht der Geisterinsel. Zur Linken zogen sich dunkle Felsen hinauf, während zur Rechten tropfende Palmen und weitere Bäume einen dichten Wald bildeteten. Nebel waberte von den Hügeln meerwärts und empfing uns am breiten Sandstrand.
»Wie romantisch«, flüsterte Saradar und kuschelte sich an Maluna.
Der Kapitän und Dugan waren die ersten an Land, sie scheuchten bunte Vögel auf, während aus der Ferne das Geschrei von Tieren an unsere Ohren drang, die sich wohl um etwas Essbares stritten.
Haldart gab seine Befehle: »Zwei Leute sammeln Holz und machen ein Feuer!« - Hierzu meldeten sich Widun und Tarkin.
»Drei Leute suchen nach frischem Wasser!« - Dafür waren Dugan, Edwen und Urota zuständig; während Urota locker zwei leere Fässer trug, mühten sich die beiden Menschen mit einem Fass ab.
»Dann brauchen wir noch jemanden, der Obst und essbare Wurzeln sammelt!« - Anneliese und Freya sprangen auf.
»Wer geht auf die Jagd?«, fragte der Kapitän in die Runde. Hierfür erklärte ich mich bereit, Saradar wollte mich begleiten: er hatte sicher Zweifel an meinen Fähigkeiten als Jäger.
Die Insel war schön: wenn der Nebel nicht gewesen wäre, wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass es hier spuken könnte. Wir gingen in den Wald und schon bald wurde ich das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Dann ein Kreischen – haarige Wesen sprangen in den Baumkronen hin und her. Sie hatten große Augen, die im Zwielicht des Waldes funkelten und uns nachglotzten. Ich schätzte, dass sie in etwa so groß waren wie ich selbst, also ein Schritt dreißig. Wenn ich meinen Bogen auf sie richtete, versteckten sie sich sofort hinter dicken Ästen und Stämmen.
Saradar gebot mir plötzlich, still zu sein. Er hatte etwas entdeckt: eine Wildsau. In etwa zwanzig Schritt Entfernung wühlte sie gerade den Boden auf. Saradar nickte mir zu. Ich legte an und schoss einen Pfeil auf das Schwein – es quiekte und versuchte, hinkend davonzulaufen – doch der Gjölnar war schneller und stach es ab. Die Pfeilspitze hatte das rechte Hinterbein der Sau durchbohrt. Zufrieden mit unserem Jagderfolg kehrten wir zum Schiff zurück.

»So eine Scheiße!«, hörten wir Dugan fluchen, wobei ihm sein Kautabak in hohem Bogen aus dem Mund flog. Haab hatte ihm soeben berichtet, dass der Kater des Kapitäns verschwunden war.
»Ich befürchte, diese Kreischlinge haben ihn entführt!«, meinte er. »Nicht auszudenken, wenn Haldart davon entfernt. Dieses fette Fellknäuel ist das einzige, was seinen Zorn besänftigen kann – ohne ihn bricht der Vulkan aus!«
Inisch versuchte die Mannschaft zu beruhigen: »Ein Glück, dass Haldart gerade ein Nickerchen macht. Wir müssen los, den Kater so schnell wie möglich zurückholen! Wer kommt mit?«

Maluna, Vivana und Tarquan blieben zurück, um unsere Habseligkeiten zu bewachen, falls sich diese Kreischlinge noch einmal dazu entschließen sollten, an Bord zu kommen.
Der Rest der Gruppe – mit Dugan als Begleitung – betrat die Insel. Kairn rief uns noch hinterher, dass er meinte gesehen zu haben, dass die Entführer in Richtung der Ruinenstadt davongesprungen seien. Wir drangen in den Dschungel ein und entdeckten schon bald einen überwachsenen Weg. Wir folgten dem einstmals breiten Pfad - immer wieder hörte ich ein Kreischen aus den Baumkronen. Die Luft war schwül und trieb und Schweißperlen auf die Stirn. Nach einer halben Stunde stießen wir auf die Ruinen der Stadt Sagoria: sie war an einem Hügel terrassenartig erbaut worden, von den Mauern hingen Schlingpflanzen herunter, die zerfallenen Steinhäuser waren von Pflanzen und Moos überwuchert. Ich erkannte eine Mühle, hinter der sich ein Wasserfall ergoss. Ihr Wasserrad war vermodert und drehte sich nicht mehr. Wir stiegen eine zerbröckelte Treppe zum ersten Plateau hinauf.
Anneliese schaute sich um: »Wo ist der Kater?«
Saradar griff sich in die Hose und zog sein Wiesel heraus.
»Radaras, such den Kater!«, befahl ihm der Khor'Namar. Das Wiesel schüttelte sich kurz und sprang davon. Es schnüffelte und lief dann schnurstracks auf ein noch recht gut erhaltenes Gebäude zu, das einmal eine Schmiede gewesen sein musste. Wir lauschten: tatsächlich, Katzenlaute!

Saradar fackelte nicht lange und stieß die Tür auf. Was mir als erstes auffiel, war der Gestank – es roch nach nassem Fell und Fäkalien. Die Schmiede schien der Versammlungsort dieser Kreischlinge zu sein. Es war ohrenbetäubend laut – als wir eintraten, hüpften sie wild durcheinander, einige schwangen an den morschen Deckenbalken hin und her, andere versuchten, sich hinter den eingestürzten Wänden zu verstecken. Auf der ehemaligen Esse hatte sich ein dicker Kreischling niedergelassen, der seine Artgenossen auch von der Körpergröße her deutlich überragte.
Ein Kreischling.
Der ebenso dicke braune Kater saß auf seinem Schoß, wurde von ihm gestreichelt und schnurrte ganz zufrieden. Als uns der mutmaßliche Häuptling erblickte, warf er den Kater erschrocken einem Kreischling zu, der neben ihm hockte. Zeiselbart fauchte – und wurde weitergereicht. Der nächste wusste auch nichts mit ihm anzufangen und warf ihn weiter, bis der Kater schließlich wie eine heiße Knolle von Kreischling zu Kreischling durch die Luft geschleudert wurde. Das zufriedene Schnurren war längst einem panischen Fauchen gewichen. Wir ernteten einen bösen Blick des Oberkreischlings. Er sprang von seinem Thron, stellte sich auf die Hinterbeine und begann, auf den Boden zu trommeln. Aus allen Richtungen stürzten sich die Bestien mit gefletschten Zähnen auf uns. Maluna, Tarquan und Vivana streckten ihre Köpfe zur Schmiede herein – sie waren uns doch hinterher gekommen. Pferd bereute es gleich wieder, die Kreischlinge warfen mit Steinen nach uns, und ihn hatte der erste erwischt. Ein Stein prallte wirkungslos von Saradars Brust ab, während Vivana und Maluna aus dem Hinterhalt zwei Kreischlinge erwischten. Dem Häuptling ragte bereits ein Pfeil aus dem Ohr – was ausreichte, um zwei Feinde in die Flucht zu schlagen. Ich ließ meine Wunderbohne zu Boden fallen und beschwor einen Waldgeist. Wie gewünscht übernahm er die Kontrolle über den Bohnenmann. Saradar verfehlte einen Kreischling mit seinem Bastardschwert, da ihm dieser geschickt auswich: »So ein flinker Affe!«
Der Häuptling war wütend, er sprang Urota an und stach ihm mit seinen langen Krallen in den Hals – schwarzes Trollblut schoss heraus. Edwen sicherte die Schmiede nach hinten ab, während Vivana einen der Feinde mit ihrem Dolch erlegte. Urota suchte Vergeltung für den Angriff des Häuptlings und versetzte ihm einen gewaltigen Hieb mit der Ogrensaxt. Freya wurde von zwei Kreischlingen umzingelt – ein Gebet an den Lichtgott, ein Aufblitzen und die beiden sprangen geblendet davon. Ein weiterer Kreischling stürzte von einem Dachbalken und schlug mit dem Schädel gegen die Kante des Amboss, sodass er leblos liegen blieb. Mein Bohnenmann war für die Kreischlinge zu langsam, er holte zu seinen Schlägen immer weit aus und bis seine Ranken ihr Ziel erreicht hätten, war jenes bereits auf und davon. Saradar hatte sich inzwischen des Häuptlings angenommen – dieser war zwar stärker, aber weniger flink als seine Kampfgenossen. Saradars Hieb traf – mit tödlichem Ausgang. Der Rest der Kreischlingbande verzog sich durch ein Loch im Dach.
Dugan war überglücklich: »Der Kater ist gerettet!« - und wir damit auch, dachte er bestimmt.

Wir schauten uns in der Schmiede noch ein wenig um. Der Oberkreischling hatte auf der Esse einen glitzernden Haufen hinterlassen: seine gesammelten Schätze. Wir fanden einen Beutel mit 22 Silberlingen, die wir untereinander aufteilten. Edwen nahm sich einen schweren Schmiedehammer, ein gutes Breitschwert und ein Paar rostige Schulterschützer. Freya schnappte sich eine Speerspitze. Als Edwen auch noch ein weiteres Langschwert mitnahm, meldete sich Saradar: »Ist das nicht zuviel des Guten?«
Edwen schüttelte den Kopf – er hatte wohl im Sinn, die Sachen zu verkaufen. Vivana hatte sich inzwischen des Katers angenommen und versucht, ihn in den Stoffbeutel zu stecken.
»Passt nicht!«, gab sie es auf und stopfte das verwirrte und verängstigte Tier stattdessen in ihren Rucksack.
»Ich hoffe bloß, das doofe Vieh trinkt nicht aus einer meiner Phiolen, dann fallen ihm alle Haare aus, oder schlimmer noch – es leckt an meinem Giftfrosch!«
»Lebt der überhaupt noch?«, fragte ich die Diebin.
»Natürlich, ich füttere ihn jeden Tag!«, behauptete sie.

Wir verließen die Schmiede und schauten uns in der Ruinenstadt um. Nachdem wir ein Burgtor passiert hatten, fiel mein Blick auf einen eigentümlichen Turm – und dann auf Annelieses Begleiterin: die Fee flog wirbelnde Kreise und hinterließ dabei eine blaue Glitzerspur; immer schneller und mit größerem Radius bis ein Surren erklang – urplötzlich hielt sie inne, ganz und gar in Glitzerstaub gehüllt. Die Magiebeflügelte bedeutete Anneliese, ihr zu folgen. Sie flog schnurstracks auf ein Turmfenster zu, das ihr blaues Leuchten schließlich verschluckte. Wir entschieden, der Fee zu folgen und überquerten den Burghof. Die Inselfestung zerfiel und bröckelte - der Dschungel hatte sie sich einverleibt, Wurzeln sprengten die Mauern der Steinbauten und Schlingpflanzen überwucherten sie. Eine steinerne Brücke hatte jedoch der Zeit getrotzt und erlaubte uns, den reißenden Bach zu überqueren, der den Wasserfall speiste. Das Innere der Burg lag offen vor uns: die Mauer des Hauptgebäudes wirkte, als sei sie von einer Gigantenfaust eingeschlagen worden. Ein verkohlter Baum, der einst eine mächtige Eiche gewesen sein mochte, bestärkte die Trostlosigkeit des Ortes.
»Eine tyrische Eiche!«, bemerkte Pferd.
»Hat wohl der Blitz getroffen!«, mutmaßte ich.
Tarquan belehrte mich: »Wisst Ihr, die Tyrer, die diese Burg errichtet haben, stammen von den waldbewohnenden Valoreanern ab. Sie flüchteten einst vor den brandschatzenden Imbriern und suchten Zuflucht im Land des Regens und eben auch hier, auf dieser Insel. Für ihre Festungen suchten sie sich Orte mit besonderen Bäumen aus. Zur Einweihung wurden diese dann verbrannt als Andenken an den Grund für ihre Flucht.«
Karte von Sagoria auf Tamureth.
Wir erreichten den dunklen Turm, in dem die Fee verschwunden war. Seine Tür wehrte uns den Eintritt mit schwerer Eiche, eisernen Beschlägen und dem Fehlen eines Schlosses. Widun sah sich den Beschlag, der sich anstelle des Schlosses fand, genauer an: er trug Symbole für Feuer, Wasser und Erde.
»Vielleicht ist das ein Hinweis, wie man die Tür öffnen kann?«, fragte sich Widun laut. Er überlegte noch einen Moment und pustete dann auf den Beschlag – es passierte: nichts! Urota drängte den Mnamnpriester mit einem freundschaftlichen Schubs beiseite und riss berstend und krachend - aber ohne große Anstrengung - die Tür aus ihren Angeln. Modrige Fäulnis schlug uns entgegen, als wir das Erdgeschoss betraten. Das spärliche Licht bildete einen Tunnel im aufgewirbelten Staub. Ich erkannte ein wurmstichiges Bett mit einer zerschlissenen Matratze, mehrere dickbauchige Fässer sowie eine zerfallene Treppe, die nach oben führte. Widun schnupperte an den Fässern: »Riecht sehr säuerlich, wenn hier einmal guter Wein drin war, ist er inzwischen zu Essig geworden!«
Tarkin stand am Treppenansatz: »Ich möchte mich dort oben gern mal umsehen; ich gehe auch voran, so leicht wie ich bin, wäre es doch gelacht, wenn mich die Stufen nicht trügen!«
Nach dem Knarzen der Treppenstufen hörte ich das Quietschen einer Falltür, dann folgten auch Anneliese, Widun und Vivana dem Kobold hinauf.

Tarkin sah sich um: was für ein Durcheinander! Ringsum verstaubte Regale, vom Holzwurm durchlöchert und vollgestopft mit vergilbten Schriftrollen, alten Büchern mit von Mäusen benagten Rücken, Phiolen, Flaschen, Glaskolben, viele davon in Scherben auf dem Boden, überall Flecken von bunten Flüssigkeiten und Pülverchen. Auf einem großen Eichentisch stapelten sich Pergamente, alle kreuz und quer verteilt. Widun bückte sich und hob ein paar der Glaskolben auf, sicherlich hatte er etwas »Geistreiches« damit vor.
»Pst!«, forderte Anneliese. »Im Nebenraum, hört ihr das nicht auch?«
Tarkin öffnete furchtlos die nur angelehnte Tür zum Nebenraum. Wind blies durch die offenen Turmfenster und ließ zwei Phiolen auf einem Pergament hin- und herrollen und gegeneinander schlagen.
Anneliese stellte ihre Koboldohren auf: »Das Scheppern meine ich nicht – was ich meine, klingt eher nach einem Wimmern!«
Vivana schaute vorsichtig hinter ein sperriges Holzregal, das umgekippt war, und den Blick auf eine Nische in der Wand verwehrte.
»Ein blaues Leuchten!«, rief sie. Die anderen traten hinzu und halfen ihr dabei, das Regal beiseite zu räumen.
»Meine Fee!«, rief Anneliese und erstarrte zugleich vor Schreck: ihre Fee schmiegte sich an die schmutzige blau-graue Robe eines Menschen – eines toten Menschen! Der Leichnam lehnte zusammengekauert an der Turmwand, die verblichenen, arkanen Symbole am Saum zeichneten ihn als Wind- und Wassermagier aus. Sein Gesicht war von einer Kapuze verborgen, nur ein paar weiße Barthaare ragten heraus. Die blaue Fee klammerte sich an seine Brust und wirkte tieftraurig.
Vivana beugte sich über den Toten und zog ihm die Kapuze herunter – ein blanker Schädel grinste ihr entgegen.
»Seltsam«, stellte die Jujin-Diebin unbeirrt fest, »es sieht fast so aus, als ob ihm jemand mit einer scharfen Klinge das Gesicht abgetrennt hätte! Scheint aber schon eine ganze Weile her zu sein.«
Anneliese war plötzlich ganz aufgeregt. Sie bückte sich und hob die skelettierte Hand des Zauberers in die Höhe. Darunter wurde ein zerbrochener Zauberstab sichtbar, an dessen Ende ein blauer Edelstein funkelte. Sie war hin und weg, betrachtete ihn noch einen Moment fasziniert, ihre Finger strichen über die kunstvoll eingeschnitzten Glyphen, dann ließ sie ihn in ihrem Stoffbeutel verschwinden.
»Schade, dass er zerbrochen ist!«, bedauerte die Koboldin. Die anderen waren dazu übergegangen, das Studierzimmer des Magiers nach Nützlichem oder Wertvollem zu durchstöbern. Vivana fand eine Schatulle, die einen Silberring mit einem Schlangensymbol, einen grünen Edelstein – den sich Maluna schnappte – und drei Goldtaler und 34 Silberlinge beinhaltete. Sofort entbrannte ein Streit über die Aufteilung der Beute. Anneliese hatte einen arkanen Folianten entdeckt, sie blätterte darin und erkannte erfreut, dass er vier Zaubersprüche des ersten und einen des zweiten Zirkels umfasste. Vivana sammelte Phiolen mit bunten Flüssigkeiten: »Hm, scheinen keine Gifte sondern irgendwelche magischen Tränke zu sein!«
Freya kam neugierig die morsche Treppe heraufgesprungen, um sich, dort angekommen, besorgt umzublicken.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Widun.
»Die Sachen werden doch nicht etwa verflucht sein?«, wollte Vivana wissen.
Die Wichtelpriesterin zuckte mit den Schultern: »Nein, kein Fluch, aber irgendetwas Unheilschwangeres liegt in der Luft!«
Die blaue Fee hatte inzwischen vom toten Magier abgelassen und flog ganz aufgeregt im Kreis, schließlich ließ sie sich auf Annelieses Schulter nieder.
»Sie zittert«, bemerkte die Koboldmagierin. »Irgendetwas stimmt hier nicht! Mich beschleicht auch so ein seltsames Gefühl!«
Tarkin fragte verwundert: »Ist es dunkler geworden oder bilde ich mir das nur ein?«
Die blaue Fee verkroch sich ängstlich in Annelieses Kragen. Eine Windbö, gefolgt von einem Krachen – die Fensterläden waren zugeschlagen.

»Alles in Ordnung da oben?«, rief ich hinauf.

In der Mitte des Raums im Obergeschoss erschien plötzlich ein violettes Leuchten und eine Gestalt zeichnete sich langsam ab - eine Fee, aber gegenüber Annelieses magischer Begleiterin war diese auf groteske Weise entstellt: ihre Augen glühten vor Zorn, ihre Zähne waren gefletscht, ihr dunkles Gewand war zerfleddert und flatterte wie ihre langen Haare wild und bedrohlich um ihren Körper. Ihre Flügel hatten Risse und schienen aus violettem Kristall zu bestehen. Wirbelnd flog sie im Dreieck – an den Eckpunkten öffneten sich arkane Portale, durch die drei weitere Dunkelfeen in die Wirklichkeit übertraten. Sie glichen der ersten Fee bis aufs Haar. Die magischen Wesen begannen gleichzeitig mit ihrem violetten Feenstaub arkane Zeichen zu schreiben, ein Funkenknistern lag in der Luft.

Saradar spürte, wie sich seine roten Haare aufrichteten. Er zögerte nicht und rannte kampfeslustig die Treppe hinauf – es splitterte: er hatte eine Stufe durchgetreten, konnte sich aber abfangen.

Tarkin hatte in einer Ecke des Raums einen kleinen Eisenkäfig entdeckt, den er geistesgegenwärtig auf eine der Dunkelfeen schleuderte. Tatsächlich gelang es ihm, sie darin zu fangen. Die übrigen Feen hatten ihren Funkenzauber vollendet und trafen Freya und Maluna jeweils mit einer Ladung, während sie Widun verfehlten. Widun warf einen Glaskolben nach einer Dunkelfee, die dadurch gegen die Wand gedrückt wurde.

Ich entschied mich, in Eichhörnchenform die zerstörte Treppe hinaufzulaufen und mich dem dort droben tobenden Kampf anzuschließen.

Vivana zückte einen Giftdolch, zielte und traf eine der Feen, die dadurch gelähmt zu Boden ging. Tarkin schlug nach einer der Feen – vorbei. Freya betete an den Lichtgott – ein kurzes Aufblitzen ließ eine Dunkelfee geblendet zurück, sodass es Saradar gelang, sie mit seiner Axt zu spalten – jedoch nicht in zwei Feenhälften: ihr Körper verschwand ins Nichts.
Anneliese zauberte einen Flammenstrahl – die Dunkelfee antwortete ebenfalls mit einem Feuerzauber: eine feurige Hand erfasste Widun, dessen Kutte sofort brannte. Tarkin stach zu und durchbohrte eine der Feen – auch diese löste sich auf.
»Das waren nur Trugbilder!«, rief Anneliese.
»Dann muss die richtige Dunkelfee noch da sein!«, rief ich und sprang auf die letzte freie Dunkelfee zu. Ich verfehlte sie, doch Widun traf sie mit seinem Knüppel. Zornig schraubte sich die violette Fee durch die Luft und krachte mit voller Wucht in den prallen Bauch des Mönchs. Vivana traf sie mit einem Pfeil. Ich versuchte erneut, sie durch einen Sprung abzufangen – schon wieder vorbei! Ein weiterer Pfeil zischte durch die Luft – diesmal von Maluna – und traf die Dunkelfee tödlich. Während sie wie ein Stein zu Boden ging, verblasste ihr Trugbild im Eisenkäfig. Widun starrte wie gebannt auf die tote Fee, bis ihm bewusst wurde, dass er ja noch brannte: er wälzte sich rasch über den Boden, um die Flammen zu löschen. Die Fensterläden öffneten sich wieder wie von Geisterhand – auch im Erdgeschoss war die schwere Eichentür aufgeschwungen. Am Boden neben der toten Dunkelfee funkelte etwas im hereinfallenden Licht.
»Das sind kristallgewordene violette Tränen!«, stellte Anneliese fest und steckte eine davon ein, während sich Freya die zweite nahm. Widun hatte der Kampf sehr zugesetzt, der Halbschrat hinkte die morsche Treppe hinab, hob den Deckel von einem der Fässer und nahm etwas von der tiefroten Flüssigkeit mit einem Glaskolben auf. Dann murmelte er etwas, das so klang wie »Heiliges Gesöff« und schluckte den Inhalt des Kolbens in einem Zug herunter. Auch Maluna hatte sich verletzt – Vivana reichte ihr etwas Wundzumach. Jetzt kam endlich die Koboldmagierin die Treppe herunter: stolz präsentierte sie uns die blaue Robe des toten Magiers: »Ich konnte einfach nicht widerstehen!«

Wir verließen den Turm und kehrten zum Strand zurück. Schon von weitem konnten wir Kapitän Haldart sehen, wie er nervös auf den Planken hin und her ging. Doch statt uns anzuschreien, ging er vor Erleichterung in die Knie, als ihn Zeiselbart aus Vivanas Rucksack heraus anschnurrte. Der dicke Kater sprang ihm in die Arme und die Welt war für den Kapitän wieder in Ordnung. Freudig umarmte er jeden und drückte jedem zehn Silberlinge in die Hand.
»Es wird Zeit, diese Insel zu verlassen!«, rief er. »Lichtet den Anker, setzt die Segel! Die Tyrische See wartet auf uns!«
»Ja, überlassen wir Temureth den Geistern!«, stimmte Fischknochen mit einem Schaudern zu.

Dienstag, 29. Oktober 2019

Kalte Brise - Kapitel 2: Der Landgang

Die Matrosen mit Landgang schwärmten aus, um ihre Heuer auf den Kopf zu hauen. Wir vereinbarten, uns vor der Mittagsstunde auf dem Fischmarkt wiederzutreffen, der für alle leicht am Geruch zu erkennen war.
Karte von Farwayle und seinem Hafen.
Saradar und Edwen wollten eine Schmiede suchen.
»Mann aus dem Norden, was kann ich für Euch tun?«, grüßte der Schmied.
»Habt Ihr was Großes? Sowas wie eine Zweililie?«, wollte Saradar wissen.
»Sowas hab ich nicht!«, schüttelte der Mann hinter dem Verkaufstisch den Kopf und hob dabei entschuldigend die Arme.
»Kann ich bei Euch zumindest mein Bastardschwert schleifen lassen?«, fragte der Barbar.
»Geht klar!«, nickte der Schmied.
»Die Beinschienen da, was wollt Ihr dafür?«, hatte Saradar entdeckt.
»Achtzehn Silberlinge, da gehe ich auch nicht drunter!«, forderte der Verkäufer.
Edwen musste dem Gjölnar mit fünf Silberlingen aushelfen – der Vorfall in Schaynwayle hatte ein tiefes Loch in Saradars Beutel gerissen. Edwen erstand einen Kurzdolch für dreiunddreißig Silberlinge. Anneliese und Freya wollten zum Schneider.

Die Koboldmagierin ließ sich zwei Krähenfedern an ihren Umhang nähen, was dazu führte, dass ihre Fee ganz entzückt im Kreise flog. Die Wichtelin – die zur Sicherheit in Annelieses Tasche reiste - erbat Nadel und Faden und kaufte eine Stricknadel, die für ihre Größe wie eine Lanze wirkte. Tarkin wollte sich ganz allein auf die Suche nach Heilsalbe machen.

Er geriet dabei ins Viertel der Südländer. In einer Hütte, die mit allerlei Kräutern, getrockneten Organen ihm unbekannter Tiere und seltsamen Mineralien angefüllt war, traf er auf einen dunkelhäutigen, buckligen Heiler, der nur sehr gebrochen Thalisch sprach.
»Ich möchte eine Heilsalbe erstehen«, legte Tarkin sein Anliegen dar.
»Für groß Aua oder klein Aua?«, wollte der Mahudi wissen.
Tarkin kratzte sich das Backenfell.
»Für obbe oder unne?«, fragte der dunkelhäutige Heiler.
Tarkin zuckte mit den Schultern.
»Für Kloppe von Keule?«, fuhr der Bucklige mit seiner Fragerei fort. »Koste nur zehn Silber!«
Tarkin wollte nur die Hälfte geben.
»Mmh, Kobold, zeige Zähne!«, forderte der Heiler.
Tarkin bot ihm sein breitestes Koboldgrinsen.
»Gut, für acht! Gebbe Hand!«, schlug der Mahudi schließlich ein. Widun wollte sich im Schratenviertel umsehen, er hoffte auf ein geistreiches Geschmackserlebnis.

Er traf auf eine Schratengruppe, die ihn zum Probieren verschiedener Biersorten einlud. Widun konnte sich nicht für eine Sorte entscheiden und lobte bei allen Varianten die hohe Braukunst. Als Dankeschön erhielt er einen Beutel mit Schratenwürfeln.
»Falls ihr eine neue Robe benötigt, zeigt dem Schratenschneider um die Ecke die Würfel, dann bekommt Ihr alles zum Sonderpreis!«, gab ihm einer der Schrate mit auf den Weg. Er setzte die Empfehlung um und erwarb eine an den Schultern mit Leder verstärkte Kutte. Während des weiteren Spaziergangs durch das Viertel – der durch den ausgiebigen Genuss der Biere etwas schwankend ausfiel - traf er auf einen Wanderprediger namens Welkar.
»Der Ruf des Steins wird bald erklingen!«, ließ dieser verlauten.
»Was hat es damit auf sich?«, fragte er ihn neugierig.
»Das ist der Ruf in die Heimat, wenn er erklingt, wird die Rangordnung in der Schratengesellschaft neu bestimmt«, erklärte Welkar verwundert. »Wie kommt es, dass Ihr das nicht wisst? Da fließt doch Schratenblut durch Eure Adern und Ihr seht selbst aus wie ein Priester!«
»Ich bin unter Menschen aufgewachsen, werter Welkar«, erklärte Widun, während er seine empfindlichen Augen schürzte. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel.
»Mnamn mit Euch!«, wünschte Widun dem Wanderbruder und gab ihm einen Silberling als Dank. »Ich würde gerne weiter mit Euch plaudern, doch ich muss bald zurück auf mein Schiff!«
Der Halbschrat ging ein paar Schritte, drehte sich aber noch einmal um.
»Einen Moment noch, wisst Ihr, wo es einen guten Tropfen für die Reise gibt?«
»Geht zu Merlok, der kann Euch sicher zu einem guten Tropfen verhelfen. Er feiert gern Feste auf seinem Anwesen, das in den Felsen gebaut wurde.«
Widun folgte dem Rat des Priesters, stieß aber bloß auf ein verschlossenes Tor. Ein Schild hing daran: »Bin einen trinken! Merlok.« Ich hatte mir ein wenig die Stadt angeschaut; sie war abwechslungsreicher als die meisten Menschenstädte, die ich bisher gesehen hatte, da hier Askalonier auf Schrate und Südländer trafen, die jeweils ihren eigenen Baustil bevorzugten. Die Schratenhäuser bestanden aus Stein oder waren direkt in den Fels gehauen, während die Südländer eine Lehmbauweise mit Strohdächern bevorzugten. Während einer nach dem anderen zur Mittagsstunde am Fischmarkt eintraf, fiel mir plötzlich auf, dass einige Leute zu tuscheln anfingen, nachdem sie Blicke zwischen uns und etwas an einer Mauer getauscht hatten.
»Lasst uns mal sehen, was es da drüben so Interessantes gibt!«, schlug ich vor.
Als wir uns der Menschengruppe näherten, löste sich diese eiligst auf und einige Leute rannten sogar davon.
»Ich war's nicht!«, beteuerte Widun, der wohl auf seine berüchtigten Darmwinde anspielte.
An der Mauer befand sich eine Anschlagtafel mit einem Fahndungsplakat. Mir fiel sofort die grobe Zeichnung eines übergroßen Trolls mit überzeichnet hässlicher Fratze, zwei haarigen Kobolden und anderen menschlichen Gestalten auf, die kaum zu identifizieren waren.
Darunter stand: »Gesucht! Sie nennen sich ›Bund aus Blut und Feuer‹, fünf Goldtaler Belohnung für jeden, der bei ihrer Ergreifung hilft!«
Auf der anderen Seite des Fischmarkts konnte ich eine Patrouille imperialer Soldaten erkennen, die uns aber wohl noch nicht bemerkt hatten.
»Ich denke, wir sollten uns schleunigst auf den Rückweg zur Sturmkönigin machen!«, schlug ich vor. Wir teilten uns auf, um nicht gleich als Gruppe erkannt zu werden und gingen schnellen Schrittes – aber ohne zu rennen, um keine Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen – zum Schiff zurück.

Als wir am Hafen eintrafen, ließ ich den Blick über den Kai schweifen. Zwischen den Händlern und Kaufleuten in ihren prächtig-bunten Gewändern fielen mir einige weiß-golden gewandete Soldaten auf, die sich durch die Menge drückten. An einem der Schiffe machten sie halt und zwei Offiziere bestiegen eine skilische Galeere namens »Eulenauge«. Deren Kapitän sah verwundert aus, als sie ihm ein Pergament vorhielten. Ich konnte nicht verstehen, worüber sie sprachen, aber nach einer Handbewegung eines Offiziers liefen die restlichen Soldaten über die Planke auf das Schiff und verteilten sich. Einige Soldaten verschwanden auch unter Deck und kamen nach einer Weile mit einem dutzend hochgewachsener Wesen mit schwarzem Fell und Hörnern wieder nach oben.
»Das sind Härk, die Skilier setzen sie als Ruderer ein. Durch deren ungeheure Muskelkraft sind ihre Galeeren die schnellsten Schiffe auf Ions Meeren«, erklärte mir Edwen, als er meinen fragenden Blick sah.
»Wo ihr ›schnell‹ sagt: wir sollten sehen, dass wir hier wegkommen!«, forderte Widun.
Wir schafften es, ungesehen an Bord der Sturmkönigin zu gelangen.
»Wo ist Urota?«, fragte Saradar den Kapitän.
»Erklärungen gibt’s später!«, schrie Haldart und gab seine Befehle.
Nach dem Lichten des Ankers und Setzen des Rahsegels steuerte uns Kairn sicher aus dem Hafen. Am Ufer konnte ich sehen, wie kaiserliche Soldaten der Sturmkönigin nachblickten. Unser Schiff wäre wohl das nächste gewesen, dass sie durchsucht hätten.
Wir passierten die Brandungsmauern und schließlich verschwand auch der Leuchtturm hinter dem Horizont.
»Bund aus Blut und Feuer, antreten!«, prustete der Kapitän. »Ihr wisst, ich mag keinen Ärger und das hier ist Ärger!«
Mit seiner schwieligen Hand rollte er ein Pergament ab – es war ein Fahndungsplakat, wie wir es in Farwayle gesehen hatten.
»Das hier ist schlecht fürs Geschäft!«, brüllte Haldart. »Zu eurem Glück konnte ich meine Geschäfte abschließen, sonst hätte ich euch schon längst von Bord geworfen. Sagt mir, warum suchen die Kaiserlichen nach euch? Was in Martoss Namen habt ihr angestellt? Nennt mir einen Grund, warum ich euch nicht auf der nächsten Insel aussetzen oder im nächsten Hafen den Soldaten übergeben sollte!«
Zeiselbart war auf die Schulter des Kapitäns geklettert und fauchte unterstützend bei dessen lauten Worten. Wir ließen die Köpfe sinken und keiner wagte es, Haldarts Blick zu begegnen. Die betretene Stille wurde plötzlich von einem lauten Platschen unterbrochen. Der Steuermann griff sich an den Kopf, ließ das Ruder Ruder sein und rannte nach Backbord.
»Wir haben den Troll ganz vergessen!«
Ich schaute über die Reling: Urota klammerte sich am Beiboot fest. Er war pitschnass.
Der Steuermann erklärte entschuldigend: »Wir mussten ihn ja irgendwo verstecken, als wir die Suchtrupps gesehen haben, also haben wir das Beiboot umgedreht.«
Urota rief mit leicht panischem Unterton: »Kann nicht schwimmen, holt Urota hoch!«
Leichter gesagt als getan: nur mit vereinten Kräften konnten wir den – schon wieder gewachsenen – Hügeltroll an Bord hieven.

Der Kapitän wartete immer noch auf eine Erklärung von uns. Die Lage hatte sich durch die Rettungsaktion etwas entspannt, sodass Edwen vortrat und Haldart von unseren Erlebnissen auf der Regenburg berichtete.
»Klingt für mich nach Seemannsgarn!«, versetzte der Kapitän und sein Kater schüttelte zustimmend den dicken Kopf.
Edwen holte Wunnars Bekennerschreiben hervor: »Das hier sollte Beweis genug sein, dass ich die Wahrheit erzählt habe!«
Haldart überflog es und nickte dann: »Ich glaube euch. Hebt diesen Brief gut auf, er kann euch vielleicht nochmal das Leben retten! Ihr könnt an Bord bleiben, aber die Landgänge sind erstmal gestrichen. Sollten sie uns auf dem Meer verfolgen, setzte ich euch auf der nächstbesten Insel ab. Ich kann nicht riskieren, dass sie euch bei mir finden! So viel bin ich euch schuldig, denn ihr habt bisher gute Arbeit geleistet - für ein paar waschechte Landratten zumindest!«
Der Blick des Kapitäns flog noch einmal über seine Mannschaft, sein Kater tat es ihm gleich – er wirkte dadurch mit seinem Schnurrbärtchen wie dessen geschrumpftes Ebenbild.
»Wo steckt denn diese Rothaarige?«, fragte er in die Runde.
»Meint Ihr mich?«, meldete sich Maluna.
»Nein, ich meine die von den ...«, er überlegte einen Moment, »Roten … Klingen oder so? Hatte sie nicht auch einen Leibwächter mit dabei?«
Er hatte recht, Galinea und ihr schwarzer Ritter waren verschwunden. Hatten wir sie in der Eile an Land vergessen? Wir sahen unter Deck nach und bemerkten, dass unser Gepäck durchwühlt worden war – außer den Sachen der beiden Roten Klingen fehlte aber nichts, was dafür sprach, dass sie absichtlich zurückgeblieben waren und es nicht für notwendig erachtet hatten, sich von uns zu verabschieden – seltsam!

Die Tage vergingen. Wir wurden immer vertrauter mit den Abläufen an Bord des Schiffes und verschmolzen mit den erfahrenen Seeleuten zu einer eingespielten Mannschaft. Der Kapitän hatte ein Temperamento koleriko, wie es der Alchimist nennen würde, doch sobald sein Kater sich bei ihm zum Streicheln anbiederte, flauten die Zornesstürme, so schnell sie aufgezogen waren, auch wieder ab. Haldart hatte nichts übrig für das Imperium – was unser Glück war, konnten wir so doch sicher sein, dass er uns nicht verraten würde. Bei heftigem Wellengang hatte ich oft mit der Seekrankheit zu kämpfen und einmal ging es mir so schlecht, dass ich nicht an Deck konnte. Fischknochen, der Smutje, rief von oben durch die Luke: »Soll ich dir den Eintopf runterbringen oder gleich über Bord werfen?«
Dugan war ein noch größerer Witzbold: wenn der Kapitän nicht in der Nähe war, liebte er es, lustige Geschichten von ihm und über ihn zum Besten zu geben.
»Einmal hab ich den Schiffsjungen angewiesen, den Fußboden zu schrubben, da kam der Zeiselbart an und regte sich wiedermal so richtig auf: ›Das ist ein Schiff hier! Das heißt nicht Fußboden sondern Deck, und vorne ist der Bug und hinten das Heck! Merk dir das endlich, sonst werfe ich dich durch das kleine, runde Fenster da hinten!‹«
Der Steuermann Kairn war der wortkargste von allen.
»Wir haben gerade das Südkap von Tyr passiert; jetzt geht es in Küstennähe immer weiter nach Norden – in die Frostreiche!«, war der längste Satz, den wir während der gesamten Reise zu hören bekamen.

Eines Morgens - Myk hatte gerade das Deck(!) geschrubbt - hörte ich einen lauten Bums an Bord: Saradar war ausgerutscht, hatte im Flug seinen Reliquienanhänger verloren und fing nach dem Aufprall sofort an zu krampfen. Bei heftigem Wellengang hatte das Schiff Schlagseite, sodass der Anhänger nach Steuerbord glitt und drohte, über Bord gespült zu werden. Freya schnappte ihn, bevor er in den Tiefen des aqualonischen Reiches für immer verschwunden wäre. Die Wichtelpriesterin war sichtlich empört über die Sorglosigkeit des Barbaren. Sie hatte große Mühe, dem wieder vom »Schwarzen Sud« Besessenen die Reliquienkette anzulegen.
»Jetzt näh ich das Ding fest!«, rief sie mit verzweifelter Entschlossenheit, zog Nadel und Faden hervor und machte sich ans Werk. Als Saradar nach seinem Anfall wieder zu sich kam, traute er seinen Augen nicht. Die Wichtelin hatte ihm den Knochen unter die Haut genäht.
»Ging nicht anders!«, zuckte sie mit den Schultern, während Tarkin die Wunde mit Heilsalbe bedachte.
»Damit es eine schöne Narbe gibt!«, lachte der Kobold.

Am nächsten Tag hatten wir Flaute, die ganze Mannschaft langweilte sich an Deck – einige spielten Karten, andere würfelten oder hatten die Angel ausgeworfen. Plötzlich hörten wir ein Rumpeln, als ob unter Deck ein paar Kisten umgefallen wären.
»Nicht schon wieder Ratten!«, stöhnte Inisch. Anneliese, Tarkin und Freya boten sich an, nachzuschauen. Tarkin öffnete die hintere Ladeluke und sie verschwanden unter Deck.

»Habt ihr das auch gehört?«, flüsterte Anneliese.»Ja, das scheint aus dem Boden zu kommen!«, meinte Tarkin und schob eine Kiste beiseite.»Da ist ein Loch in der Planke!«, stellte Freya fest. »Da könnte eine Ratte durchpassen!«»Oder ein Wichtel!«, versetzte Tarkin.»Na gut, ich geh ja schon runter!«, fügte sich Freya.»Das war ja einfach!«, wunderte sich der Kobold. »Musste gar keine Überzeugungsarbeit leisten!«Die Wichtelin stieg hinab und fand sich in einem heillosen Durcheinander wieder. Sie blickte sich um: hier hatte jemand eine Menge Krimskrams gehortet: Silberlöffel, Edelsteine, Münzen … ein Wollknäuel? Nein, es bewegte sich – und konnte sprechen!»Lass mich in Ruhe!«, brummte es. Als Freya sich eine Weile ganz ruhig verhalten hatte, drehte es sich um. Es war kein Wollknäuel, sondern ein Wichtel, der da vor ihr stand. Er beäugte sie ganz aufmerksam.»Was ist das für ein seltsames Gewand?«, wollte er wissen.Freya erklärte sich: »Ich trage diese Kutte, weil ich eine Alunpriesterin bin. Mein Name ist Freya und ich habe hier unten Geräusche gehört, und da wollte ich mal nach dem Rechten sehen!«»Ich lebe schon ein paar Sonnenjahre hier unten«, erklärte der Wichtel.Da hätte er ja eigentlich genug Zeit gehabt, hier mal aufzuräumen - dachte sich die ordnungsliebende Priesterin.»Bitte verrate mich nicht!«, flehte ihr Gegenüber mit Tränchen in den Augen.»Darüber lässt sich reden – ich will den Silberlöffel und den Edelstein!«, forderte die Wichtelin.»Das ist Erpressung!«, rief der kleine Mann empört.»Und du bist ein Kleptomane!«, versetzte ihm Freya.»Na gut, ich heiße übrigens Bidok. Ich gebe dir jetzt die Kleinodien, wenn du mir später noch ein Stück Käse bersorgst!«»Einverstanden!«, schlug sie ein.»Ähm, pass auf den Kater auf!«, gab ihr Bidok noch mit auf den Weg.Freya versteckte den Löffel und den Edelstein mehr schlecht als recht unter ihrer Kutte.Als sie sich wieder durch das Loch nach oben gezwängt hatte, fragte Anneliese: »Was gefunden?«»Nö«, antwortete sie knapp, merkte aber sofort, dass ihre Wangen ganz rot wurden.

»Nebelwand voraus!«, rief Tarkin am nächsten Morgen vom Krähennest herab. Ein kalter Nebel verschluckte die helle Morgensonne – bei der Durchfahrt spürte ich, wie mein Fell ganz klamm wurde, sodass ich unwillkürlich zu zittern begann. Das war kein gewöhnlicher Nebel! Die Sicht klarte kurz wieder auf: wie ein Leichentuch waberte der Nebel von der felsigen Küste Tyrs bis weit hinaus aufs Meer. An einer Stelle konnte ich einige bewaldete Hügel erkennen – eine Insel? Wir steuerten auf sie zu. Plötzlich riss der Schleier wieder auf und gab den Blick auf dunkle, schroffe Felsen frei, die drohend in den Himmel ragten. »Das ist Temureth«, erklärte Dugan. »Man kennt sie heute nur noch als »die Geisterinsel«. Es gibt dort eine verlassene Stadt namens Sagoria, angeblich wimmelt es dort nur so vor unentdeckten Schätzen, die langsam vor sich hin rosten.«
»Verlassen?«, warf Fischknochen ein. »Nein, verlassen ist sie nicht – da werden dir viele widersprechen! Die Tyrer haben ihre rachsüchtigen Geister zurückgelassen, um ihre Schätze zu bewachen bis sie dereinst heimkehren!«
Haab, der Matrose mit der Hautkrankheit, mischte sich ein: »Und ich hab gehört, dass sich dort später ein Hexenmeister niedergelassen hat. Er soll grausige Experimente und Rituale durchgeführt haben; die Folgen würden bis zum heutigen Tage die Insel heimsuchen!«
Jetzt trat Haldart dazu: »Lasst euch nicht einschüchtern, die spinnen bloß Seemannsgarn! Ein befreundeter Kapitän war vor kurzem auf der Insel: außer Kreischlingen, die dort in den Bäumen hocken, hat er nichts gesehen!«
Schatzmeister Trelan kam gerade von einer Inspektion aus dem Lagerraum zurück.
»Kapitän, das Wasser ist schal geworden, wir müssen dringend Frischwasser besorgen!«
Der Kapitän sah lächelnd in die Runde: »Na, dann könnt ihr euch ja bald selbst überzeugen, welche Geschichte über Temureth der Wahrheit entspricht!«

Donnerstag, 22. August 2019

Kalte Brise - Kapitel 1: Die Sturmkönigin

Anneliese rieb sich den Schlaf aus den Augen. Sie fragte sich, ob sie das alles nur geträumt hatte. Nein, tatsächlich, da lag die kleine Fee, immer noch auf ihre Mütze gebettet.

Sie streichelte ihr mit einem Finger über die Wange. Bei der Berührung spürte sie erst nur ein leichtes Prickeln in ihren Fingern, dann bemerkte sie, wie arkane Macht von der Fee auf sie überging. Die Fee öffnete die Augen und flog eine Schleife. Anneliese fragte die Fee nach ihrem Namen. Als Antwort flog sie eine erneute Schleife, dann setzte sie sich auf die Schulter der Magierin.

Nachdem wir ein kurzes Frühstück eingenommen und unsere Sachen auf dem Schiff verstaut hatten, begann der Kapitän, der Mannschaft Befehle zu erteilen.
»Anker lichten!«, rief er Urota zu. Dieser streckte sich kurz, kratzte sich noch einmal am Rücken und zog dann mit einer Hand den Anker hoch.
»Segel setzen!«
Dieser Befehl ging an Saradar und Edwen, die sich direkt zusammen mit Haab daran machten, die Segel zu hissen. Quenlins Atem füllte die Segel und ließ die Sturmkönigin in See stechen. Für mich war es das erste Mal, dass ich das Festland verließ. Die Herrscher über Himmel und Meer meinten es gut mit uns, das Meer war ruhig und es blies eine kräftige Brise aus Südost. Der Bug durchschnitt die Wellen und ließ das Wasser in die Höhe spritzen.

»Wohin geht die Fahrt?«, fragte ich den Steuermann. Dieser hatte seinen Blick starr auf den Horizont gerichtet und schien mich gar nicht gehört zu haben.
»Nach Farwayle!«, antwortete mir stattdessen der rothaarige Maat.
»Das ist der erste Hafen, den wir anlaufen. Wart Ihr schon mal da?«, schmatzte Dugan, den ich kaum verstehen konnte, da er seinen Mund mit braunem Kautabak geladen hatte.
Ich schüttelte den Kopf. Der Rest der Gruppe gesellte sich zu uns, auch er wollte etwas über unsere Reiseroute erfahren.
»Da gibt’s Weiber, sag ich Euch! Die Stadt liegt halb im Meer, gehört eigentlich zu Askalon, aber seit Chiram von den Grauhäuten erobert wurde, gibt’s keinen Hochfürsten mehr. Die machen jetzt ihr eigenes Ding, dümpeln so vor sich hin. Haben sogar 'ne alte Frau als Stadtherrin gewählt. Die Gassen haben dort ihren ganz eigenen Gestank, liegt vielleicht an den ganzen Südländern und den Schraten, die sich da rumtreiben und von denen jeder sein eigenes Süppchen kocht.«
Der Kapitän trat gerade aus seiner Kajüte und warf dem Maat einen strafenden Blick zu.
»He, Dugan, halt die Leichtmatrosen nicht von der Arbeit ab!«
Hinter ihm trat jetzt auch sein Kater an Deck und strich ihm mit seinem Schnurrbart um die Beine. Haldart bückte sich und nahm ihn hoch. Seine finstere Miene heiterte sich sofort wieder auf.

Vom Heck drang Flötenspiel an meine Ohren. Saradar wollte wohl zeigen, dass er ein richtiger Barde war und hatte eine Flöte zwischen den Zähnen. Die Flöte sah aus, als ob sie aus mehreren Knochen zusammengesetzt war.
»Aus den Gehörknöchelchen eines Rieseneichhörnchens«, erklärte er – sicher nicht ganz ernst gemeint.
Widun hielt sich die Ohren zu.
»Gefällt dir etwa mein Lied nicht?«, fragte er Widun vorwurfsvoll.
»Das Rauschen des Meeres ist auch ganz schön!«, bekam er als Antwort.
»Ich kann auch auf euren Knochen spielen!«, warf Saradar in die Runde und zog scheinbar beleidigt ab.

»Huch, das kitzelt!«, rief Anneliese plötzlich. Ihre Fee, die sie uns noch gar nicht richtig vorgestellt hatte, kam aus ihrem Kragen heraus und zerrte einen Pergamentfetzen hervor.
»Das hatte ich ganz vergessen, das ist ein Fetzen aus dem verschlossenen Buch, das ich in der Regenburg zurücklassen musste.«
Sie schaute ihn sich eine Weile an und zuckte schließlich mit den Schultern.
»Da sind nur seltsame Zeichen drauf, kann das nicht entziffern.«
Die Fee brachte mir den Fetzen.
»Seltsam, diese Spinne in der Ecke, das ist ein Zuraksymbol. Es gibt einen Hinweis auf eine Geheimschrift, die nur ›unter einem anderen Licht‹ entziffert werden kann.«

Ich hatte den Pergamentfetzen auf dem Deck fixiert, damit er nicht weggeweht werden konnte.
Die Fee flog über dem Fetzen hin und her. Ihr blaues Leuchten sorgte dafür, dass auf dem unteren Teil des Pergaments eine Geheimschrift sichtbar wurde. Jetzt war das Interesse aller Mitglieder des Bundes aus Blut und Feuer geweckt. Der Kapitän bemerkte schnell den Auflauf und trat laut aufstampfend in die Runde.
Er brummte: »Beim Klabautermann, was treibt ihr da? Warum seid ihr nicht auf euren Posten?«
Tarkin zeigte nach oben: »War gerade auf dem Weg ins Krähennest!«
Saradar schaute herum: »Ähm, ich wollte Rudern gehen!«
Haldart wurde zornig: »Das ist ein Segelschiff! Hier gibt’s keine Ruder, du Landratte!«
Anneliese ließ den Fetzen schnell wieder zwischen ihren haarigen Brüsten verschwinden: »Nur ein Kochrezept für den Smutje!«
Widun tat so, als ob er unter Deck wollte: »Ich passe auf, dass die Bierfässer gut gesichert sind, zu viel Bewegung ist schlecht fürs Bier.«
Tarkin war unterdessen den Mast hoch geklettert und hielt Ausschau.
»Seht Ihr was?«, rief ihm der Kapitän zu.
Vom Kobold kam ein »Ja!« als Antwort.
»Was denn?«, wollte Haldart wissen.
»Wasser!«, kam von oben.
Der Kapitän schüttelte seinen Kopf, sodass sein Walrossbart wild hin und her flog: »Alles Landratten! Was hab' ich mir da an Bord geholt!«
Der einzige, der wirklich tat, was ihm aufgetragen worden war, war Edwen. Er war dabei, die rostigen Waffen zu schärfen und blank zu polieren.
Freya und Tarquan waren die meiste Zeit unter Deck und kümmerten sich um Vivana.
Die Wichtelpriesterin war zuversichtlich: »Sie hat die Augen wieder auf und sich beschwert, dass sie einen Mordsbrummschädel hätte.«

Nach dem Mittagsmahl forderte Saradar den bärtigen Ritter Edwen zum Armdrücken heraus.
»Ich wollte schon lange mal mit Euch meine Kräfte messen.«
Syr Edwen ließ sich darauf ein und sie nahmen gegenüber an einem Holztisch Platz.
Der Ritter hatte gegen den muskulösen Gjölnar aus dem hohen Norden keine Chance und verlor nach kurzem Drücken. Edwen rieb sich das Handgelenk: »Ist wohl eher was für Barbaren!«
»Möchte noch jemand?«, fragte Saradar in die Runde.
Er hatte kaum das letzte Wort ausgesprochen, als ihm Tarkin, der Kobold-Ritter, schon gegenübersaß. Er hatte natürlich viel kürzere und auch schmächtigere Arme, sodass Saradar spöttelte: »Du Kobold willst es mit mir aufnehmen?«
Er spannte seine Oberarmmuskeln an, wohl um seinen Kontrahenten einzuschüchtern.
»Es kommt nicht nur auf die Muskeln an«, konterte Tarkin unbeirrt, »sondern auch auf die richtige Technik!«
»Außerdem haben wir Kobolde Sehnen wie Schneckenstahl!«
Saradar schüttelte sich vor Lachen. Nachdem er sich endlich wieder beruhigt hatte, musste er sich weit über den Tisch lehnen, um Tarkins Hand ergreifen zu können.
»Na gut, gehen wir es an!«
Maluna gab das Startsignal. Der Sohn des Windes wollte kurzen Prozess machen und drückte mit aller Kraft, doch Tarkin hielt seinem Ruck tatsächlich Stand. Schweißtropfen perlten von Saradars Stirn, die vor Ungläubigkeit gerunzelt war. Mit einer raschen Bewegung schaffte es Tarkin, Saradars Hand fast auf die Platte zu drücken, doch konnte dieser sie gerade noch abfangen. Er grunzte vor Anstrengung, als er Tarkins Unterarm langsam wieder in dessen Richtung bog. Ruckartig sackte Saradars Hand wieder ab und wieder stand der Kobold kurz vor einem großen Triumph. Die Matrosen hatten wohl von seinem Spitznamen gehört und riefen »Krähenfresser! Krähenfresser!« zur Anfeuerung. Wenn das mal nicht den Kapitän auf den Plan rief! Jetzt gewann Saradar wieder die Oberhand und erstmals konnte ich Spuren der Anstrengung in Tarkins Gesicht lesen. Er pumpte und fluchte – und schaffte es tatsächlich noch einmal das Ruder herumzureißen. Ein Raunen ging durch die Zuschauerreihen. Mit einem Brüllen kämpfte der Khor'Namar gegen die Niederlage an und wuchtete schließlich Tarkins Arm mit daran hängendem Kobold auf die Tischplatte. Saradar wollte wohl seine Arme nach oben reißen, musste aber seinen rechten Arm erst einmal ausschütteln. Die Seeleute johlten, so ein Schauspiel bot sich ihnen wohl nur selten.
»Habt ihr nichts zu tun?«, stürzte jetzt Haldart aus seiner Kajüte, sein Kater kam hintendrein und schien uns ebenso anklagend wie sein Herrchen anzublicken. Die Matrosen stoben auseinander und jeder ging einer mehr oder weniger sinnvollen Beschäftigung nach.
Anneliese kam nach dem Abwasch aus der Kombüse und nahm sich im Feenlicht wieder ihr Pergament vor.

Nach einer Weile kam Inisch, der von den anderen Matrosen nur »Fischknochen« genannt wurde, aus der Kombüse gestürmt und warf scheppernd einen Topf über Deck.
Er schimpfte: »Wir haben eine verdammte Ratte an Bord! Die muss sich irgendwo zwischen den Kisten versteckt haben! Die frisst uns die ganzen Vorräte an, wenn wir sie nicht erwischen!«
Ich ging zusammen mit Freya und Urota unter Deck in den Laderaum. Ich erinnerte mich an die Querflöte, die wir dem Rattenmann in Altem abgenommen hatten. Ich nahm sie an die Lippen und spielte die Rattenfängermelodie. Und tatsächlich kroch die Ratte unter einer Planke hervor und - fing an zu tanzen! Freya fiel unfreiwillig mit ein, die Querflöte schien auch bei Wichteln zu wirken. Urota schnappte sich schließlich die tanzende Ratte und brachte sie an Deck.
»Was machen wir jetzt mit ihr?«, fragte Inisch.
Tarkin meldete sich: »Ich hätte da schon einen Vorschlag!«
Er leckte sich über die Lippen.
Saradar holte sein kleines Wiesel hervor: »Radaras braucht Kampferfahrung! Lassen wir ihn gegen die Ratte antreten!«
Das musste er nicht zweimal sagen. Sofort hatten die Seeleute einen Kreis an Deck gebildet, Wetten abgeschlossen und warteten gespannt darauf, wie die beiden aufeinander los gehen würden. Das Wiesel schlug sich tapfer, hatte gegen die ausgewachsene Schiffsratte aber keine Chance. Bevor es schlimmer verletzt werden konnte, erschlug der Smutje die Ratte von hinten mit einem Knüppel.
»Die kommt in den Eintopf!«
Ein lautes »Bäh!« folgte von der Mannschaft, das von einem noch lauterem »Lecker!« von Tarkin übertönt wurde.

Am Nachmittag ließ eine Windbö das Rahsegel herumschlagen. Es sauste über Anneliese und Tarkin hinweg, erwischte aber den armen Haab. Blutstropfen aus seiner Nase hinterließen ihre Spuren auf den Bandagen seines geschundenen Körpers.

An diesem Tag kamen uns noch mehrere kleine Handelsschiffe entgegen. Einige grüßten freundlich, als sie Kapitän Haldart und seinen Kater erkannten, andere wirkten verängstigt, als sie den über Deck schwankenden Troll bemerkten und drehten schnell wieder ab. Die Nacht verlief ohne besondere Vorkommnisse. Anneliese konnte vor Aufregung nicht schlafen und widmete sich im blauen Licht ihrer Fee weiter der Entschlüsselung der Geheimschrift.

Der nächste Tag verlief recht ereignislos. Einmal überholte uns ein Schiff mit einem Haufen halbnackter Männer, die sich über unseren »durchmischten Haufen« lustig machten. Sie hatten Glück, dass sie sich schnell wieder außerhalb der Reichweite unserer Bögen befanden. Vivana hatte sich soweit erholt, dass sie die meiste Zeit an Deck verbringen konnte. Die frische Seeluft tat ihr sichtlich gut. Anneliese zeigte mir, was sie inzwischen herausgefunden hatte.

Die Geheimzeichen standen für den Platz eines Buchstabens in einem von drei Gittern aus je neun Buchstaben. Es schien sich um eine durchnummerierte Liste zu handeln - und zu meinem Schrecken stellte ich fest, dass ein »Fyn« darauf stand . Auch Anneliese fand sich unter »Annelys« als Eintrag, zusammen mit ihrer Volkszugehörigkeit und dass sich ein Pergament in ihrem Besitz befinden solle. Wir konnten uns noch keinen rechten Reim darauf machen und ließen das Pergament mit einem unguten Gefühl erst einmal auf sich beruhen.

Am Morgen des dritten Tages der Seereise erreichten wir den äußeren Wellenbrecher der Stadt Farwayle. Nachdem wir die schmale Barriere zwischen der Mauer und einem kleinen Leuchtturm durchschifft hatten, steuerte Kairn das Schiff gekonnt in den Hafen der Menschenstadt. Am langgestreckten Kai lagen zahlreiche kleine und große Handelsschiffe. Am nördlichen Ende ankerten drei Kriegsschiffe. Zwei trugen die imbrischen Farben und die Standarte des Imperiums, während am dritten, dem kleinsten Schiff, eine Flagge mit dem askalonischen Rosenschwert wehte. Wir erreichten eine freie Anlegestelle und Dugan bat Saradar, ihm dabei zu helfen, den Hafenknechten die schweren Taue zuzuwerfen. Nachdem das Schiff vertäut war, wurde eine dicke Landungsplanke über die Reling zum Kai hinübergeschoben und dort festgemacht.
Am Kai herrschte Hochbetrieb. Dutzende Fischer entluden ihre Netze und brachten ihren Fang – Karren voller glotzender Fische – zum Markt. Der Geruch, der davon ausging, war mir fremd und - höflich ausgedrückt – gewöhnungsbedürftig.

Nebenan hatte kurz vor uns ein anderes Schiff festgemacht. Ein dunkelhäutiger Mensch, der mit allerlei Goldschmuck an Nase, Ohren und Hals behängt war, verhandelte gerade mit einem dürren, blassen Kerlchen, das er um mindestens zwei Köpfe überragte. Sie schienen sich einig zu sein, ein breites Grinsen auf den wuchtigen Lippen des Südländers sprach dafür. Er machte eine Handbewegung und ließ vier seiner Männer säckeweise Ladung an Land bringen. Der große Mann blickte mit einer hochgezogenen Augenbraue auch zu unserem Schiff herüber und schien sich vor allem für die weiblichen Besatzungsmitglieder zu interessieren. Er musterte sie unverhohlen von oben bis unten. Ein Schwarm kreischender Möwen kreiste über unserem Schiff, nur um sich im nächsten Moment auf das Fischerboot nebenan zu stürzen.
Das blasse Kerlchen kam jetzt auch über die Landungsplanke auf die Sturmkönigin. Hintendrein stapfte ein fetter Mann, der in feinstes Händlertuch gekleidet war. Die Planke vibrierte unter seinem Gewicht. Ein dritter Mann, breitschultrig und mit einem Knüppel an der Seite – bei dem es sich wohl um einen Leibwächter handelte – betrat ebenfalls das Schiff.
»Haldart, mein Freund«, begrüßte der Fette den mürrisch dreinschauenden Kapitän.
Der alte Seebär wich einer Umarmung aus.
»Ihr seid nicht mein Freund, Hafenmeister! Ihr wisst es, alle anderen auch, also lasst uns gleich zum Geschäft kommen!«
»Warum diese Zurückweisung?«, quiekte der Hafenmeister mit gespielter Empörung.
»Wir haben Felle, Schwerter und den Rum, alles in bester Qualität«, erwiderte Haldart unbeeindruckt und ohne auf die Frage des Fetten einzugehen.
»Na schön, Haldart«, gab der Fette auf und klatschte in die Hände.
»Ebelian, geh unter Deck und nimm die Waren in Augenschein! Überprüfe alles ganz genau, es geht um einen großen Betrag!«
Mit einem angedeuteten Nicken verschwand das blasse Kerlchen zusammen mit Dugan unter Deck, während der Hafenmeister die Besatzung der Sturmkönigin genauer unter die Lupe nahm.
»Seid Ihr ein barbarischer Barbar?«, fragte er Saradar. »Es gibt hier wunderbare Tempel der Amra, wenn Ihr wisst, was ich meine? Die Bordelle hier haben einen guten Ruf, die Frauen sind gewaschen und duften nach Wüstenrosen.«
Er blickte Haldart an und schüttelte mit dem Kopf: »So viele Nichtmenschen an Bord. Geht es Euch so schlecht, dass Ihr haarige Kobolde, ziegenbeinige Faune und grünhäutige Trolle anheuern müsst?«
Die Wichtelin hatte er gar nicht bemerkt. Beim Anblick von Maluna wendete er sich angewidert ab, als er jedoch Vivana sah, leckte er sich mit seiner Zunge über die dicken Lippen.
»Nebenan hat Maguun angelegt, ein hoher Handelsherr aus Nal'Schir. Er ist immer auf der Suche nach einem besonderen Abenteuer, wenn Ihr wisst, was ich meine?«
Zum Glück war das blasse Kerlchen inzwischen wieder an Deck gekommen.
»Die Waren sind vollzählig und sehen brauchbar aus«, berichtete er seinem Meister.
»Sehr schön, Haldart, auf Euch kann man sich immer verlassen. Bringt mir die Sachen ins fünfte Lagerhaus. Ebelian und Ranock werden sie dort in Empfang nehmen.«
Der Hafenmeister wandte sich zum Gehen.
»Wo ist das Gold?«, fragte Haldart streng.
Der Fette wies – ohne sich umzudrehen oder zu antworten – Ebelian an, die Bezahlung zu regeln und wackelte dann davon. Der blasse Bursche reichte dem Maat ein Säckchen mit klimperndem Inhalt. Dugan sah hinein und seine Miene verfinsterte sich.
»Da fehlen noch mindestens 10 Goldtaler!«
»Mein Meister hat gesagt, ihr kriegt den Rest, wenn alles im Lagerhaus ist!«
Während Edwen, Widun, Tarkin und Urota beim Transport der Waren halfen, war meine Aufgabe das Löschen der Ladung. Ich registrierte die Waren einzeln, erstellte eine Liste und überreichte sie schließlich dem Maat.
»Der Kapitän hat mich angewiesen, euch eure Heuer auszuzahlen, es gibt 20 Silberlinge für jeden, aber opfert nicht alles Amra und Mnamn!«, lachte der Maat, der wohl genau dies zu tun gedachte.
Der Kapitän wollte zusammen mit Trelan, dem Schatzmeister, versuchen, noch ein Geschäft abzuschließen, sodass die Sturmkönigin vollbeladen weiterfahren könnte. Er hatte Urota angewiesen, zusammen mit drei der Matrosen als Wache an Bord zu bleiben, was diesen natürlich gar nicht gefiel.
»Der Rest hat Landgang bis zur Mittagsstunde!«
Urota legte sich trotzig quer aufs Deck – mittlerweile war er so groß, dass seine Länge fast die gesamte Breite des Schiffs einnahm.

Sonntag, 4. August 2019

Frostreich-Kampagne - Abenteuer 6: Kalte Brise - Prolog

Die Ereignisse auf der Regenburg hatten uns in eine brenzlige Lage gebracht. Wir standen unter Verdacht, für den Tod des Hochfürsten verantwortlich zu sein. Sicherlich würde uns Aschantus auch für die anderen Morde zur Rechenschaft ziehen wollen. Wir waren zutiefst bestürzt über Syr Wunnars Brief, in dem er seine Motive dargelegt hatte. Keiner von uns hätte je den liebenswürdigen, gemächlichen ehemaligen Hauptmann von Chiram und Ausbilder auf der Wegburg mit den Morden in Verbindung gebracht. Er hatte uns benutzt wie Gliederpuppen, als Werkzeug seiner Rache.
Saradar schüttelte immer noch den Kopf: »Das kann alles nicht wahr sein, er hatte das Herz eines wahren Kriegers, noch nie habe ich mich in jemandem so getäuscht!«
Maluna warf ein: »Ich kannte ihn nicht gut. Aber so wie er schreibt, war er innerlich zerrissen. Wie in seiner Flasche kämpften zwei Seiten in ihm, eine, die immer das richtige tun wollte und sich für die Bedrohten und Hilflosen einsetzte und eine, die nach Rache dürstete.«

Ein salziger Wind blies uns von der Martossbucht in die Gesichter und verwehte vorerst die dunklen Gedanken. Wir ließen unseren Blick schweifen über die Weite und das tiefe Blau der See. Die Mannschaft der »Sturmkönigin« hatte sich am Kai versammelt. Auch Galinea und ein weiteres Mitglied der »Roten Klingen« hatten sich zu uns gesellt.
Die stolze Kogge war bis auf die Waren von den Langbooten beladen und der walrossbärtige Kapitän trat vor, um uns zu mustern.
Der Seemann Inisch trat zu ihm und stellte uns vor.
»Nun denn«, begann der Kapitän mit zweifelndem Blick in die Runde.
»Ihr seid ein ungewöhnlicher Anblick, ›Bund aus Blut und Feuer‹, aber vielleicht seid ihr Landratten doch für etwas zu gebrauchen. Tretet nacheinander vor, sagt mir euren Namen und erzählt mir, welche Fertigkeiten ihr besitzt und womit ihr bisher euer Auskommen verdient habt. Zusammen mit meinem Maat Dugan werde ich dann entscheiden, wen ich mitnehme und wofür ich ihn auf dem Schiff einsetzen werde!«
Der Maat machte ein Handzeichen, dass Saradar vortreten sollte.
Der Kapitän sprach ihn an: »Mann aus dem Norden, erzählt mir Eure Geschichte!«
Saradar verbeugte sich und sprach: »Ich bin ein Barde und kann für Unterhaltung sorgen, sodass die Fahrt nicht langweilig wird.«
Der Kapitän schüttelte mit dem Kopf: »Auf See brauche ich meine Ruhe! Ein Barde ohne Instrument, dass ich nicht lache! Aber Ihr habt starke Arme, wie der Troll da drüben!«
Er wandte sich an seinen Maat: »Die beiden können an die Ruder und mit den Staken das Schiff von den Felsen fernhalten. Auch beim Lichten des Ankers und beim Segelsetzen können wir sie gebrauchen!«
Der Maat blickte den Hügeltroll ungläubig an, Saradar klopfte Urota auf die Schulter: »Er schafft das schon!«
Der Kapitan bückte sich, sodass sein Bart den Boden berührte.
»Und Ihr, kleine Lady, was soll ich mit Euch anfangen?«
Anneliese bot sich an, in der Kombüse zu helfen.
»Einverstanden, Ihr könnt Inisch, unserem Smutje, beim Knollenschälen zur Hand gehen!«
Jetzt trat Widun vor: »Ich bin ein Halbschrat und kann mich um die Getränkevorräte kümmern...«
»Das glaube ich! Ihr Halbschrate seid für Euren großen Durst bekannt!«, lachte der Kapitän.
»Ich meine natürlich, dass ich als Wanderprediger des Mnamn darum beten werde, dass die Vorräte nie ausgehen! Ansonsten war ich noch nie auf einem Schiff und kann nicht sagen, wie weit sein Einfluss auf dem Wasser reicht, immerhin ist es ja auch eine Flüssigkeit!«
»Gut, ich mach Euch zum Proviantmeister, Ihr kümmert Euch um den Rum und die Essensvorräte! Aber übertreibt es nicht mit den Rationen, ein Beutel Rum oder Wein pro Tag muss reichen!«
Widun nickte: »Das kriege ich hin! Ich werde die Vorräte gleich in Augenschein nehmen und einen Segen sprechen.«
Jetzt trat Tarkin vor: »Ich bin SYR Tarkin, der beste Koboldkämpfer und helfe, wo ich kann!«
Der Kapitän zuckte mit den Schultern und kratzte sich am Kopf.
»Backbord ist ein Loch, das muss kalfatert werden! Kobolde können gemeinhin gut klettern. Ihr werdet das Krähennest besetzen!«
Dann war es an mir vorzutreten, Haldarts Blick fiel sofort auf meine behuften Beine.
»Ihr seid ein Faun, nicht wahr? Könnt Ihr Euch überhaupt auf einem schwankenden Deck halten, oder muss ich immer Angst haben, dass Ihr mir ins Wasser fallt?«
»Mein Name ist Finn, ich bin ein Druide der Ianna und Chronist der Gruppe!«
»Ein Schreiberling also? Dann könnt Ihr dabei helfen, die Ladung zu löschen, also alle Waren zählen und dann Dugan berichten!«
Jetzt sprang Freya nach vorne, so plötzlich, dass sich der Kapitän erschreckte.
»Ich hab' doch schon genug Ratten an Bord! Was soll ich mit einem Wichtel anfangen? Ihr habt doch nur Unfug im Sinn!«
Saradar ergriff das Wort: »Mit ihr kann man prima Löcher stopfen!«
Freya war entrüstet: »Ich bin keine Ratte! Ich bin eine Alunpriesterin, bin klein und kompakt und kann Kranke heilen!«
Der Kapitän lenkte ein: »Nun gut, wenn einer krank wird, kümmert Ihr Euch um ihn, aber seht zu, dass ihr meinem Kater aus dem Weg geht! Fangt doch direkt mit dieser da an!«
Er zeigte auf Vivana, die immer noch bewusstlos auf Tarquans Schoß lag.
»Bringt sie in eine Kajüte, bis sie wieder ganz bei sich ist!«
Freya nickte und folgte Tarquan, der Vivana auf seinen Armen trug, unter Deck.
Jetzt war Edwen an der Reihe.
»Ich bin ein freier Ritter und kenne mich mit Waffen aus!«
»Ihr mache Euch zum Waffenmeister. Ihr schaut nach der Balliste und kümmert Euch um die Schwerter.«
Er winkte ihn zu sich und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Als Edwen mit dem Kopf schüttelte, erhob der Kapitän seine Stimme, während er mit einem Finger auf Pferd zeigte, der gerade wieder an Deck gekommen war.
»Jetzt kann ich mich an Euch erinnern! Ihr wart einer der Piraten, die damals meine Handelsgalleone überfallen haben! Euch werde ich bestimmt nicht mitnehmen!«
Tarquan erwiderte trotzig: »Ich werde Vivana nicht von der Seite weichen!«
Edwen ergriff das Wort: »Ohne unsere Gefährten werden wir sicher nicht mit Euch fahren! Dann müsst Ihr Euch jemand anderen suchen! Tarquan hat uns stets unterstützt, gesteht ihm einen Sinneswandel zu, er hat sich von den Söldnern und Piraten freigekauft!«
Der askalonische Ritter hatte den Kapitän wohl überzeugen können.
»Wenn Ihr das sagt, Ritter. Gut, er darf mit! Er bekommt aber keine Waffe und Ihr seid für ihn verantwortlich! Der Einäugige soll jeden Tag Fische fangen und die Netze ausbessern!«
Als der Blick des Kapitäns auf Maluna fiel, die sich die ganze Zeit im Hintergrund aufgehalten hatte, musste er seine Mütze abnehmen und sich kurz damit Luft zufächeln. Er grinste als er anmerkte: »Euch nehme ich auf jeden Fall mit, und sei es als Galleonsfigur!«
Myk trat vor: »Was soll ich machen?«
Haldart überlegte nicht lange: »Du wirst unser Schiffsjunge und gehst dahin, wo gerade Hilfe gebraucht wird!«

Galinea stellte sich und ihren Begleiter vor: »Ich bin Galinea, die Anführerin der ›Roten Klingen‹, und das ist Ardak, der ›schwarze Ritter‹, mein Leibwächter! Wir sind Kämpfer für die gerechte Sache und begleiten den ›Bund aus Blut und Feuer‹!«
»Kämpfer können wir gebrauchen, aber ihr müsst euch auch die Hände schmutzig machen, sonst kann ich euch nicht mitnehmen.«

Er stellte uns den Rest seiner Mannschaft vor, Inisch, den Smutje, und Haab, den Matrosen, hatten wir bereits kennengelernt.
»Das ist Kairn, der Steuermann!«
Er zeigte auf einen Mann, dessen Blick in der Ferne schweifte und der etwas abwesend wirkte.
»Trelan, mein Schatzmeister. Dugan, mein erster Maat, er wird auch ›der Rote‹ genannt und ist für seine schlechten Scherze berüchtigt.«

Jetzt hatte ein dicker Kater seinen Austritt: Er kam aus der Kapitänskajüte stolziert, trug eine Augenklappe, eines seiner Ohren war verkrüppelt, als Ausgleich hatte er jedoch so buschige Schnurrhaare, dass sie dem Bart des Kapitäns kaum nachstanden. Er blickte an Haldart hoch, schnurrte und wedelte mit seinem Stummelschwanz. Dieser bückte sich, nahm ihn auf den Arm und begann sofort, ihn ausgiebig zu streicheln.
»Und nicht zu vergessen: Zeiselbart, mein Kater!«

Freya kletterte an Deck: »Ich brauche frisches Wasser für Vivana! Ich kann ihr doch keinen Rum einflößen!«
Haldart nickte: »Stimmt, das hätte ich fast vergessen. Wir müssen unsere Frischwasservorräte auffüllen! Kairn, nimm dir zwei der Gestalten mit und füllt die Fässer an der Quelle des kleinen Baches!«

Kairn wurde von Saradar und Tarkin begleitet, der Rest sollte die Langboote entladen. Meine Aufgabe war es, die Waren zu registrieren. Ich saß auf der Reling und notierte die Mengen an Schiffswolle und Wein, die an Bord befördert wurden.
Widun schien lange nichts mehr »Richtiges« getrunken zu haben, so wie er über die Planken wankte. Dann passierte es, beim Hochrollen eines Weinfasses verlor er das Gleichgewicht und plumpste ins Wasser. Triefend bat er, in den Lagerraum gehen zu dürfen, um den Wein zu segnen.

Als Saradar und Tarkin mit den Wasserfässern zurückkehrten, zeigte uns der Kobold ein Ei, das Saradars Wiesel unterwegs gefunden hatte.
»Saradar wollte es sofort ausschlürfen, doch ich würde es gerne ausbrüten!«
»Da oben in deinem Krähennest?«, lachte Saradar.
Maluna war begeistert: »Seht ihr die bunten Punkte auf seiner Oberfläche. Das steckt bestimmt ein ganz besonderer Vogel drin!«
Sie hatte sich zum Kobold runtergebeugt und dieser nutzte die Gelegenheit, der Feueralwe das Ei zwischen die Brüste zu stecken: »Da ist's schön heiß!«
Maluna lachte: »Der heißt dann aber Hühnerbrust!«

Als die Arbeit beendet war, erklärte der Kapitän, dass wir bei Morgengrauen in See stechen würden. Wir konnten uns aussuchen, ob wie im Schiffsrumpf, an Deck oder an Land übernachten wollten.
Die meisten entschieden sich, die Nacht vor dem Aufbruch an Land zu verbringen. Tarkin und Urota übernahmen die erste Wache, während ich mit Edwen die zweite übernehmen wollte.

Urotas Wache
Urota schreckte auf, er hatte ein Geräusch vernommen. In der Finsternis konnte er den eleganten, haarigen Umriss des Wiesels erkennen, das etwas entdeckt zu haben schien. Radaras fauchte plötzlich, eine Ratte? Urota Augen wollten gerade wieder zufallen, als sie ein sanftes, bläuliches Leuchten bemerkten, dass sich geschickt einen Weg zwischen den Schlafdecken am Boden suchte. Das Wiesel hatte sich jetzt vollkommen aufgerichtet und sprang dem leuchtenden Etwas zähnefletschend entgegen, nur um im nächsten Moment abrupt stehenzubleiben und sich unter Saradars Decke zu verkriechen. Urota erhob sich und schaute genauer hin. Er erkannte ein winziges, zartes Wesen, das nur aus blauem Licht zu bestehen schien. Flügelschlagend hielt es sich in der Luft. Nie zuvor hatte der Troll eine solche Anmut gesehen. Ganz vorsichtig bewegte sich das Wesen auf Anneliese zu, ein glitzernder Schweif zeichnete ihre Strecke nach. Behutsam berührte sie Annelieses Wange und streichelte sie vorsichtig. Die Koboldmagierin gab einen Seufzer von sich und öffnete schlagartig die Augen. Erschrocken wich das fliegende Wesen ein paar Schritt zurück, doch Anneliese versuchte es zu besänftigen und streckte ihm ihre Hand entgegen.
Die blaue Fee.
»Hallo, kleine Fee«, begrüßte sie das magische Wesen. Und tatsächlich kam die Fee näher und berührte Annelieses Zeigefinger. Bläuliche Funken sprühten in die Luft und Urota meinte, kurz ein bläuliches Schimmern gesehen zu haben, das von Anneliese ausging. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sich die Fee von Annelieses Finger löste und in kleiner werdenden Kreisen um die Koboldin herumflog. Dann setzte sie sich auf Annelieses Schulter und schmiegte sich an deren Mütze. Sie schien müde zu sein. Die Magierin nahm ihre Mütze ab und bereitete der Fee damit ein Bett. Länger konnte auch Urota seine Augen nicht mehr offenhalten und fiel in einen tiefen, von lautem Schnarchen begleiteten, Schlaf.

Samstag, 16. März 2019

Der letzte Tanz - Epilog

Auf zwei Langbooten schossen wir über den Fluss Regenarm. Die in fahles Licht getauchte Burgenstadt Regenfels lag hinter uns. Dunkle Wolken am Himmel, links und rechts zogen am Ufer Büsche und Sträucher vorbei. Die Ruderer hatten sich in die Riemen gelegt, darunter waren auch Saradar, Widun und Edwen. Anneliese, Freya und ich waren – wegen unserer zu kurzen Arme – vom Ruderdienst befreit. In unserem Boot saß ein mir unbekannter Mann, er war klein, hatte einen buschigen Schnauzbart und ebensolche Augenbrauen. Er gab die Befehle.
Im anderen Boot versuchten Urota und Maluna den Rhythmus zu halten, den Tarkin mit seinen Kommandos vorgab. Dies missfiel offensichtlich dem hünenhaften Kerl, der mit im Boot saß.
»Hier gebe immer noch ich die Kommandos, Kobold!«, maßregelte er ihn mit undeutlicher Stimme, da er ein langes Entermesser zwischen den Zähnen hatte.
Von der Statur her erinnerte er an Saradar. Mir fiel auf, dass er zahlreiche offene Wunden am Körper hatte. Litt er an irgendeiner Krankheit?
Ganz vorne saß doch tatsächlich Myk, der Knappe. Wie kam er denn hierher?
Tarquan hatte Vivana auf seinem Schoss liegen, sie hatte die Augen immer noch geschlossen – aber der Bund aus Blut & Feuer war wieder vollzählig – und – so wie es aussah – auf der Flucht!

Wir kamen an eine Stromschnelle, die die ganze Aufmerksamkeit der Ruderer erforderte. Das Wasser des tosenden Flusses spritzte in die Boote und ließ mich mit einem nassen Fell zurück. Jetzt hatte sich der Fluss wieder beruhigt und die Strömung war so schnell, dass die Ruder eingeholt werden konnten. Das Rauschen des Flusses hatte eine trügerisch friedliche Wirkung.

Ich tippte Edwen auf die Schulter und bat ihn zu erzählen, wie es ihm ergangen war und wie wir in die Boote gekommen waren, da ich ja eine Erinnerungslücke für die Ereignisse nach meinem Sprung in das schwarze Loch hatte. Edwen räusperte sich und begann in gedämpfter Stimme mit seiner Geschichte:

»Wie Du weißt, bin ich zurückgeblieben, um dem kranken Toran zu helfen. Ich half Gulim und der Magd dabei, ihm neue Wickel anzulegen, wenn er wieder einmal ein Delirium hatte. Er sprach dann wirr, ›tausend Augen‹, ›viele Gesichter‹ und ›Spinnen‹ kamen oft in seinen Fieberträumen vor. Es war furchtbar, meinen alten Weggefährten so leiden zu sehen. Aber Gulim gab die Hoffnung nicht auf. Er sei so schwer verwundet gewesen, dass es trotz der besten Heilkräuter noch eine ganze Weile dauern würde, bis er sich vollständig erholt hätte. Unterdessen war sein Bruder, Syr Benesch, erwacht und berichtete mir, was er im Grünen Kessel erlebt hatte. Er bezeichnete Toran als Hitzkopf, weil er das Leben seiner Männer aufs Spiel gesetzt habe, um ihn zu befreien. Er müsse noch viel lernen, bevor er ein richtiger Anführer sei, dankte mir aber, dass ich solange auf ihn aufgepasst hatte. Ich erfuhr auch, dass die Tekk Taraxhall nach der Eroberung besetzt hielten, was für sie sehr untypisch sei. Normalerweise würden sie die Menschen entführen und die Siedlungen niederbrennen. Erwähnenswert ist auch der Vorfall mit den Rittern vom Regenfels und dem Trupp Imbrier, die Syr Madhur festnehmen wollten. Zum Glück kam es zu keinem Blutvergießen und er ist mit einem Trupp Getreuer davongeritten in Richtung Grüner Kessel. Ich erfuhr von den Imbriern, dass Syr Xardrus ermordet wurde und Syr Madhur in Verdacht steht, die Strippen zu ziehen. Syr Benesch erschien auf der Burgmauer. Ihm als Führer der ersten imbrischen Armee und Lichtbringer beugten alle ihr Haupt. Er entkräftete die Auseinandersetzung zwischen den askalonischen und imbrischen Rittern, konnte aber nicht verhindern, dass ein Trupp imbrischer Soldaten Syr Madhur und seinen Mannen hinterherjagte. Ich entschied mich, die Ritter vom Regenfels zu begleiten, um mich euch wieder anzuschließen. Toran wusste ich bei Gulim in guten Händen. Als wir die beeindruckende Burg erreichten – ich hatte sie nur einmal als Kind besucht und fand sie genauso faszinierend wie damals – war ich überrascht, dass sie eine Ausgangssperre verhängt hatten. Wir kamen rein, aber keiner durfte raus. Auf dem Weg zur Inneren Burg traf ich auf Syr Aschantus, der mich nach Madhur befragte. Ich erzählte ihm, was ich mitbekommen hatte. Er schickte mich in ein Gasthaus, das aber mehr wie ein Gefängnis auf mich wirkte. Ich machte es zwei Männern nach, die ebenfalls wieder aus dem bewachten Gasthaus entschlüpft waren und folgte ihnen bis an einen der Wasserkanäle, wo sie Waren in Langboote verluden. Das waren eben jene beiden, die uns jetzt helfen. Sie hatten keine Zeit bis zur Aufhebung der Ausgangssperre zu warten, da sie für einen Händler Waren aus der Stadt bis zu einem Schiff in der Martoss-Bucht bringen müssen. Ich machte mich auf die Suche nach euch und da kam mir dieser Knappe entgegen, der mir alles erzählte. Er war nicht in die Waffenkammer gegangen, wie ihr ihm aufgetragen hattet, sondern hatte heimlich Syr Aschantus belauscht, wie er seinen Leuten den Befehl gab, den ›Bund aus Blut & Feuer‹ zu verhaften. Ich versuchte mit ihm entlang eines Wasserkanals zur Inneren Burg zu gelangen und …. da kamt ihr mir entgegengeschwommen – die meisten zumindest. Während ich dich rausfischen konnte, schaffte es Maluna gerade noch, Urota aus dem Wasser zu ziehen. Trolle können wohl nicht schwimmen.«
Das andere Boot war direkt neben uns – Urota hatte – wie die anderen auch – Edwen aufmerksam zugehört und grunzte, »Ritter in Eisenrüstung auch nicht!«, während er leicht an unserem Boot wackelte und Saradar zu dem Notruf »Rettet unsere Seelen!« veranlasste.
»Auf jeden Fall haben uns Inisch«, der bärtige Mann drehte sich um und nickte mir freundlich zu, »und Haab, der Halbgjölnar da drüben, mitgenommen. Ihr Kapitän sucht ein paar tüchtige Seeleute.«

Wir trieben eine Weile so dahin und nur ab und zu mussten die Ruder eingesetzt werden, um uns von den Felsen am westlichen Ufer weg zu bringen. Die Ostseite wurde von einem dunklen Wald gesäumt, dessen knorrige Äste und Zweige weit über den Fluss ragten. Nur ab und zu wurde er von einer lichten Stelle unterbrochen, an der ein Bach in den Regenarm mündete. Inisch erhob irgendwann seine Stimme: »Wir kommen bald an eine Stelle, an der wir anlanden müssen, weil der Fluss sich plötzlich zu einem kleinen See verbreitert und das Wasser zu seicht wird für die Boote. Macht euch auf nasse Füße gefasst!«

Der Fluss machte einen Bogen und im Scheine Zamas erkannten wir bereits von weitem die angekündigte Furt. Maluna hob die Hand, sie hatte etwas gehört: »Ich höre Hufschlag!«
Tarquan nickte: »Ja, das sind ein halbes Dutzend Pferde – Dreischlag mit Pause – sie reiten im Galopp!«
Inisch trieb uns an: »Erhöht die Schlagzahl. Wer weiß wer das ist, vielleicht eine Räuberbande! Wir müssen versuchen, vor ihnen an der Furt zu sein und schnell übersetzen!«
Die Ruderer gaben ihr bestes, und tatsächlich schafften wir es, weit vor dem Reitertrupp anzukommen. Die Pferde waren in den Trab zurückgefallen und der vorderste Reiter rief nach uns. Es war eine Frauenstimme, wir konnten nicht verstehen, was sie rief, doch wir erkannten, dass es die Stimme von Galinea war. Wir entschlossen, sie herankommen zu lassen. Die Anführerin stieg von ihrem Pferd und ging auf uns zu. Im Mondlicht konnte ich ihren Gesichtsausdruck erkennen, der freundlich wirkte: »Braucht ihr Hilfe?«
Sie nickte ihren Männern zu, die ebenfalls von ihren Pferden abstiegen und uns beim Tragen der Langboote halfen.
»Ihr seid Torans Freunde, also auch meine Freunde. In Regenfels suchen sie nach euch, aber das wisst ihr ja offensichtlich. Ich schicke ein paar Männer los, damit sie eine falsche Fährte für die imperialen Soldaten legen. Ich soll auf euch aufpassen. Euer Freund Lyr wird auch mitkommen.«
Auch zwei weitere ihrer Männer stiegen in die Boote. Die Seeleute waren zunächst etwas überrascht über die Neuankömmlinge, trauten sich aber nicht, weitere Fragen zu stellen.
Hinter der Furt nahmen die Boote wieder an Fahrt auf. Die Seeleute kannten die gefährlichen Stellen des Flusses. Unter ihrem Kommando konnten wir die Stromschnellen gut umschiffen.

Es wurde langsam hell am Horizont, der Morgen graute. Zu beiden Seiten des Flusses zwitscherten die Vögel. Plötzlich ein Leuchtstreifen am Ufer. Schnell wie eine Libelle war ein glitzerndes Etwas kurz über den Fluss geschossen, um dann wieder im Schilf zu verschwinden. Myk fragte erschrocken: »Was war das?«
Anneliese grinste: »Ich weiß es – verrate es euch aber nicht, da ihr es sowieso nicht glauben würdet!«
Die Luft wurde feucht und salzig. Inisch schnupperte und bemerkte vergnügt: »Ah, Seeluft, wie ich sie liebe! Es ist nicht mehr weit!«
Mit salzigem Geschmack auf den Lippen landeten wir am Ostufer der Mündung des Regenarms. Vor einem hölzernen Kai war ein Schiff vertäut. »Eine Kogge«, wie uns Inisch erklärte, »sehr beliebt bei den Händlern, die die Küste von Oxysm bis hinauf in den hohen Norden befahren«. Am Kai herrschte emsiges Treiben. Seeleute rollten über Holzplanken Fässer an Bord oder warfen Säcke an Deck. Aus einer kleinen Hütte trat ein breitschultriger Mann mit einem Walrossbart, der tief die morgendlich frische Seeluft inhalierte. Er trug einen dicken Seemannsmantel mit Goldknöpfen und seine Stiefel waren auf Hochglanz poliert, sodass sich die ersten Sonnenstrahlen darin spiegelten.
»Willkommen! Ich bin Kapitän Haldart und das ist mein Schiff, die ›Sturmkönigin‹!«
Einige der Männer fingen an zu tuscheln, als Inisch vor den Kapitän trat und auf uns zeigte zeigte: »Ich denke, ich hab' ein paar geeignete Matrosen gefunden!«
Edwen flüsterte, sodass es die Seeleute nicht hören konnten: »Ich fürchte, wir können uns für eine Weile in Askalon und Imbrien nicht blicken lassen. Der Bund aus Blut und Feuer wird wegen Mordes am Hochfürsten gesucht! Vielleicht können wir an Bord dem Ganzen erst einmal aus dem Weg gehen.«
Ich erwiderte ihm leise: »Aber der Mörder Deodan ist doch tot!«
Myk zog plötzlich unsere ganze Aufmerksamkeit auf sich.
»Schaut mal her!«
Er hatte den Beutel, den er von Wunnar erhalten hatte, genauer untersucht und zog ein gefaltetes Stück Papier daraus hervor. Er reichte es Edwen, der das Blatt entrollte -
»Ein Brief!« - und uns vorlas.

Hört zum letzten Mal, Ihr Krieger vom Bund aus Blut und Feuer, die Worte eines Toten. Mögen mir die Götter meine Taten vergeben und möge Mortarax mir den gerechten Weg weisen. Ich bin mir sicher, dass Ihr jetzt auf der Flucht seid. Ich hoffe, dass Ihr alle überlebt habt. Ihr wart meine letzte Karte, die ich ausspielen konnte, um auch an Deodan Rache zu üben.Ihr fragt Euch sicher, warum ich all diese Menschen getötet habe. Nun, ich will es Euch erzählen. Alles begann vor etwa drei Jahren, als sich die Schlinge der Ul'Hukk um Chiram, unsere schöne Stadt Chiram, die ja auch für einen Teil von Euch Heimat war, immer enger zuzog. Ich war damals der Hauptmann der Stadtwache und sollte mit den wenigen Männern, die mir zur Verfügung standen, die Stadt verteidigen. Wir konnten zum Glück viele Freiwillige gewinnen und sie notdürftig ausbilden. Auch sollte uns ein großes Heer aus askalonischen und imbrischen Truppen bald erreichen. Als sie eintrafen, wurde ich zum Kriegsrat berufen. Syr Xardrus hatte den Oberbefehl. Er hatte mit Syr Deodan und Syr Zaran sowie dem einfallsreichen Radex einen Plan ersonnen, wie sie die Tekk vernichtend schlagen wollten. Teil des Plans war es, dass nur ein kleiner Teil der Truppen in der Stadt selbst bleiben sollte, während der Großteil der Armee, insbesondere die Reiterei, den Tekk in den Rücken fallen sollte, sobald der Angriff im Gange war. Ich war der einzige, der Zweifel anmeldete. Chiram hatte keine dicken Verteidungswälle, die den Ul'Hukk lange stand halten konnten, ich befürchtete viele Opfer und forderte eine Verstärkung der Truppen vor Ort. Doch die anderen überstimmten mich. Ich erhielt dreißig Männer zur Verstärkung der Garnison – gerade einmal dreißig Männer! Es kam, wie es kommen musste. Während sich die hohen Paladine und Hochwohlgeborenen zurückzogen und in ihrem Feldlager lange Kriegsrat hielten, war die Zeit für eine Räumung von Chiram abgelaufen, die Tekk hatten die Stadt eingekesselt und dann - fielen sie wie die Bestien über uns her. Sie hatten Ogrens dabei, die in wenigen Augenblicken zwei Breschen in unsere Mauern geschlagen hatten. Die grauhäutigen Bestien aus Ultar strömten wie Ameisen in unsere Stadt. Meine Männer der Stadtwache kämpften tapfer – doch sie fielen wie die Fliegen. Es war hoffnungslos. Ich wollte meine Familie in Sicherheit bringen – doch zu spät – unser Haus stand in Flammen. Ich hatte sie zu ihrer Sicherheit im Keller untergebracht, wo sie sich verbarrikadieren sollten – mein geliebtes Weib Ella, meine drei Söhne und meine einzige Tochter! Jetzt wurde der Keller zu ihrer Todesfalle. Ich hörte ihre Schreie und ich konnte nichts mehr für sie tun. In meiner Verzweiflung wollte ich selbst verbrennen, doch die Hilfeschreie des Bäckers und seiner Familie erinnerten mich an meine Pflicht – den Schutz der Bürger! Uns gelang die Flucht und schließlich kam ich zur Bruderschaft der Gekreuzten Schwerter, in der ich wahre Freundschaft fand. Aber wütend und enttäuscht wuchs in mir das Verlangen, mich an denen zu rächen, die für den Tod meiner Familie verantwortlich waren. Während meiner Zeit auf der Wegburg schmiedete ich den Plan, wie ich die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen könnte.Das Gift, ja das Gift. Ihr wollt sicher wissen, wie ich daran gekommen bin. Gift ist die Waffe einer Frau heißt es immer, und tatsächlich stammte es von meinem Weib Ella. Sie war eine wunderbare Heilerin, die sich auch mit Giften auskannte. Ich trug die Bitteressenz immer bei mir in meiner Feldflasche, für den Fall, dass ich einmal in tekkische Gefangenschaft geraten sollte und mir so ein Ausweg blieb, um nicht lebendig an einem Fleischhaken zu enden. Es war eine besondere Flasche – indem ich am Mundstück drehte, konnte ich zwischen Gift und Schnaps wählen.Auch ich habe den Tod verdient - ich hätte meiner Familie beistehen müssen und habe sie doch durch meinen Rat in eine Todesfalle gebracht.Um den Heiler und den Notor tut es mir aufrichtig leid. Sie waren kurz davor, mich zu überführen, auch Radex hatte die Bitteressenz gerochen. Meine Rache war noch nicht vollendet. Dieser Lorgrim - er musste mich beim Mord an Fjalgur beobachtet haben – er war bloß ein Dieb – bevor er reden konnte, habe ich ihn mit einer Armbrust ausgeschaltet. Der Notor hatte einen Brief aus Medea erhalten, der mir gerade recht kam, da er euch schwer belastete und auch Deodan schließlich gegen Euch aufgebracht hat. Ihr wart das Werkzeug meiner endgültigen Rache!Wohlan denn, Ihr tapferen Helfer und Helden! Mögen Euch Eure Tage noch viel Segen, Ehre und Reichtum bescheren, auf mich wartet nur noch die bittere Finsternis auf dem Boden meiner Flasche.
Syr Wunnar, Hauptmann der Stadtwache von Chiram.

Donnerstag, 7. März 2019

Der letzte Tanz - Kapitel 12: Das Kabinett der Bestien

Wir hatten den hohen Regenturm bereits einmal umrundet und außer dem Treppenaufgang, der zum Haupteingang führte, keinen weiteren Eingang auf der Bodenebene entdeckt. Bei der zweiten Umrundung achteten wir auf die Steine. Tatsächlich, ein Stein sah locker aus. Saradar zögerte nicht lange und drückte drauf, Widun und Urota duckten sich instinktiv. Doch statt eines schwingenden Hammers öffnete sich eine Geheimtür. Fackeln an den Wänden erhellten die dahinterliegende Kammer. Auf dem Boden befanden sich Platten mit seltsamen Symbolen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums befand sich eine offene Tür.
»Was sind das für Symbole?«, fragte Freya in die Runde. Urota zuckte mit den Schultern, Widun kratzte sich am Kopf - Saradar trat auf die erste Platte – und die gegenüberliegende Tür fiel zu. Er ging zurück auf die Schwelle – und die Tür öffnete sich wieder. Er probierte eine andere Platte aus – die Tür blieb offen. Beim nächsten Schritt schloss sie sich wieder. Widun verfolgte das Muster aufmerksam: »Ein Runenrätsel! Das Geheimnis muss in den Runen selbst liegen! Saradar, tritt noch einmal auf die Platte, bei der die Tür offen geblieben ist!«
Saradar ließ sich dirigieren.
»Und jetzt auf die nächste vor dir!« - Tatsächlich blieb die Tür offen.
Widun strahlte über beide Backen: »Es sind vier verschiedene Runen, jede steht für eine Richtung, und zwar die Richtung, in die der nächste Schritt erfolgen muss.«
Er leitete Saradar entsprechend an und wir folgten, einer nach dem anderen, in den Fußstapfen des Barbaren.

Hinter der Runentür wand sich eine lange, breite Treppe in die Tiefe. Sie endete in einer großen Halle, die durch ein Loch in der Decke nur spärlich ausgeleuchtet wurde. Überall tropfte es von der Decke. Der Boden glänzte feucht, wir mussten aufpassen, nicht auszurutschen. Irgendwo musste ein Loch im Boden sein, da von unten her immer wieder ein starker, kalter Luftzug durch die Halle pfiff. Alle möglichen, nicht-menschlichen Geräusche drangen plötzlich an meine Ohren. Nach kurzer Gewöhnung an die schlechten Lichtverhältnisse erkannte ich rostige Gitterstäbe.
»Ein Gefängnis!«, vermutete Anneliese. »Das sind Zellen, und in den Zellen ...«
In der ersten saß ein kleiner, pelziger Geselle - »Ein Kobold?« - in der zweiten ein Wesen mit glänzender, schuppiger Haut und in der uns gegenüberliegenden erkannte ich die Umrisse eines Ogrens. Es war Gorrym, gegen den Urota gekämpft – und verloren hatte. Als er uns kommen sah, sprang er fauchend auf und hämmerte gegen die Gitterstäbe. Saradar brachte es auf den Punkt: »Das dunkle Geheimnis des Hochfürsten – das Bestienkabinett.«

Ein lautes Rattern übertönte plötzlich die Kakophonie der Bestien. Auf der gegenüberliegenden Seite des Bestienkabinetts wurde ein Fallgitter hochgezogen. Sechs Soldaten strömten hindurch und bauten sich vor uns in zwei Gefechtsreihen auf.
»Ihr seid gekommen, um die Sache zu beenden. Das hätte ich Euch nicht zugetraut. Glaubt nicht, dass wir es Euch leicht machen! Beim Blute Askalons, Angriff!« - Das war Deodans Stimme, die da aus dem Schatten heraus seine getreuen Soldaten in den Kampf schickte.

Saradar brüllte einen Schlachtruf – dessen vom Echo verstärkte Wirkung die Bestien für einen Augenblick verstummen ließ und trommelte sich mit den Fäusten auf die Barbarenbrust.
Vivana und Tarquan versuchten, sich im Schatten hinter die Angreifer zu schleichen – doch da geschah das Unglück. Ich hörte wie Pferd erschrocken aufschrie und bekam gerade noch mit, wie Vivana ihren Geliebten reflexartig am Arm erwischte, bevor dieser in ein Loch im Abgrund gestürzt wäre. Sie versuchte ihn heraufzuziehen, rutschte dabei aber auf dem glatten Boden aus und schlug mit dem Hinterkopf gegen den Treppenabsatz. Vivanas Hilfe reichte dem Söldner jedoch, um sich am Rand des Lochs hochzuziehen. Er beugte sich sofort über die besinnungslose Jujin-Diebin und kümmerte sich besorgt um sie, was für uns den Verlust zweier Kämpfer auf einen Schlag bedeutete.

Drei der askalonischen Soldaten waren mit Langbögen ausgerüstet und hatten durch die Lücken der ersten Reihe auf uns angelegt. Wir suchten Deckung – so gut das in der Halle möglich war – und die Pfeile zischten an uns vorüber. Freya versuchte die Gegner mit »Okului privo« zu blenden, wurde aber von Alun nicht erhört. Während Widun einen Trinkspruch an den Schratenherrn richtete, warf ich die Wunderbohne zu Boden. Wie erhofft erwuchs aus ihr der »Bohnenmann«. Ich betete um Unterstützung durch einen Waldgeist und wurde von Ianna erhört. Der Waldgeist verschmolz sogleich mit dem Bohnenkörper.
Auch Widuns Gebet wurde schließlich erhört. Aus den Ritzen der Bodenplatten trat ein Nebel, der sich zu einem geisterhaften Gebilde formte, das entfernt an einen Schraten mit geweihartigen Hörnern erinnerte.
»Das ist mein Schraten-Ururururgroßvater Waruin, und er wird für uns kämpfen!«, rief uns Widun zu.
Der »Schratenahn« wurde sogleich von zwei askalonischen Soldaten beharkt und wehrte sich mit einer Schlagwaffe, die man – so wurde mir später erklärt - »Bengel« nennt.
Die Bogenschützen hatten sich Urota als Zielscheibe ausgesucht und schossen auf ihn – vorbei. Maluna hingegen war treffsicherer und erwischte einen der Bogenschützen.
Mein Bohnenmann war zum Leben erwacht, richtete sich zu voller Größe auf und schritt trotzig Deodans Getreuen entgegen. Urota und Saradar nutzten die Deckung, die ihnen Iannas Geschöpf vor den Bogenschützen bot und reihten sich hinter ihm ein. Anneliese fuchtelte wild mit ihren Armen durch die Luft und schoss einen doppelten Flammenstrahl auf einen der Soldaten, der sich jedoch in Deckung werfen konnte und so mit leichten Verbrennungen davonkam.

Der Schratenahn hatte sich unterdessen mit einem Kampfschrei mitten ins Getümmel gestürzt und schlug wie wild um sich. Wenn er mit seinem Bengel zuschlug, schien er fast real zu sein, um dann sofort wieder in einen durchsichtig-leuchtenden Zustand zu wechseln. Die Hiebe der askalonischen Ritter konnten ihm aber wohl doch etwas anhaben - obwohl man ihm das bis auf ein Schwächerwerden seines Leuchtens nicht anmerkte - er war ja immerhin schon eine Weile tot.

Anneliese schoss erneut einen Flammenstrahl ab und auch Maluna traf mit einem Pfeil.
Deodan wägte sich hinter seinen Soldaten in Sicherheit. Ob sie ihm weiter so treu ergeben wären, wenn wir ihnen verraten hätten, wofür ihr Anführer verantwortlich war? Doch für Gespräche war die Zeit abgelaufen. Ich betete an Ianna, ein großer Dorn schoss hinter der Schlachtreihe aus dem Boden und traf den mutmaßlichen Mörder.

Tarkin hatte es auf die Weichteile seines Gegners abgesehen. Er versuchte ihm in den Unterleib zu schlagen – sein Hieb glitt jedoch an der eisernen Schamkapsel ab. Der Koboldritter musste sich unter dem Gegenschlag wegducken.

Tarquan hatte Vivana in Sicherheit gezogen und war gezwungen, selbst in den Kampf einzugreifen. Er versuchte, hinter die Gegner zu kommen. Saradar traf einen der askalonischen Soldaten mit einem Doppelschlag. Der Bohnenmann duckte sich unter dem Schwerthieb eines Angreifers weg, dafür wurde der hinter ihm stehende Urota getroffen. Schwarzes Trollblut quoll ihm aus einer Wunde an der Brust – Widun scheiterte beim Versuch, ihn zu heilen. Auch seine Bitte an Mnamn, die Feinde in einen Lachanfall zu versetzen, schlug fehl.
»Irgendetwas stimmt hier nicht, warum erhören uns die Götter nicht?«, fragte er verzweifelt. Mir fiel auf, dass alle Soldaten seltsame Amulette trugen, ob es damit etwas zu tun hatte? Auch Ianna gewährte mir keinen weiteren Dornenstich, der Schratenahn schlug vorbei und »Puff!« war er weg.
»Bis bald mal wieder, Uropa!«, rief ihm Widun noch hinterher.

Tarquan und der Bohnenmann wurden von den Soldaten schwer verletzt. Saradar hingegen schaffte es, einen der Soldaten zu Boden zu ringen. Der Rest der Soldaten einschließlich Deodan rückte enger zusammen, um die Verteidigung zu stärken. Saradar sprang mitten hinein und köpfte einen der Gegner mit seinem vorpalen Bastardschwert. Der stark lädierte Bohnenmann verwandelte sich wieder zur Bohne zurück und sprang in meine Hand. Der verdutzte Waldgeist verschwand mal wieder ohne Abschiedsgruß.

Syr Deodan hatte es auf Anneliese abgesehen, doch sie streckte ihre Arme aus - als wollte sie sagen»Nicht mit mir!« und schickte ihm einen Flammenstrahl entgegen, der ihn in einen Feuerball verwandelte. Er sprang vor Schmerzen kreischend durch die Halle und sank schließlich als Häufchen äschernen Elends zu Boden.

In der Hitze des Gefechts hatten wir ganz aus den Augen verloren, was um uns herum im Bestienkabinett vor sich ging. Der Hochfürst war durch das Falltor getreten und machte sich an einem Hebel an der Wand zu schaffen. Quietschend öffneten sich alle Zellentüren – die Bestien waren frei!
Er versuchte, zu seiner Tochter zurück zu humpeln - sie war gerade im Torbogen aufgetaucht - rutschte in der Eile aber aus und schlug unsanft mit dem Kopf auf den Boden.
Der freigelassene Ogrens ging mit großen Schritten auf den eingetrübten Hochfürst zu und schleuderte ihn - unter dem entsetzten Blick der Fürstentochter - mehrfach gegen die Steinwände. Er ließ ihn leblos liegen und ging dann auf Firnja los. Zum Glück hatte jemand das Fallgitter heruntergelassen, sodass sie vor ihm in Sicherheit war.

Unterdessen hallten Rufe und laute Schritte von der Turmtreppe herab. Syr Aschantus stürmte einer Gruppe imbrischer Soldaten voran. Sie stellten keine Fragen, als sie den toten Hochfürsten und den freien Ogrens sahen, sondern fingen sofort an auf alles zu schießen, was sich noch im Bestienkabinett befand.

Ich betete an Ianna, als der Ogrens auf mich zugetrabt kam. Und tatsächlich gelang es mir mit Hilfe der Erdgöttin, Kontrolle über ihn zu erhalten. Ich besänftigte ihn soweit, dass er von uns abließ. Einer der Freigelassenen, ein Schattentroll, war sofort auf Urota losgegangen. Dieser empfing ihn mit seiner Langaxt und machte kurzen Prozess.

Aus der Klemme zwischen Askaloniern, Monstern und dem Pfeilregen der imbrischen Soldaten mussten wir einen Ausweg finden. Der befreite Kobold winkte uns: »Hier lang, da unten ist ein Kanal!«
Er sprang in das schwarze Loch und beschwor dabei die Paladine der Ängstlichkeit »Beim Hasenfuß!« - wohl um sich Mut zu machen.
Ein Pfeil zischte knapp an mir vorüber – mit einem mulmigen Gefühl im Magen sprang ich dem Kobold hinterher - »Bei Anxiaaaaaa!«

Ich musste mir beim Fallen in den Wasserkanälen irgendwo den Kopf angestoßen und das Bewusstsein verloren haben. Als ich wieder zu Sinnen kam, saß ich hinter Edwen in einem Langboot.
»Wo kommst du denn her?«, fragte ich ihn verwundert.
»Das muss ich dich fragen, ich habe dich nasses Eichhörnchen gerade aus dem Kanal gezogen!«, lachte er.

Sonntag, 3. März 2019

Der letzte Tanz - Kapitel 11: Die Litanei des Todes

Wir folgten dem Gang in die Richtung, aus der wir den Schrei vernommen zu haben glaubten. Es war das hohe und schrille Kreischen einer Frau gewesen. Drei Steintreppen später standen wir im Obergeschoss des Gebäudes. Am Ende des Ganges war der Übergang zum Vermählungsturm. Zahlreiche Soldaten hatten sich dort versammelt. Der Waffenmeister war darunter – er wurde von einem Soldaten gestützt, hielt sich den Hals und hustete. Beim Näherkommen bemerkte ich, dass er einen ganz roten Kopf hatte. Aus der Turmtür drang ein schluchzendes Weinen und Jammern. Zwei Soldaten mussten die hysterische Firnja festhalten, der es in ihrer weinerlichen Verzweiflung gleich war, ob ihre Blöße bedeckt war. Neben dem großen Himmelbett lag ihr Bräutigam – nackt und rot. »Gift!«, folgerte Vivana sogleich.
»Weg, weg! Geht mir aus den Augen, alle!«, der Hochfürst kam herangestürmt und drängte uns zur Seite. »Schafft mir diese Gaffer – und diesen Wolf – was hat hier ein Wolf zu suchen? Schafft sie weg, sofort!« Damit waren wir gemeint. Ein Soldat trat nach mir – als ich ihn anknurrte, richtete er seine Hellebarde auf mich: »Ihr habt den Hochfürsten gehört, verschwindet!«
Der schockierte Notor rief uns nach, uns in einer Stunde in der Gaststätte zu treffen.

»Die arme Firnja, schluchzend und kaum verständlich brachte sie heraus, dass sich Zaran plötzlich an den Hals gefasst habe und nur noch sagen konnte, dass er keine Luft mehr kriege. Dann sei er hingefallen und nicht mehr aufgestanden. Wie bei Xardrus war seine Haut rot gefärbt und die Zunge hing ihm aus dem Hals. Radex hatte auf einem Stuhl vor dem Schlafgemach Wache gesessen und kam direkt hineingestürmt. Es habe nach Bitterknollen gerochen und er habe Firnja gerade noch von ihrem Bräutigam wegreißen können, bevor auch sie dem Gift zum Opfer gefallen wäre. Er selbst hat aber so viel eingeatmet, dass er mittlerweile in seiner Kammer liegt und immer noch um Luft ringt, ich weiß nicht, ob er die Nacht überleben wird!«, berichtete uns Fjalgur.
»Das alles beweist doch, dass der Alchimist Lyr unschuldig ist, oder? Vielleicht kann er Radex helfen und ein Gegenmittel herstellen!«, stellte Vivana fest.
»Ihr habt recht, ich werde es sofort veranlassen. Wenn er bereit ist, dem Waffenmeister zu helfen, ist er ein freier Mann.«
Eine Wache trat herein: »Ein eiliger Brief für den Hochfürsten, Notor!«
Fjalgur nahm ihn ungeöffnet entgegen und verabschiedete sich: »Entschuldigt, der Hochfürst hat sich mit seiner Tochter in eine geheime Kammer zurückgezogen. Ich muss solange seine Geschäfte führen, bis alles aufgeklärt ist. Sucht bitte nach dem Gift und findet den Mörder! Wendet Euch an Syr Aschantus, wenn Ihr etwas braucht. Die Innere Burg ist aus Sicherheitsgründen erst einmal für alle Fremden gesperrt, auf Anweisung von Syr Vardek.«

Lyr wurde aus seiner Zelle entlassen. »Ich brauche meine beschlagnahmten Sachen, wenn ich dem Waffenmeister helfen soll«, verlangte der junge Alchimist von den Wachen. Und tatsächlich brachten sie ihm seine Ausrüstung in eine Kammer im Bereich der äußeren Regenburg. In der Mitte des Raums stand ein Athanor, ein alchimistischer Ofen, wie uns Lyr erklärte.
»Der Notor hat verfügt, dass Ihr sein alchimistisches Laboratorium benutzen dürft, um ein Gegengift herzustellen. Eine Wache wird vor der Tür verbleiben und Euch im Blick behalten«, erklärte der Ranghöchste der Stadtwachen.
Lyr kramte ein Buch hervor. »Ah, mein Libello Loris Toxikis«, erklärte er, während er es eilig durchblätterte. »Hier steht es: Gegengift für Bitteressenz – Intensiv überschwefeltes Sauersalz. Ich brauche verschiedene Gerätschaften: einen Mörser mit Pistill, Phiolen dreier Größen und ...« - er blickte sich im Laboratorium um - »blaues und rotes Sauersalz. Hier ist der Schlüssel zu meiner Truhe. Sie steht noch in unserem Zelt neben dem Turnierplatz. Ihr erkennt es am Symbol der ›Roten Klingen‹. Beeilt Euch und bringt mir die Sachen hierher – dem Waffenmeister läuft die Zeit davon! Ich werde schon einmal den Athanor anheizen. Ich habe keinen Sulfo Vulkanos, äh, Schwefel ...«
Widun hatte eine Idee: »Vielleicht gibt es hier einen Winzer, die verbrennen doch Schwefel, um ihre Fässer zu reinigen!«
Vivana wollte sich um die Gerätschaften und Reagenzien aus der Truhe kümmern. Widun zog los, einen Winzer zu finden.
Freya sprang auf meinen Wolfsrücken und ich lief zur Kammer des Waffenmeisters, die sich in einem Turm der äußeren Burg befand, wie uns der Notor erklärt hatte. Vielleicht konnten wir ihm mit göttlicher Unterstützung helfen. Radex lag schwitzend auf seinem Bett, er atmete keuchend und murmelte vor sich hin. Eine Magd und ein junger Mann machten ihm feuchte Umschläge.
»Bitter, bitter … ich weiß es, ich weiß es!«, schrie er plötzlich im Delirium.
Der junge Mann blickte uns verwundert an. »Mein Name ist Freya, ich bin eine Priesterin des Alun und das hier ist Finn, ein Faundruide in Wolfsgestalt. Wir möchten für den Waffenmeister beten. Unsere Gefährten und der Alchimist Lyr versuchen ein Gegengift herzustellen.«
»Mein Name ist Myk«, stellte sich der pausbäckige Knabe vor. »Ich bin .. vielmehr war der Knappe von Syr Zaran … bevor, bevor«, eine Träne kullerte ihm die Wange herab.
»Jetzt stehe ich in Diensten des Waffenmeisters.« Er erneuerte gerade die Wadenwickel.
»Er hat Wahnvorstellungen und schreit die ganze Zeit«, erklärte er uns.
Freya legte ihm die Hand auf und betete an den Sonnengott. Ich legte mich ihm in Wolfsgestalt zu Füßen. Radex beruhigte sich daraufhin etwas, aber ohne ein Gegenmittel würde er die Nacht nicht überstehen.
Waffenmeister Radex.
Es kam uns wie eine Ewigkeit vor, obwohl in Wirklichkeit keine Stunde vergangen sein konnte, bis ein großer Hügeltroll die Tür für eine kleine Kobolddame öffnete. Anneliese trug eine Phiole mit violetter Flüssigkeit wie ein rohes Ei in beiden Händen vor sich her. Gespannt beobachteten wir, wie sie dem ohnmächtigen Radex das Gläschen an die Lippen hielt. Mit ein paar Tropfen benetzte sie ihm erst die Lippen und als er daraufhin den Mund etwas weiter öffnete, goss sie ihm mehr davon auf die Zunge. Er schluckte, hustete und schluckte wieder. Die Falten der Anspannung auf seiner Stirn verschwanden und er sank mit einem Schluchzen in den Schlaf.
»Es scheint zu wirken!«, freute sich der Knappe. »Er schläft jetzt. Vielen Dank für Eure Hilfe. Ich werde bei ihm bleiben und mich um ihn kümmern, ihr könnt gerne zu Bett gehen«, bot uns Myk an.

Die Mitternachtsstunde war vorbei. Wir hatten gerade unsere Zimmer in der Gaststätte betreten, als Hornstöße von der Inneren Burg herunterschallten. Wir stürzten hinaus auf die Gasse und rannten in Richtung des Wassergrabens. Die Brücke und die angrenzenden Gassen waren leer in den späten Nachtstunden. Eine dunkle Gestalt hastete die Treppen der Inneren Burg herab, Pfeile zischten an ihr vorbei. Im Mondschein Lors hoben sich die Silhouetten mehrerer Bogenschützen gegen den Nachthimmel ab, die auf den Fliehenden angelegt hatten. Im Licht der schwankenden Brückenlaternen konnte ich dann erkennen, wer da um sein Leben lief. Es war Lorgrim, der da versuchte, über die Brücke zu kommen. Er stolperte, stürzte und blieb auf dem Rücken liegen, sich vor Schmerzen krümmend. Ein Pfeil hatte sein linkes Bein durchbohrt.
Saradar rief: »Halt, hört auf zu schießen! Wir haben ihn!« Tatsächlich verschwanden die Schatten zwischen den Zinnen. Widun und ich knieten uns zu Lorgrim hinab. Mir fiel auf, dass er eine große Leinentasche über der Schulter trug. »Das Buch … ihr müsst es ...«, ächzte er. Sein Blick war angsterfüllt, Schweiß rann ihm von der Stirn.
Dann ging ein Ruck durch seinen Körper. Ein Bolzen ragte aus seiner Brust.
»Wer hat da geschossen?«, wunderte ich mich, während Syr Aschantus und einige Wachsoldaten die Treppe heruntereilten. Lorgrim röchelte, schaumiges Blut quoll aus seinem Mund und er tat seinen letzten Atemzug. Vivana machte sich an der Tasche zu schaffen und zog ein seltsames Buch heraus. Es war in dickes, altes Leder eingebunden, in das seltsame Glyphen eingeprägt waren, das Messingschloss in Form einer Spinne war versiegelt.
»Hier schaut eine Seite raus!«, fiel Anneliese auf. Sie zerrte daran mit aller Kraft, bis sie nach hinten umfiel. »Hier ist sie! Zumindest ein Teil davon ...«, vermeldete sie strahlend und ließ den Papierfetzen schnell in ihrer Tasche verschwinden, bevor der Paladin und seine Gefolgsmänner zu uns traten.
»Notor Fjalgur ist tot. Und das ist sein Mörder!«, er zeigte auf den toten Halbjujin.
»Er muss ihm das Buch gestohlen haben, das Ihr da in Händen haltet, Syr Kobold« - Anneliese hatte Tarkin das Buch gegeben und war in den Schatten getreten – nochmal wollte sie nicht riskieren, als Hexe verhaftet zu werden.
»Was ist passiert?«, fragte Widun bestürzt.
»Ich wollte mit dem Notor besprechen, wie wir weiter vorgehen. Ich fand ihn tot über seinem Pult liegen, auch er ist erdolcht worden! Aus einer dunklen Ecke sprang dann plötzlich dieser Kerl hervor und stürzte die Turmtreppen hinab. Jetzt haben wir ihn endlich, unseren Mörder!«
Aschantus schien sich sicher zu sein.
Ich erinnerte mich an die blutigen Fußspuren neben Waels Leiche und schnupperte an Lorgrims Stiefeln, konnte aber nichts feststellen. Dann schritt ich zu Aschantus, der mich verwundert ansah: »Wo kommt der Wolf her?«
Meine Gefährten erklärten es ihm.
»Wenn Du mal nicht mit den Dämonen des Abgrunds im Bunde stehst, Ziegen-Zauberer!«
Ich schnüffelte an seinen Stiefeln, roch aber auch hier keine Blutspuren. Vivana hatte die Leiche untersucht: »Ich kann die Mordwaffe nicht finden, er hat keinen Dolch bei sich!«
Syr Deodan trat aus einer Seitengasse, er hatte eine Armbrust in der Hand.
»Eine tolle Waffe, ich habe sie da drüben zwischen den Fässern gefunden!«, behauptete er.
»Aber wer hat sie abgefeuert?«, fragte Saradar in die Runde. Als Antwort kam nur ein Schulterzucken. Die Wachen waren mit normalen Langbögen ausgerüstet.
Deodan bekräftigte Aschantus' Ansicht: »Egal, wir haben den Attentäter. Es würde mich nicht wundern, wenn er von Madhur geschickt worden ist und wir irgendwo bei ihm auch Hinweise auf das Gift finden! Ich habe gehört, dass Ihr den Jujin besser kanntet?«
»Ist dem so?«, fragte der Paladin argwöhnisch. »Geht ins Gasthaus zurück. Ich habe vielleicht später noch ein paar Fragen an euch!«
Vier Soldaten trugen Lorgrims Leichnam davon. Deodan verabschiedete sich: »Ich werde den Hochfürsten unterrichten, dass die Gefahr vorerst gebannt ist.«

Wir befolgten die Anweisung des Paladins und machten uns auf den Rückweg zum Gasthaus. Ich verwandelte mich zurück. Tarkin kramte unterwegs das Buch hervor. Freya musterte die Oberfläche im spärlichen Licht der Laternen.
»Diese Zeichen sind mir völlig unbekannt, obwohl ich in der Bibliothek des Lichttempels alte Schriften studiert habe.«
Anneliese war ebenso ratlos: »Es sind auch keine magischen Symbole, damit kenne ich mich aus!«
Saradar und Vivana versuchten das Schloss zu öffnen, er mit Muskelkraft, sie mit Fingerfertigkeit und einem Dietrich - vergebens. Widun wies auf das Spinnensymbol hin: »Ich würde ein Fass Bier darauf verwetten – dieses Buch beinhaltet irgendeine Teufelei dieser Zurak-Kultisten!«
Maluna schlug vor, den Zirkel der Gelehrten zu Rate zu ziehen. Nach einem kurzen Nickerchen im Gasthaus, machten sich Maluna, Anneliese und Freya am frühen Morgen auf den Weg.

Es war bereits Mittagsstunde, als sie zurückkehrten. Die Wichtelpriesterin berichtete: »Nun ja, es lief alles zunächst ganz gut. Nach dem obligatorischen Rätsel ließ uns der alte Naharun hinein. Wir zeigten ihm das Buch und er wusste, dass Fjalgur es hatte und untersuchen wollte. Ein Fremder habe es bei ihm vor ein paar Monden zur sicheren Verwahrung abgegeben. Fjalgur habe Naharun erzählt, dass der fremde Krieger es einem mächtigen Hexenmeister gestohlen habe. Der Notor hatte Besorgnis, dass das seltsame Buch mit dem Siegel des Zurak Unglück über ihn bringen würde und sich bisher nicht getraut, es zu öffnen. Er vermutete, dass es sich nur mit Hexerei öffnen lasse, wer es mit Gewalt oder auf eine andere Weise wage, riskiere es, verflucht zu werden.«
»Dann hatten wir ja Glück letzte Nacht, dass es nicht geklappt hat! Und weiter?«, fragte ich neugierig wie ich war.
»Tja, und dann sind die Bücherregale umgekippt«, erklärte Maluna mit strengem Blick auf Anneliese. Die Koboldin zuckte mit den Schultern: »Kleines Ungeschick... Ich wollte nur mal sehen, ob sie magische Schriftrollen in der Halle der Bücher haben.«
Maluna ergänzte: »Ja, indem du auf das höchste Regal geklettert bist und es zum Kippeln gebracht hast.«
Freya legte nach: »Alle - ich betone - alle Regale sind umgekippt, eins nach dem anderen. Der Notor hat uns beschimpft und sogar nach den Wachen gerufen. Deshalb mussten wir uns aus dem Staub machen. Da können wir uns so bald nicht wieder blicken lassen.«

Ein Junge kam zur Tür des Gasthauses hereingestürmt. Der Schratenwirt donnerte ihn an: »Nicht so hastig mein Kleiner! Du erschreckst mir noch meine Gäste!«
Myk war außer Atem – er trat einen Schritt zurück, als er bemerkte, dass er direkt vor unserem Hügeltroll zum Stillstand gekommen war: »Der Waffenmeister ist zu sich gekommen. Er möchte sich bei Euch bedanken und hat etwas sehr Dringendes mit Euch zu besprechen. Ihm ist eingefallen, bei wem er schon einmal diese Bitteressenz gerochen hat.«

Wir ließen das Mittagessen stehen und folgten dem Knappen rüber zum Turm an der äußeren Mauer, in dem der Waffenmeister sein Quartier hatte. Knarrend öffnete sich die Tür – hier stimmte etwas nicht. Der Waffenmeister lag rücklings in seinem Bett und rührte sich nicht. Er hatte die Augen weit aufgerissen, eine Hand war seltsam verkrampft. Als wir das Laken zurückschlugen sahen wir, was los war. Radex hatte links vom Brustbein ein klaffendes Loch, aus dem Blut die Strohmatratze durchtränkt hatte. Myk schrie auf und wich zurück. Saradar öffnete die verkrampfte Hand. Auf dem Handballen fand sich der blutige Abdruck eines Schwertes vor einem Kessel und einer Burgmauer. Myk erkannte das Symbol sofort: »Das ist das Wappen von Chiram! Der gefallenen Stadt im Grünen Kessel!«
Vivana hatte es auch schon einmal gesehen: »Ein Kessel mit einem Schwert, dieses Wappen führt doch auch Syr Deodan!«
Widun fiel auch etwas dazu ein: »Die ›Roten Klingen‹ kommen doch auch alle aus dem Grünen Kessel!«
Wir hörten Schritte. Anneliese schaltete schnell: »Wir müssen hier weg! Die werden uns verdächtigen!«
Myk zeigte auf die gegenüberliegende Tür: »Da geht’s raus auf den Wehrgang. Von da aus können wir eine Leiter runtersteigen! Ich habe den Schlüssel zu Radex' Kammer, ich werde schnell die Tür von innen verriegeln.«
Nachdem wir unbemerkt die Leiter hinabgestiegen waren, spekulierte Vivana laut: »Und wenn Deodan hinter allem steckt, will er uns vielleicht als Schuldige präsentieren! Sein letzter Sündenbock Lorgrim kommt ja nicht mehr in Frage!«
Myk nickte und erzählte: »Deodan war unheimlich sauer auf den Heiler Wael, weil er meinen Herrn Syr Zaran an seiner Statt behandelt hat. Er konnte nicht gegen den Tekkgeneral antreten und wurde so um seine Rache gebracht. Syr Xardrus strich den Ruhm dafür ein. Ich hörte wie er sich bei seinem Freund Syr Madhur darüber aufregte. Ich bin mir auch sehr sicher, dass er einen Dolch hat, auf dessen Knauf sich so ein Wappen befindet. Ich habe es bei vielen Soldaten aus dem Grünen Kessel gesehen und bewundert. Falls sie uns schnappen, kann ich bezeugen, dass ihr nicht für Radex' Tod verantwortlich seid, ihr habt ihm ja sogar das Leben gerettet. Aber mir als halbem Kind werden sie bestimmt nicht glauben!«

Vivana zeigte auf das geheimnisvolle Buch, das Anneliese unter dem Arm trug: »Was machen wir mit dem Buch? Wenn sie uns schnappen, fällt es vielleicht in falsche Hände!« Anneliese klammerte es an sich: »Ich möchte es behalten, aber, aber … Was, wenn es wirklich verflucht ist und ich auch so ende wie der arme Notor!«
Ein Ausdruck von Panik trat in ihr Gesicht. Wir kamen am Gebäude mit dem Eulenschild vorbei. Anneliese war zurückgeblieben, wir blickten uns um. Sie hatte doch tatsächlich das Buch durch einen Schlitz in der Tür gesteckt.
»Ich hoffe, die alte Eule passt gut darauf auf!«
Vivana schüttelte den Kopf: »Ohne Worte!«
Hinter uns aufgeregte Rufe. Raschen Schrittes - Rennen wäre zu auffällig gewesen - gingen wir zur Brücke über den inneren Wassergraben. Wir waren entschlossen, Deodan zur Rede zu stellen und ihn als Mörder zu entlarven.

Der Hochfürst hatte nach der Entwarnung letzte Nacht den Aufgang zur inneren Burg wieder freigegeben. Den einzigen Wachmann an der Brücke hatte Maluna so in ihren Bann geschlagen, dass er den Rest der Gruppe gar nicht beachtete. Wir konnten ungehindert bis zum Vorhof der inneren Burg gelangen.
Im Schatten des Regenturms sahen wir eine Gestalt am Rande eines Brunnens sitzen. Sie hielt eine Flasche in der Hand und hatte ein Lied angestimmt. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte ich in ihr den alten Kämpen Syr Wunnar. Er trank wieder aus seiner flachen Feldflasche und sang das Lied vom letzten Wege, das ich schon auf dem Grabhügel vor der Wegburg gehört hatte. Als er uns kommen sah, begrüßte er uns und winkte.
»Was für eine Aufregung. Dieser Notor war gestern bei mir und wollte eine Kostprobe von meinem Schnaps, ist ihm wohl nicht gut bekommen, wie ich hörte«, lallte Wunnar, der offensichtlich betrunken war. Er schaute uns mit traurigen Augen an: »Aber dieser Lorgrim hat dafür bezahlt, habe ihm nie getraut, diesem Schlitzauge.«
Saradar wollte wissen, ob der Ritter Deodan gesehen hatte: »Ja, allerdings, er hat mich hier zur Wache eingeteilt. Frage mich, warum. Ist mit seinen getreuen Soldaten zum Hochfürsten gestürmt!«
»Wisst Ihr, wo der Hochfürst seine geheime Kammer hat?«, wollte ich wissen.
»Ich denke, dass ich Euch vertrauen kann. Er versteckt sich mit seiner Tochter irgendwo unter dem Regenturm. Weiß aber nicht, wie Deodan da reingekommen ist. Sie sind irgendwo hinter dem Turm verschwunden. Warum wollt ihr ihm folgen? Meint ihr etwa, dass er der Mörder ist? So ein edler Ritter von hohem chiramschen Geblüte! Hat mir sogar neuen Schnaps spendiert, so einer kann doch kein Mörder sein, oder?«
Der Sieger des Lanzenstechens warf Myk einen Beutel mit klimpernden Münzen zu.
»Da mein Junge. Hab' ich gewonnen, ich kann mit soviel Gold nicht umgehen. Du kannst es eher gebrauchen, erinnerst mich an meinen Sohn. Erst Dein Syr Zaran, der so furchtbar gestorben ist ...«
Myk bedankte sich, unsicher, ob es der Ritter auch ernst meinte.
Wunnar nickte, während er skeptisch an seiner Feldflasche roch und dann einen tiefen Schluck daraus nahm. Plötzlich begann er zu husten, wurde ganz rot im Gesicht und kippte rücklings in den Brunnen, ohne dass wir so schnell eingreifen konnten. Tarkin sprang auf den Brunnenrand und starrte in den Abgrund: »Nichts zu sehen, nur tiefe Finsternis!«
Saradar schüttelte sich vor Wut, er hatte in Hauptmann Wunnar während des Turniers einen Freund gefunden und nicht nur ein Bier mit ihm geleert.
Er brüllte: »Wunnar! Ich werde Dich rächen, das schwöre ich bei Osir und Keldyr, so wahr ich ein Khor'Namar, ein Sohn des Windes bin!«
Er wandte sich an uns, ich konnte eine Träne in seinem Augenwinkel erkennen. Radaras war auf seine Schulter geklettert und leckte ihm die laufende Träne von der Wange.
»Er war betrunken, als er mir nach dem Turnier im ›Braunen Tropfen‹ von seinem Schicksal erzählte. Er hat seine gesamte Familie beim Überfall der Ul'Hukk auf Chiram verloren. Deshalb konnte er sich auch über den Turniersieg und das Gold nicht wirklich freuen. Wenn ich diesen Deodan zu fassen kriege, ich werde ihm eigenhändig den Kopf von den Schultern reißen!«

Wir waren uns einig, dass es für Myk zu gefährlich sein würde und schickten ihn - trotz seines Protests – in die Waffenkammer, in der er sich auskannte und erst einmal in Sicherheit sein würde.