Sonntag, 19. Januar 2020

Kalte Brise - Kapitel 4: Treibholz

Die Sturmkönigin folgte der felsigen Küste des verlassenen Königreichs Tyr. Ein kalter Wind blies uns aus dem Norden entgegen, sodass wir kreuzen mussten. Kairn stand hochkonzentriert am Steuerrad.
»Viele Untiefen!«, brummte er in seinen Bart.
Haldart erklärte: »Gerne wüsste ich eine Tagesfahrt Abstand zwischen uns und der Küste, aber das Reich der Aqualonier hat schon viele gute Schiffe verschlungen, und nicht bei allen Seeungeheuern handelt es sich um Seemannsgarn.«
Zeiselbart folgte seinem menschlichen Gegenpart auf Schritt und Tritt und ließ sich oft von ihm auf den Arm nehmen, seine Entführung durch die Kreischlinge hatte wohl bleibende Schäden hinterlassen. Fischknochen kam aus der Kombüse hoch und blickte verträumt auf die bizarren Felsformationen, während er sich mit dem Kochlöffel am Hintern kratzte.
»Das Reich der Trauernden«, erzählte Edwen, ein wehmütiger Ausdruck war in sein Gesicht getreten. »Ihre gewaltigen Städte liegen in Ruinen, einst entstanden unter dem Schwarzen König, um sich gegen ihre Erzfeinde, die Imbrier zu verteidigen. Doch im Anrennen gegen die wahren Feinde der Menschen, die Ul'Hukk, fand der große König den Tod. Doch das liegt lange zurück. Jetzt sagt man, es werde von Dämonen und blutdurstigen Bestien heimgesucht – andere sagen, das Land des Regens sei fruchtbar und diese Legenden seien nur dummes Geschwätz, um Siedler fernzuhalten.«
Tarkin meldete vom Krähennest, dass er im Süden zwei Segel gesichtet habe. Nach einer halben Stunde waren sie wieder hinter dem Horizont verschwunden, aber Haldart war besorgt.
»Ihr kennt unsere Vereinbarung, ich denke, unsere Wege werden sich bald trennen müssen. Wir fahren jetzt die imbrische Küste entlang und ich werde nach einer Stelle zum Anlanden Ausschau halten.«

Wir segelten die imbrische Küste hinauf, Haldart entschied, so wichtige und einträgliche Hafenstädte wie Tanadom, Goldhafen und Endhafen links liegen zu lassen - zu unserem Wohl, aber dem Missfallen seiner Mannschaft. Die Küste wurde flacher, doch im Meer tauchten immer wieder Felsen auf, die Kairn geschickt umfahren musste. Tarkin gab ihm dazu vom Krähennest die entsprechenden Hinweise.
»Achtung, da vorne sind gleich mehrere große Felsbrocken und da treiben Trümmer auf dem Wasser!«, rief er eines Morgens herunter.
»Da ist wohl jemand aufgelaufen!«, befand Haldart, als der die Bootstrümmer inspizierte.
Tarkin hatte etwas entdeckt: »Da vorne treibt noch ein Beiboot mit einer Kiste und irgendwas Glitzerndem darauf.«
Das Interesse der Mannschaft war geweckt. Tarquan, der frühere Pirat, erkannte, dass es sich bei den im Sonnenlicht glänzenden Dingen um zwei Entermesser handelte. Saradar war schon drauf und dran, auf das lecke Boot zu springen, doch der Kapitän hielt ihn zurück.
»Also wenn das mal keine ...«, weiter kam Tarquan nicht.
Selbst für den Kobold im Ausguck war bislang verborgen geblieben, dass hier noch mehr Boote trieben. Eines davon kam hinter dem größten Felsen hervor: darauf stand ein Schrat mit schwarzem Rauschebart, unter einem breitkrempigen Hut ragten beiderseits gebogene Hörner hervor. Er trug einen für ihn viel zu langen Mantel, an dem zahlreiche kleine Treibhölzer und sogar ein Steuerrad hingen.
»Heh, ihr da! Lasst mich eure Ladung sehen! Nicht, dass ihr Ratten an Bord habt!«
Er lachte höhnisch. Hinter dem Felsen kamen weitere flache Boote zum Vorschein, deren zerlumpte Besatzungen schnell auf die Sturmkönigin zugerudert kamen.
Haldart fluchte zischend: »Verdammte Treibholzpiraten!«
Der Schrat lachte: »Ihr kennt uns? Wusste gar nicht, dass wir so berühmt sind!«
Der Kapitän gab Befehle, dass wir uns mit langen Stangen von den Felsen abstoßen sollten, sodass die Sturmkönigin wieder Wind in die Segel bekäme, doch zwei grünhäutige Goblinpiraten mit langen Entermessern im Mund waren steuerbord und achtern über die Reling geklettert und hatten etwas dagegen – sie mussten sich im Wasser hinter dem treibenden Beiboot versteckt haben. Als sei sei das noch nicht genug, schob gerade ein halbes Dutzend Piraten eine aus Wrackteilen zusammengezimmerte Balliste auf einer Felseninsel in Schussposition.
»So, ich denke unsere Argumente sind überzeugend genug: her mit Gold und Silber und was ihr sonst noch so geladen habt«, rief der Schratenpirat – sein begleitendes Lachen war bedrohlicher geworden.
Maluna, Freya und ich steckten unsere Köpfe zusammen und entwickelten einen Plan, wie wir mit dem Leben - und unserem Besitz - dieser misslichen Lage entkämen.
Ich betete an Ianna, dass sie mir die Kontrolle über die Würmer im Holz der Piratenboote gewähren möge. Sie erhörte mich: ich konnte förmlich spüren, wie sich tausende von ihnen just in diesem Moment ungezielt durchs alte Holz fraßen – das musste sich ändern: sie sollten zusammenarbeiten und die Planken durchlöchern. Aber das würde eine Zeit lang dauern! Maluna flüsterte Vivana etwas zu und begann dann, aufreizend zu tanzen. Die Piraten schienen noch nie eine Feueralwe gesehen zu haben und waren von ihrem Anblick wie gebannt.
Vivana schrie auf einmal: »Ihr dürft sie nicht ansehen, sonst werdet ihr blind!«
Der Schratenpirat lachte und rief: »Wir lassen uns von euch doch nicht ver...« - als es blitzte und er sich an die Augen fasste. Das war Freyas Werk, der Lichtgott war ihr hold.
Der Schrat schrie und tobte: »Meine Augen, meine Augen, ich bin blind!«
Den beiden Goblinpiraten war das zuviel: sie sprangen panisch von Bord. Auch die Mannschaft an der Balliste hatte das Feld geräumt, nur die Ruderer waren noch unentschlossen, ob sie nicht doch entern sollten. Doch die Holzwürmer waren fleißig gewesen: wir konnten mit ansehen, wie die Boote blubbernd voll Wasser liefen, bis schließlich richtige Fontänen in die Höhe spritzten.
Haldart beugte sich über die Reling. Jetzt war es an ihm zu lachen: »Ha, ha, so sehen richtige Treibholzpiraten aus!«
Die Piraten schwammen auf die sicheren Felsen zu. Der geblendete Schratenpirat schlug panisch ins Wasser und schrie: »Helft mir, helft mir, ich bin blind und kann nicht schwimmen!«
Zwei der Piraten packten ihn an seinen Hörnern und nahmen ihn in Schlepptau. Die Boote sanken auf den Grund – mit ihnen die Holzwürmer, die sich so ihr eigenes feuchtes Grab beschert hatten. Ich schwor, keinen von ihnen zu vergessen und ihrer immer zu gedenken.
»Mist«, schimpfte Saradar, »das Boot mit der Kiste ist auch abgesoffen! Ich hätte zu gerne gewusst, was da drin war.«

Die Sturmkönigin nahm wieder Fahrt auf und wir entfernten uns soweit von der Küste, dass wir den Untiefen und Felsen entgingen. Die kalte Brise zwang uns, weiter gegen den Wind zu kreuzen. Der Kapitän setzte gerade dazu an, uns etwas über den nächsten Hafen zu erzählen und wie er uns dort ungesehen von Bord bringen wollte, als ein Ruf des Krähenfressers vom Krähennest zu uns herunterschallte: »Mehrere weiße Segel, alle mit dem Zeichen des Sonnenrades!«
»Abdrehen!«, schrie Haldart.
Tarkin rutschte den Mast herunter: »Sie kommen schnell näher!«
Der Kapitän bat um Vorschläge. Tarkin kratzte sich kurz und gab dann einen zum Besten: »Also, auf dem Fahndungsplakat in Farwayle hatten sie haarige Bestien abgebildet. Wir könnten uns verkleiden oder besser noch – rasieren! Dann erkennen sie uns nicht, der Faun hätte da bloß eine Menge Arbeit und müsste sich beeilen!«
Alle blickten ihn an – er folgte ihren Blicken und sah an sich herunter: »Oh, blöde Idee, vergesst das schnell wieder, wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen!«
Kairn mischte sich ein: »Schnelle Schiffe!«
Haldart nickte: »Die können wir nicht abhängen. Ich möchte meine Mannschaft nicht gefährden und werde euch deshalb in einer Bucht absetzen.«
Er gab dem Steuermann entsprechende Anweisungen und suchte Trelan auf. Als wir in eine versteckte Bucht einliefen, kam der Kapitän wieder an Deck.
»In der Nähe sind Firnhallhafen und Ostfingerhafen, wenn ihr es in einem Viertelmond dorthin schafft, kann ich euch vielleicht wieder an Bord nehmen. Nördlicher kreuzen kaum imperiale Schiffe, denen ist es in Küstennähe wegen der Untiefen und Riffkanten zu gefährlich!«
Mit einem Beiboot wurden wir an Land gebracht, Dugan und Trelan warfen uns Proviantsäcke - die Fischknochen noch schnell für uns gepackt hatte - und einen Beutel mit unserer Heuer zu.
»Vielleicht sehen wir uns irgenwann irgendwo einmal wieder, Bund aus Blut und Feuer!«, verabschiedete sich der Kapitän. Der Kater saß auf seiner rechten Schulter und wirkte etwas wehmütig, er schien zu wissen, wer ihn aus den Klauen der Kreischlinge befreit hatte. Der Rest der Mannschaft winkte uns zum Abschied und erhielt sofort wieder Befehle von Haldart. Am längsten stand Myk an der Reling, den das Schicksal von einem Knappen in einen Schiffsjungen verwandelt hatte. Ich hatte ein gutes Gefühl dabei, ihn in der Obhut von Kapitän Haldart zu wissen.

Wir winkten zurück und stiegen dann die steile Uferböschung hinauf. Wir mussten uns durch Dickicht und Buschwerk kämpfen, das schließlich in einen dichten Wald überging. Je weiter wir kamen, desto lichter wurde es. Sonnenstrahlen drangen durch das goldene Blattwerk und trafen auf moosbewachsene Wurzeln und spiegelten sich in klaren Bächlein. Hier fühlte ich mich heimisch, auch den Kobolden gefiel es hier.
»Boden fest, ist gut!«, freute sich Urota, der an Bord sehr schweigsam gewesen war und die Begegnung mit den Treibholzpiraten unter Deck verbracht hatte: Trolle konnten wohl auch seekrank werden. Wir blickten uns verunsichert um, in welche Richtung sollten wir weitergehen?
»Hat einer von euch eine Karte?«, fragte Tarkin.
Allgemeines Kopfschütteln.
»Ich könnte Ianna bitten, uns den Weg zu zeigen!«, schlug ich vor. Da kein besserer Vorschlag kam, begann ich zu beten. Plötzlich fiel mir ein Y-förmiges Stöckchen auf den Kopf.
»Was ist das?«, fragte Tarkin.
»Das mein lieber Kobold«, erklärte ich ihm, »ist eine Wünschelrute!«
»Und wo führt sie uns hin?«, wollte er wissen.
Ich zuckte mit den Schultern: »Manchmal muss man einfach mal der Erdmutter vertrauen!«
Die Rute schlug tatsächlich aus und wir folgten dem Weg, den sie vorgab. Auf einem Hügel tat sich plötzlich eine Schneise auf, sodass wir einen Blick auf die Bucht erhaschen konnten.
Zwei imperiale Segelschiffe lagen dort vor Anker. Sie schoben gerade von einem der Kreuzer eine Brücke zur Handelskogge hinüber. Ein Mann in einem strahlend weißen Gewand überquerte sie und wurde von Haldart in Empfang genommen, weitere Soldaten folgten.
»Haldart wird uns nicht verraten!«, meinte Edwen.
»Es sei denn, sie foltern seinen Kater!«, musste ich ergänzen.
»Na, dann sehen wir mal zu, dass wir hier wegkommen!«, trieb uns Vivana an.
Die Wünschelrute gab uns den Fluchtweg vor. Über uns zwitscherten die Vögel, unter uns huschten zahlreiche Tierchen wie Hundertfüßer, Eidechsen und Laufvögel über den Waldboden.
»Was sind das für Pilze?«, fragte Saradar plötzlich. Vivana trat näher und begutachtete die blauen Pilze, die am Stamm einiger Bäume wuchsen.
»Das sind, glaube ich, Bläulinge, und die sind, meine ich, nicht giftig.«
Saradar reichte die vage Aussage: er brach einen ab und schluckte ihn in einem Stück herunter. Auch alle anderen pflückten ein paar davon als Wegzehrung. Nach einiger Zeit fing Saradar an zu kichern, dann zu lachen und schließlich sprang er vergnügt von Baum zu Baum und umarmte ausgiebig jeden einzelnen von ihnen.
»Bei uns nennt man solche Leute Baumschmuser«, grinste ich.
»Wenigstens ist einer gut drauf!«, kommentierte Maluna fröstelnd. Als Saradar herbeigetanzt kam und sie umarmen wollte, lehnte sie dankend ab und ließ sich lieber eine Decke geben.
Dank der Rute erreichten wir schließlich eine breite Straße, die in Nord-Süd-Richtung führte. Wir beschlossen, uns am Waldrand zu halten, sodass wir von der Straße aus nicht gesehen werden konnten und folgten ihr in nördlicher Richtung.

Die Sonne senkte sich langsam unter den Horizont, als wir ein Knacken und dann Hundegebell aus dem Unterholz vernahmen. Ehe wir uns versahen, waren wir von vier großen Jagdhunden umringt. Auf diese folgten Soldaten in scheppernden Rüstungen mit langen Piken und Bogenschützen mit Pfeilen im Anschlag. Ein Mann in besonders prächtiger Rüstung trat hervor, schob sein Visier hoch und nahm schließlich den Helm ganz ab.
»Haltet ein, ihr Sünder! Legt eure Waffen ab, sonst werdet ihr in diesem friedlichen Wald euer blutiges Grab finden!« - So sprach nur ein Paladin. »Ihr werdet euch für eure Taten vor Aluns heiliger Gerichtsbarkeit verantworten müssen!«
Wir gehorchten seiner Aufforderung: gegen zwanzig Bogenschützen, zehn Pikenträger, vier Hunde und einen Paladin sahen unsere Chancen schlecht aus.
Sie sammelten unsere Waffen ein und legten uns Handfesseln an. Dann führten sie uns zur Straße, wo schon ein Gespann mit einem Käfig für die kleineren Mitglieder des Bundes aus Blut und Feuer wartete. Nachdem diese – zu denen auch ich gehörte – eingepfercht waren, zogen sie schwere Ketten und Schlösser vom Wagen. Unser Hügeltroll wurde dermaßen damit behängt, dass er sich kaum noch bewegen konnte. Der Paladin sandte zwei seiner Bogenschützen als Vorhut voraus. Wir folgten der Straße nach Norden, überquerten dabei Bachläufe und kamen durch dichte Wälder langsam aber stetig voran. Es wurde wenig gesprochen, auch über das Ziel der Reise herrschte Stillschweigen. Wir durften das frische Wasser aus den sauberen Gebirgsbächen trinken und wurden sogar mit Brot und Käse versorgt. Während mir nach einigen Tagen der Hintern schmerzte von der holprigen Fahrt im Käfigwagen, hatten sich meine fußläufigen Bundesgenossen Blasen gelaufen.
Eine Nacht verbrachten wir in einer Talsohle – das Geheul eines großen Wolfsrudels ließ sie zu einer schlaflosen für uns werden. Müde und von den Reisestrapazen geschwächt, setzte am nächsten Morgen auch noch ein herbstliches Unwetter ein, das die Straße mit Matsch überspülte und das Vorankommen noch schwieriger machte. Urota schleifte seine Ketten durch die Pfützen und das Wasser lief in Strömen an ihm herunter. Das Unwetter tobte drei Tage lang und ließ uns immer schwächer werden. Völlig verdreckt und müde gewahrten wir schließlich die dunklen Mauern einer gewaltigen Stadt. Über dem Stadttor peitschte feucht das Wappen gegen die Burgmauer: vier Schwerter auf gelbem Grund.
»Willkommen in Firnhall!«, rief einer der Wachsoldaten gegen den stürmischen Regen an.
»Habt dank!«, schrie der Paladin zurück. »Sagt dem Herrn von Firnhall Bescheid, dass er uns sofort empfangen möge!«