Mittwoch, 13. Februar 2019

Der letzte Tanz - Kapitel 10: Der stinkende Auftrag

»Deodan hatte Recht, durch die Fenster kommen wir hier nicht raus!«, überlegte Tarkin laut.
»Ich fürchte, der einzige Weg hier raus ist der Abtritt!«, prophezeite Widun.
Saradar schlug vor, doch einfach mal nachzusehen, ob es da einen Ausgang gäbe. Das Räumchen war sehr eng, dass wir uns förmlich hineinquetschen mussten. Urota musste draußen bleiben.
»Pass auf, dass keiner reinkommt!«, wies ihn Widun an.
Aus irgendeinem Grund schauten plötzlich alle auf Anneliese. Diese hielt sich die Nase zu: »Also mich kriegen keine zehn Pferde da rein!« Saradar machte kurzen Prozess, schnappte sich Tarkin und hielt ihn über das Loch am Boden: »Mal sehen, ob Du da durchpasst!«. Tarkin zappelte, aber Saradar ließ ihn nicht los – da biss er zu – und Saradar musste ihn fallenlassen. Im letzten Moment spreizte Tarkin seine Beine, sodass er im Spagat über dem Abtritt hing. Doch dann kippte er mit dem Oberkörper nach vorne und landete mit dem Gesicht in der braunen Brühe. Saradars hielt sich die blutende Hand - Widun und Maluna zogen Tarkin schnell wieder heraus.
Der Kobold schüttelte sein Fell, was von einem »Ihh! Pfui!« von Anneliese begleitet wurde und sprang dann – mit zusammengepressten Lippen - aus dem Abtritt in Richtung Waschraum davon.
Unsere Wichtelin in ihrer weißen Priesterrobe blickte unter den Rand des Abtritts. »Da ist ein Kanalrohr, da passe ich bestimmt durch!«
Ich hatte einen Entschluss gefasst. Mit den Worten »Ich komme mit!« verwandelte ich mich in meine Eichhörnchen-Gestalt und ließ Freya auf meinen Rücken steigen. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich auf drei Pfoten gelaufen und hätte mir mit der vierten die Nase zugehalten. Aber so hieß es Luft anhalten und durch. Saradar musste natürlich noch einen Spruch los werden: »Das Eichhörnchen verfärbt sich da noch nicht einmal!« Ha, ha - gar nicht lustig!
Freya und ich mussten uns ganz flach machen, um durch das enge Rohr zu passen. Die Rohrleitung nach unten zu klettern, erforderte mein ganzes Geschick als Eichhörnchen. Als wir in der Dunkelheit des eigentlichen Kanalsystems angekommen waren, betete die winzige Alunpriesterin »Luminur« und erhellte uns so den Weg. Bei der ersten Abzweigung wählte ich den rechten Gang. Vom Ende des Ganges her hörten wir ein Fauchen, rote Augen leuchteten uns entgegen. Da saßen zwei Aasratten, die trotz des Leuchtens auf uns zu kamen, sie schienen hungrig zu sein. Freya fing wieder an zu beten, diesmal betete sie das »Okului privo« und ein helles Blitzlicht blendete die Ratten, sodass sie die Flucht ergriffen. Eine Treppe führte steil nach oben. Ich hüpfte die Stufen empor, nur raus aus der stinkenden Kloake! Am Ende der Treppe hatte ich wieder die Wahl. Ich schnüffelte. Links roch die Luft deutlich besser, sodass ich diesen Weg einschlug. Wieder eine Treppe, dann noch ein langer Hauptgang, dem ich bis zum Ende folgte. Hier war eine Steigeisentreppe. Tatsächlich hatten wir einen Ausgang zur Inneren Burg gefunden. Ich ließ Freya absteigen und stemmte den gusseisernen Deckel nach oben, was mich all meine Kraft kostete. Wir waren scheinbar ins Untergeschoss eines Turmes der Regenburg gelangt. Hier standen ein paar Kisten und Fässer herum. Dank Freyas Leuchten fanden wir aus dem Lagerraum hinaus und ich sprang mit ihr auf dem Rücken die Steintreppe zum Erdgeschoss hoch. Hier war eine kleine Kammer mit einem runden Holztisch und einigen Stühlen, wahrscheinlich wurden hier Besprechungen abgehalten. Plötzlich machte sich jemand am Riegel der Tür zu schaffen. Ich kletterte schnell einen Pfosten hoch und wir versteckten uns auf einem Holzbalken hoch oben unter der Decke.
Unter uns konnte ich drei Männer ausmachen, die in eine Unterhaltung vertieft waren. Es handelte sich um den Heiler, den Notor und Syr Aschantus, Tarkins Busenfreund.
Der Notor berichtete: »Ich denke, hier sind wir sicher vor heimlichen Lauschern. Ihr wisst, was ich glaube: Xardrus wurde vergiftet, alle Anzeichen sprechen dafür. Wir müssen nur noch herausfinden, um welches Gift es sich gehandelt hat. Außerdem müssen wir Syr Madhurs habhaft werden. Viele der Befragten haben seinen Namen genannt, als es darum ging, wer ein Interesse an Xardrus' Tod haben könnte. Nach seinem Auftritt auf der Wegburg müssen wir davon ausgehen, dass er als Auftraggeber für den Mord in Frage kommt.«
Syr Aschantus machte einen Vorschlag: »Wir könnten doch alles durchsuchen lassen, vielleicht finden wir bei irgendjemandem das Gift oder Zutaten für die Giftbereitung.«
Der Heiler nickte: »Das ist eine sehr gute Idee. Sprecht am besten selbst mit dem Hochfürsten, und leitet das in die Wege!« Sie verließen den Raum und schlossen die Tür von außen ab.
Ich musste beim Wort »Gift« unwillkürlich an Vivana denken und wäre fast vom Balken in die Tiefe gestürzt, wenn mir nicht Freya in die Rippen gekniffen hätte.
»Wir müssen zurück zu unseren Kameraden!« - »Nochmal durch die Kloake?« - »Ist der einzige Weg!«

Wir fanden unsere Kameraden im Gästezimmer. Der Höhlenschrat hatte sie aus dem Abtritt verscheucht, nachdem sich mehrere Gäste über den Troll beschwert hatten, der die Tür blockiert gehalten hatte. Ich verwandelte mich zurück und gab das Erlauschte weiter. Anneliese stellte fest: »Wenn sie Vivana durchsuchen, werden sie mit Sicherheit jede Menge Phiolen mit giftigem Inhalt bei ihr finden. Sie werden sie verhaften und als Hauptverdächtige behandeln. Wir müssen sie finden, um sie zu warnen!«
»Aber wo steckt sie bloß?«, fragte ich, schulterzuckend. »Leider kann ich mich heute nicht mehr in ein Eichhörnchen verwandeln.« »Lasst uns morgen nach ihr suchen!«, schlug Anneliese vor.


Das Frühstück am nächsten Morgen bestand aus einem Haferbrei und einem Humpen Bier. Der Schrat entschuldigte sich: »Gibt leider nichts anderes, die lassen mich hier ja nicht raus!«
Dann ging die Tür zur Herberge auf und sechs Soldaten stürmten herein. Sie durchsuchten jeden Einzelnen von Kopf bis Fuß und gingen dann alle Zimmer durch. Am Ende der Durchsuchung gab der Ranghöchste der Soldaten bekannt: »Auf Anweisung des Hochfürsten dürfen alle die Herberge verlassen. Auflage ist, dass alle im Bereich der äußeren Burgmauer bleiben, die innere Burg darf nicht betreten werden und die Stadt darf nicht verlassen werden. Zur Abenddämmerung muss wieder in der Herberge eingekehrt werden. Der Heiler und der Notor behalten sich vor, in der Zwielichtstunde eine erneute Befragung durchzuführen.«
Wir besprachen uns mit Syr Deodan. Er glaubte nicht, dass Syr Madhur so weit gehen würde.
»Ich war sein Anführer in der Schlacht gegen die Tekk. Er hat tapfer gekämpft und ist eine ehrliche Haut. Er kämpft mit offenem Visier, so etwas wie Heimtücke ist ihm völlig fremd. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er einen Giftmord in Auftrag geben würde.«

Endlich konnten wir die Gaststätte – durch die dafür vorgesehene Tür – wieder verlassen. Wir hatten vor, Vivana und Tarquan zu finden. Wir kamen zur Brücke über den Wassergraben mit dem Aufgang zur Inneren Burg. Hier standen drei Gruppen von schwer bewaffneten Wachsoldaten. Die erste Gruppe trug das Wappen der Regenburg, die zweite das askalonische Rosenschwert und etwas abseits davon eine dritte Gruppe mit dem imbrischen Strahlenkranz im Schilde. Die Imbrier waren in eine angeregte Unterhaltung vertieft und warfen zwischendurch immer wieder misstrauische Blicke in Richtung der Askalonier: »Kein Wunder, dass es Streit zwischen Xardrus und dem Hochfürsten gab. Wie kann man nur so verantwortungslos sein und einen Ogrens mitten in die Stadt führen, nur um sein Bestienkabinett zu bereichern.« Sie verstummten, als sie bemerkten, dass sie aufmerksame Zuhörer hatten. Maluna ging ihnen mit aufreizendem Hüftschwung entgegen. Die Soldaten rissen ihre Augen auf und schienen wie gebannt zu sein von ihrem Anblick. »Ihr stattlichen Männer, sagt, wisst Ihr vielleicht, wo ich meine Freundin Vivana finden kann?«
Zumindest einer der Soldaten hatte seine Sprache wiedergefunden: »Ich kenne keine Vivana, aber ich kann gerne die lange Treppe zur Inneren Burg hochgehen und den Notor fragen. Für Euch tue ich alles.« Nach einer Weile kam er zurück und berichtete, dass er auf Anweisung des Notors keine Auskünfte zu laufenden Untersuchungen geben dürfe: »So gerne ich bei Euch eine Ausnahme machen würde.«
Wir belauschten eine Unterhaltung der Askalonier über Syr Deodan und Syr Xardus. Es musste eine Auseinandersetzung zwischen beiden während der Schlacht im Grünen Kessel gegeben haben. Einer der Soldaten war mit dem Rücken zu uns gekehrt und plauderte gerade: »Der Schlag gegen den General der Tekkarmee hätte Deodan zugestanden, aber dieser Wael hat sich lieber um jemanden anderen gekümmert. Dafür hat dann dieser imbrische Paladin den ganzen Ruhm eingestrichen!«
»Na ja, davon hat er jetzt auch nichts mehr!«, lachte ihm ein anderer Wachsoldat entgegen. Als sie uns bemerkten, blickten sie uns finster an und verstummten sofort. »Von denen wird uns auch niemand weiterhelfen«, bemerkte Widun und wir folgten dem Rundweg um den Wassergraben.
Auf einer der Brücken über einen der kleineren Wasserkanäle, die den gesamten äußeren Burgenring durchzogen, beobachteten wir zwei askalonische Soldaten, die sich gelangweilt auf ihre Speere stützten und gerade über »einen Einäugigen und eine Jujin« sprachen, die heute Morgen »festgenommen wurden«.
Wir fragten einen einfachen Bürger, wo sie die Gefangenen hinbringen. »Ins Gefängnis natürlich! Das ist gleich da drüben!«
Der Gefängniswärter war tatsächlich einverstanden – nachdem ihn Maluna etwas weichgekocht hatte – dass einer von uns kurz mit den Gefangenen sprechen durfte. Tarkin wollte das machen. Als er zurückkam, berichtete er: »Ja, sie haben Vivana und Pferd in Gewahrsam genommen. Sie haben zwei Phiolen mit Gift bei Vivana gefunden und ihr mit dem Galgen gedroht. Vivana meinte, wir sollen ein Buch über Mixturen und Tinkturen suchen, um das Gift herauszufinden, das verwendet wurde. Wir sollen ›Rotfärbung der Haut‹ und ›Heraushängen der Zunge‹ als Giftfolgen nachschlagen. Nur so könne sie vielleicht dem Notor beweisen, dass sie ein solches Gift nicht bei sich hat oder hergestellt haben kann.«
»Na, dann suchen wir mal nach einer Bibliothek«, schlug Anneliese vor. »Oder wir befreien sie, indem ich den Wächter mit einem exotischen Tanz ablenke!«, war Malunas Gegenvorschlag.
Widun schüttelte den Kopf: »Dann haben wir morgen alle den Kopf in der Schlinge! Hier kommen wir nicht unbemerkt wieder raus, auch an den äußeren Stadttoren stehen jede Menge Wachen!«
Tatsächlich fanden wie ein hohes Steingebäude, über dessen Eingang ein Holzschild mit dem Bild einer – nicht sehr kunstvoll gemalten – Eule im Wind schaukelte. An der wurmstichigen Eingangstür hing ein Pergament mit der Aufschrift »Kommet, findet und kostet vom Wissen der Welt! Skia lädt Euch ein!« Die Tür knarrte in ihren Angeln, als wir sie öffneten. Dahinter erwartete uns eine alte Frau mit langen, zu Zöpfen geflochtenen grauen Haaren in einer ebenso grauen Robe. Ein Anhänger mit goldener Eule verlieh ihr etwas Farbe und wies sie als Skia-Anhängerin aus. »Tretet ein, wenn Ihr nach Wissen sucht, hier werdet Ihr fündig! Ich bin Sapienzia Furalis, eine bescheidene Dienerin der Göttin der Weisheit. Wenn Ihr meine Hilfe benötigen oder gar des Lesens gar nicht mächtig sein solltet, könnt Ihr Euch gerne an mich wenden. Meine Augen sind zwar nicht mehr die besten, aber ich beherrsche viele alte Sprachen.«
Ich blickte mich um. Viel hatte diese »Bibliothek« ja nicht zu bieten. Nur einige wenige Bücher in ansonsten leeren, verstaubten Regalen. Anneliese hielt natürlich Ausschau nach magischen Schriftrollen. »Die haben ja hier gar nichts!«, gab sie schließlich enttäuscht auf. Beim Durchstöbern fanden wir einen alten Folianten »Über die Wirkung einiger Kräuter und anderer wohltuender Ding'«. Er enthielt zumindest den Hinweis auf ein ausführlicheres Werk über die Wirkungen und die Herstellung schädlicher Tränke und Substanzia namens »Lexikalische Auflistung der Mixturen, Essenzen und gräulicher Gifttinkturen von Alatrius Mox«. Wir fragten die alte Skia-Priesterin nach dem Werk. »Es könnte sein, dass der Zirkel der Gelehrten eine Abschrift in seinem Präsenzbestand hat. Ihr findet die Halle im nordöstlichen Teil der Festung. Ich muss Euch aber warnen, Fremde werden dort nicht ohne weiteres hineingelassen.«
Nachdem wir uns für die Hilfe bedankt hatten, trat ein merkwürdiger Ausdruck in ihr Gesicht, sie fasste an ihr Amulett und ihre Augäpfel verschwanden fast hinter den Oberlidern: »Einige von Euch tragen unmenschliches Blut in sich! Habt Obacht und wandelt mit offenen Augen, denn Euer Blut weckt Begehrlichkeiten bei den Mächtigen!«
Dann hatte sie plötzlich wieder den gleichen müden Ausdruck im Gesicht wie zuvor. Als wir nachfragten, was ihre Worte zu bedeuten hätten, tat sie so, als ob sie gar nicht wüsste, wovon wir sprachen. »Unheimlich. Schnell raus hier!«, dachte ich bei mir.

Auf dem Weg zur Halle der Gelehrten meinte ich Lorgrim gesehen zu haben, wie er zwischen den Häusern verschwand. Er hatte ein Talent dafür, unbemerkt zu bleiben.

Im nordöstlichen Teil der Stadt befand sich ein großer Platz, an dessen Ende ein hohes Fachwerkhaus aus zwei großen, verbundenen Gebäudeteilen stand. Davor wehten sieben Banner in verschiedenen Farben im Wind. Der Eingang wurde von einer riesigen Tür aus Ebenholz verschlossen, in die in Form einer Pyramide die verschiedenen Ebenen der Erkenntnis eingeschnitzt waren: Auf der untersten Stufe »Schreib-, Lese- und Rechenkunst«, auf der zweiten »Sprachen, Redekunst, Handel- und Rechtskunde«, auf der dritten »Kriegskunst und Historie«, auf der vierten »Alchimie und die Lehre vom Übernatürlichen«, auf der fünften »Heil-, Gift- und Kräuterkunde«, auf der sechsten »Baukunst und Taktik« und auf der obersten die »Götterlehre«.
Ich klopfte mehrmals an die massive Tür, aber es tat sich nichts. Dann trat ich zurück und ließ Urota sein Glück probieren. Die Tür brach fast aus ihrer Verankerung, als der Troll dagegen hämmerte.
Endlich wurde ein Riegel weggezogen und ein alter Mann schaute heraus. Er hatte sehr viele Falten unter den Augen und schneeweiße, buschige Augenbrauen. »Was ist Euer Begehr?«, krächzte er und wartete knotternd auf eine Antwort. »Wir suchen nach einem speziellen Buch!«, erwiderte Widun. Der Alte schien schwerhörig zu sein, da er seine Hand zu einem Trichter formte und sie an das uns zugewandte Ohr hielt. »So einen Schweinkram führen wir hier nicht!«, war die überraschende Antwort des Alten und er schlug die Tür wieder zu.
Urota klopfte erneut, diesmal öffnete sich nur ein kleines Fenster in der Tür, durch das der Alte seinen Kopf hinausstreckte und fragte: »Ich habe zahlreiche Augen und mehrere Gesichter, doch weder Arm noch Bein, sagt mir, was kann ich nur sein?«
»Ein Würfel!«, schrie ich ihm ins Ohr. Der Alte zog seinen Kopf zurück und - schloss uns die Tür auf. »Kommt rein, ich sehe ihr gebt nicht so schnell auf und seid würdig, die Halle der Gelehrten zu betreten. Ich bin Notor Naharun, man nennt mich den ›Erfahrenen‹. Ihr sucht ein Buch, na dann folgt mir einmal in unsere Halle der Bücher.« Er zündete eine Laterne an und trippelte uns voraus.
Wir kamen durch einige Räume, die mit zahlreichen absonderlichen Gerätschaften, Glaskolben mit verschiedenfarbigen Flüssigkeiten und reichlich verzierten Büchern gefüllt waren. An einigen Tischen standen Männer und Frauen, die im Lichte seltsam leuchtender Elixiere merkwürdigen Tätigkeiten nachgingen.
»Was sagtet Ihr? Welches Buch sucht Ihr?« - »Ein Werk von Alatrius Mox über Mixturen und Tinkturen.« Der Notor kratzte sich am Ohr, überlegte einen Moment und ging dann zu einem der riesigen Bücherregale. »Wir haben eine Ausgabe davon hier. Ich weiß jedoch nicht, ob unsere Abschrift vollständig ist. Mal sehen ...« Er zog einen großen Folianten aus dem mittleren Regal. »Das müsste es sein: ›Lexikalische Auflistung der Mixturen, Essenzen und gräulichen Gifttinkturen von Alatrius Mox‹, leider steht hier ›unvollständige Abschrift‹.«
Wir setzten uns an einen der Tische und Freya begann das Lexikon Seite für Seite durchzublättern. Wir fanden einen Index, der nach Giftfolgen unterteilt war. »Hier ist es: Unter Rotfärbung der gesamten Haut. Giftname: Bitteressenz, Gewinnung aus dem angesäuerten Destillat eines wässrigen Auszugs aus Bitterknollen. Sehr flüchtig, tötet bei Einnahme, Einatmen oder Berührung durch Atemstillstand, Tod durch Ersticken, typische Zeichen sind eine Rotfärbung der Haut und eine heraushängende Zunge. Das Kapitel über Gegengifte fehlt in dieser unvollständigen Abschrift leider.«

Wir bedankten uns bei Naharun und verließen die Halle der Gelehrten, um schnurstracks zum nächsten Notor zu eilen. Die Wachen ließen uns diesmal sofort durch und Fjalgur begrüßte uns freundlich. »Ihr habt unsere Gefährten Vivana und Tarquan verhaftet. Wir können beweisen, dass sie nichts mit dem Mord zu tun haben. Wir waren in der Halle der Gelehrten und haben herausgefunden, dass ›Bitteressenz‹ die gleichen Vergiftungszeichen verursacht, wie sie Syr Xardrus aufwies: die Rotfärbung der Haut und das Heraushängen der Zunge!«, berichtete Tarkin.
Der Heiler trat in den Raum. »Ihr habt recht, auch Wael ist zum gleichen Schluss gekommen. Bei Bitteressenz handelt es sich um ein sehr flüchtiges Gift, das aber einen typischen Geruch hat. Wir haben den Wein von Syr Xardrus untersucht, konnten aber keine Giftspuren mehr entdecken. Möglicherweise war nur ein Hauch davon am Rande seines Kelches.« Der Heiler nickte bestätigend.
Tarkin forderte: »Dann lasst Vivana und Tarquan frei, sie haben nichts mit dem Mord zu tun.«
Der Notor winkte einen Wachsoldaten herbei: »Holt die beiden aus dem Gefängnis und bringt sie hierher.«
Der Heiler setzte an: »Wir haben tatsächlich keine Bitteressenz bei eurer Gefährtin entdeckt. Die Herstellung des Giftes ist sehr schwierig und viele haben beim Versuch seiner Herstellung schon Mortarax begrüßt. Wir haben jedoch einen neuen Verdächtigen festgenommen. Einen Alchimisten, der mit einer Gruppe, die sich als ›Rote Klingen‹ bezeichnet, hierher gekommen ist. Er hat noch am ehesten die Fertigkeit, ein solches Gift herzustellen.«
Der Notor legte Wael sanft eine Hand auf die Schulter: »Wir haben versucht auch der anderen Mitglieder habhaft zu werden, insbesondere der Anführerin Galinea, die ja den Buhurt gewonnen hat, konnten sie aber nicht aufspüren. Sie muss sich irgendwo im Bereich der äußeren Burg versteckt halten!«
Der Wachsoldat führte Vivana und Pferd herein. Wir drückten unsere Gefährtin, die sehr erleichtert wirkte: »Ich habe schon vom Galgen geträumt und wie Krähen auf mir landen, um mir die Augen auszupicken.« Sie schaute ihren Geliebten an – dem ein Auge fehlte: »Entschuldige.«
Pferd zuckte nur mit den Schultern und fragte in die Runde: »Wer ist den nun der Mörder?«
Fjalgur machte einen Vorschlag: »Syr Deodan hält sehr viel von Euch und schwärmt von Eurer Tapferkeit in der Schlacht gegen die Ul'Hukk. Wenn ihr gewillt seid, uns bei der Suche nach dem Mörder zu helfen, dürft ihr Euch hier frei bewegen. Vielleicht habt ihr ja mehr Erfolg und könnt diese Galinea aufspüren.«
Wir waren einverstanden und verließen das Gebäude im Bereich der Inneren Burg.

»Wir sollten den Alchimisten befragen, vielleicht können wir von ihm mehr erfahren«, schlug ich vor. Ich durfte ihn in seiner Zelle aufsuchen. Der junge Gelehrte saß vornübergebeugt auf der Pritsche und blickte erst auf, als die Gittertür geöffnet wurde.
Notor Gulim hatte uns den jungen Mann auf der Wegburg kurz vorgestellt.
»Hallo Lyr«, begrüßte ich ihn, »wir glauben nicht, dass Ihr etwas mit dem Tod des Paladins zu tun habt. Wir sollen dem Notor und dem Heiler dabei helfen, den wahren Täter zu finden.«
Dem jungen Mann huschte ein Lächeln übers Gesicht: »Ich danke Euch, Faun. Ich hätte nicht gedacht, dass mich meine Ausbildung einmal in eine Kerkerzelle führt. Ich schwöre bei meinem Ziehvater Gulim, dass ich unschuldig bin.«
»Könnt Ihr uns verraten, wo sich Galinea aufhält? Vielleicht kann sie uns dabei helfen, Eure Unschuld zu beweisen«, fragte ich ihn.
»Als sie kamen, um uns zu ergreifen, teilten wir uns auf. Sie sagte mir nur, dass sie sich im Handwerkerviertel verstecken würde. Sie ist eine Verwandlungskünstlerin, müsst Ihr wissen.«
Ich versprach ihm, dass wir ihn unterstützen würden und verließ das Gefängnis. Maluna unterhielt sich immer noch mit dem Gefängniswärter, den sie sichtlich in ihren Bann gezogen hatte.

Die Sonne war schon unter dem Bollwerk der äußeren Ringmauer verschwunden, als wir uns auf den Weg ins Handwerkerviertel machten. Wo sollten wir nach ihr suchen? Sie konnte überall sein. Die engen, verwinkelten Gassen boten viele Zufluchtsorte. Plötzlich schlug Urota an: »Ich rieche Frau – ungewaschen!«
Und tatsächlich hinter einer Kiste in der Ecke einer dunklen Gasse saß zusammengekauert eine Bettlerin. Sie hatte die Kapuze ihres dreckigen Umhangs tief ins Gesicht gezogen. »Galinea?«, trat ich näher. Die Bettlerin rührte sich nicht.
»Ihr braucht Euch vor uns nicht zu verstecken, wir versuchen nur Eurem Alchimisten zu helfen.«
Die Bettlerin sprang auf und zog einen Dolch unter ihrem Umhang hervor. Sie fauchte wie eine Katze und beschimpfte uns in der Gossensprache: »Verschwindet, ihr Pisser! Lasst mich in Ruhe!«
Plötzlich wurde ihr die Kapuze nach hinten gerissen und ihr rotes Haar leuchtete im Schein der Abendsonne. Vivana hatte sich geschickt hinter sie geschlichen. Bevor sie sich umdrehen und mit ihrem Dolch etwas Unüberlegtes tun konnte, hatte sie Saradar am Handgelenk gepackt.
»Hab Dich schön aufs Kreuz gelegt, Barbar!«, raunte sie Saradar an.
Widun bemühte sich, die Situation zu beruhigen: »Galinea, wir haben wirklich vor, Lyr zu helfen. Er ist der Ziehsohn unseres Freundes Gulim, des Notors der Wegburg. Auch Vivana und Tarquan hier hatten sie fälschlicherweise verhaftet und ihnen mit dem Galgen gedroht. Helft Ihr uns dabei, Lyrs Unschuld zu beweisen, indem wir den wahren Mörder finden?«
Galinea hatte sich abgeregt: »Ja, natürlich, entschuldigt. Ihr seid Torans Freunde, warum sollte ich Euch nicht vertrauen! Auch wenn Toran manchmal über Leichen geht … zumindest das Leben von Unschuldigen aufs Spiel setzt, um seine waghalsigen Unterfangen durchzuziehen. Ich kann Euch aber versichern, dass die Roten Klingen sicherlich kein Interesse am Tod eines imbrischen Paladins haben. Lyr hat kein Gift hergestellt, und wir haben mit dem Tod des Graufuchses nichts zu tun!«

Wir hörten schnelle Schritte durch die Handwerkergasse hallen und drehten uns instinktiv um. Zwei Stadtwachen hatten uns bemerkt und kamen auf uns zu geeilt. Einer von ihnen berichtete uns, ohne Atem zu holen: »Der Heiler wurde ermordet! Ihr sollt sofort zum Notor kommen! Er wartet in der Gaststätte ›Zum braunen Tropfen‹ auf Euch!«
Ich blickte mich um – Galinea, die Verwandlungskünstlerin, war verschwunden.

Wir folgten den Stadtwachen schnellen Schrittes. In einer der Gassen sah ich Lorgrim hinter einer Ecke verschwinden.
»Was diesen Jujin wohl umtreibt? Ein seltsamer Charakter. Ob er etwas mit den Morden zu tun hat?«, ging es mir durch den Kopf.

Als wir in die Gaststätte eintraten, sahen wir Fjalgur unruhig und aufgelöst im Schankraum auf und ab gehen. Mit tränenfeuchten Augen wandte er sich uns zu:
»Wael, mein lieber Wael! Der unschuldige und stets freundliche Heiler unserer Burg wurde ermordet!«
»Wieder mit dem Gift?«, fragte Tarquan.
»Nein«, stieß der Notor hervor, »kaltblütig mit einem Dolchstoß in den Rücken! Ich vertraue Euch, drei von Euch begleiten mich zum Ort des Verbrechens. Vielleicht seht ihr mehr als ich, ich bin zu mitgenommen.«
Er schluchzte und drehte sein Gesicht weg.

Vivana, Freya und ich folgten ihm nach kurzer Beratung. Im Fackelschein stiegen wir die Stufen zur Inneren Burg empor. Die Kammer des Heilers lag in einem der schönsten Gebäude der Regenburg. Die Wände und die Decke waren mit edlem Holz vertäfelt. An den Wänden hingen seltsame Werkzeuge, die dem Heiler wohl als Instrumentarium für seine Operationen dienten. Auf einem Tisch in der Ecke standen zahlreiche Phiolen mit verschmierten Etiketten. In der Mitte des Raums stand ein hoher Holztisch, auf dem wahrscheinlich die Kranken zu liegen kamen. Unter dem Tisch – eine riesige Blutlache. Diese stammte jedoch nicht vom letzten Kranken, der dem Heiler unter das Messer geraten war, sondern von diesem selbst. Er lag bäuchlings neben seinem Operationstisch, das Blut war aus einer klaffenden Wunde an seinem Rücken ausgetreten. Sein blutbesudeltes Nachthemd war an der Tischkante hängen geblieben, sodass sein Körper halb entblößt auf dem nackten Stein lag. Deutlich konnte ich die Stichwunde sehen.
»Der Täter hat wahrscheinlich einen Dolch benutzt, der Stichkanal ist außen breiter als innen – und er hatte Ahnung, wie man das Herz von hinten erwischt«, stellte Vivana scharfsinnig fest. Freya hatte ihre Augen geschlossen und die Hände seitlich erhoben.
»Ich kann weder eine dämonische Präsenz noch einen Fluch spüren«, stellte die Wichtelpriesterin fest. Der Notor war mit starrem Blick im Türrahmen stehen geblieben. Seine Beziehung zu Wael musste wohl sehr innig gewesen sein. Waren sie vielleicht gar ein Paar gewesen?
Vivana hatte sich unterdessen über den Kopf des Heilers gebeugt und sich etwas Luft zugefächelt.
»Kein Bitterknollengeruch, Gift hat hier wohl keine Rolle gespielt.«
Auf einem der Pulte lag ein Buch. Freya zog sich an dessen langem Buchzeichen nach oben.
»Die gräulichen Gifttinkturen von diesem Alatrius Mix.« Sie blätterte durch die Seiten: »Und dieses Exemplar scheint vollständig zu sein … bis auf eine Seite, die hat jemand herausgerissen!« Sie schaute im Index nach und fand heraus, dass es die Seite mit dem Gegengift gegen Bitteressenz war, die fehlte.
»Da, am Rand der Blutlache, ein Stiefelabdruck!«, rief ich aus. Fjalgur war wegen meines Aufschreis zusammengezuckt und aus seiner Lethargie erwacht. Er trat zur Spur und musterte sie.
»Sieht aus, als ob sie von einem Soldatenstiefel stammt.«
Ich warnte den Notor vor, bevor ich meine Wolfgestalt annahm. Er schien durch den Tod seines Freundes so mitgenommen zu sein, dass er von meiner Verwandlung kaum Notiz nahm.
Ich schnüffelte an der Leiche und dann am Stiefelabdruck. Ich versuchte die Witterung aufzunehmen, doch der durchdringende Blutgeruch im Raum überdeckte alles.

»Ihr seid frei Euch in den Räumen und Gebäuden der Inneren Burg umzusehen, vielleicht könnt ihr weitere Spuren entdecken«, erklärte uns Fjalgur, während er sich eine Träne von der Wange strich. Wir traten auf den Flur hinaus und berieten gerade, wie wir uns aufteilen sollten, als ein Schrei und dann lautes Fußgetrappel von den Steinwänden wiederhallten.

Sonntag, 10. Februar 2019

Der letzte Tanz - Kapitel 9: Die weinende Braut

Widun hatte noch am Abend ein Geschenk besorgt. Er sei – leicht angetrunken - in einen nahe gelegenen Wald gegangen und habe Mnamn um eine Gabe gebeten. Dann sei ihm ein Wildschwein über den Weg gelaufen, das er mit dem gezielten Wurf seines Bierkruges erlegt habe. Das war zumindest die Geschichte, die er uns auftischte, nachdem er mit der großen Wildsau über den Schultern in die Gaststätte gekommen war und sie auf den Tisch geworfen hatte.

Wir hatten den Rat des Waffenmeisters befolgt und waren am nächsten Morgen nackt in den Fluss gesprungen, um den Dreck vom Turnier und den Stallgeruch loszuwerden. Ich hatte die Druidenrobe ausgewaschen und die Löcher gestopft. Sie sah schon wieder ganz manierlich aus. Auch meine Mitstreiter hatten sich herausgeputzt.
Wo waren eigentlich Vivana und Tarquan? Wie sich herausstellte, hatte Tarquan die Nacht in einem Lazarettzelt zugebracht, wegen der Prellungen hatten sie ihm ein starkes Schmerzmittel geben müssen. Mittlerweile konnte er aber schon wieder richtig durchatmen. Vivana und er wuschen sich rasch in der Pferdetränke und legten frische Gewänder an. Zum Bedauern Tarquans ließ sich Vivana nicht dazu überreden, ein richtiges Kleid anzulegen: »Nicht mein Stil«, war ihr Kommentar.
Die Mittagsstunde nahte und wir machten uns auf den Weg zur Regenburg.
Wir mussten dazu den Fluss Regenarm überqueren. Die Wachen hatten die Zugbrücke heruntergelassen und kontrollierten, wer da durch die äußere Burgmauer hinein wollte. Wir wurden direkt durchgewunken – trotz oder gerade wegen des Hügeltrolls mit geschultertem Wildschwein.

Nach dem Durchschreiten des Burgtores bot sich uns ein prächtiger Anblick. Die Innere Burg thronte auf einem hohen, schroffen Felsen, an dessen Flanken sich das Wasser aus dem Reservoir auf dem Turm in Form hunderter filigraner Wasserfälle in die Tiefe ergoss. Alles funkelte und blitzte im Licht der Vormittagssonne. Die Wassertropfen erzeugten herrliche Regenbögen, es sah alles zu schön aus, um wahr zu sein. Um den Felsen herum war ein ringförmiger Wassergraben, der nur an einer Stelle überquert werden konnte. Vom kleinen Brückentor am Fuße des Felsens aus schlängelte sich eine breite, in den Fels geschlagene Straße bis zum Felsplateau nach oben. Nach Durchschreiten des Tores bot sich uns ein weiterer, unglaublicher Anblick. Im Innenhof der Inneren Burg war ein Teich, der das Sonnenlicht spiegelte und auf dem zahlreiche Schwäne trieben. Um ihn herum standen mehrere, uralt wirkende Bäume, die mit ihren Blättern den Rand des Teichs beschatteten und deren Wurzeln an den inneren Burgmauern hochgewachsen waren. Zwischen den Bäumen standen Schreine, die den Guten Göttern gewidmet waren. Inmitten dieser Idylle befand sich ein reich verzierter, steinerner Altar, vor dem sich die hohen Gäste bereits eingefunden hatten. Ich erkannte die Paladine Syr Xardrus und Syr Aschantus. Ein dicker Alunpriester und eine Ianna-Druidin in herrlicher grünbrauner Robe blickten zusammen mit dem Bräutigam Syr Zaran erwartungsfroh zum innersten Turm, dem Regenturm, empor, der im Zentrum der ganzen Anlage thronte. Urota wurde freundlich aber bestimmt angewiesen, die Wildsau bei den übrigen Geschenken abzulegen.
Der Alunpriester Lysandus.
Ein Höfling wies uns unsere Plätze zu, von wo aus wir bedächtig der Vermählungszeremonie folgten. Ein Lächeln huschte über Zarans Mund, als er seine Braut erblickte, die von ihrem Vater, dem Hochfürsten, vorsichtig die Stufen vom Regenturm hinuntergeführt wurde. Der Priester und die Druidin begannen mit Wünschen an die Götter für das Brautpaar. Dann mussten Zaran und Firnja vor den Augen der Völker und der Götter ihre Liebe zueinander beteuern. Zur Huldigung Aluns mussten sie für einen Moment dem blendenden Glanz der Sonne standhalten und dann gemeinsam einen Sprössling zu Ehren der Erdmutter pflanzen. Besiegelt wurde die Vermählung durch einen langen – leidenschaftlichen Kuss. Danach brandete lautes Handgeklapper auf und das Paar konnte sich vor Beglückwünschungen kaum retten. Es wurden Gläser verteilt und Wein ausgeschenkt, sodass alle auf das Wohl des Paares zu Ehren Mnamns anstoßen konnten, dessen Segen sie sich für die folgenden Feierlichkeiten wünschten.
»So folget mir nun alle in die hohe Halle zum Schmausen und fröhlichen Tanze!«, lud uns der Hochfürst ein.

Auch hier wurde uns ein Platz zugewiesen, der eher etwas entfernt vom Geschehen lag. Zur Vorspeise gab es eine duftende Suppe, gefolgt von einer würzigen Pfefferpastete mit Speckscheiben. Dann folgten gebratener Schwan in Rahmsoße und Rinderbraten mit Grünem. Als Nachtisch wurden Sahnekuchen und blauer Pudding gereicht.

Jetzt war die Zeit für den Vermählungstanz gekommen. Das Brautpaar ging mutig voran. Mit all den guten Sachen im Bauch konnte ich mich kaum bewegen, geschweige denn war ans Tanzen zu denken. Das Brautpaar schien sich zurückgehalten zu haben. Sie schwebten verliebt über die Tanzfläche und nach und nach fiel die askalonische und imbrische Verwandtschaft mit ein.

Sogar Graufuchs Xardrus schwang das Tanzbein mit einer Brautjungfer im Arm.
Die geistreichen Getränke hatten die Zungen und gelockert und Völkerunterschiede verschwinden lassen. Selbst Aschantus und Tarkin hatten miteinander angestoßen und auf Bruderschaft getrunken.

Vor dem abschließenden Mahl wagten Zaran und Firnja einen letzten Tanz. Eng umschlungen, müde von den vielen geistreichen Getränken, tanzten bis zur Mitternachtsstunde. Syr Xardrus durfte als Ehrengast den letzten Trinkspruch vorbringen. Er erhob sich von seinem Ehrenplatz zur linken des Hochfürsten und bat mit einem Handzeig um Ruhe. Er musste sich mit seiner linken am Tisch abstützen, der viele gute askalonische Wein musste ihm doch zugesetzt haben. Als er seine Stimme erhob, war davon allerdings nicht zu bemerken: »Es gibt nichts Schöneres auf dieser vom heiligen Licht unseres hohen Herrn erhellten Welt als die Liebe, die sich zwei Menschen schenken können, in Frieden. Um so schöner ist es, wenn diese Liebe Völker vereint und wir uns stärker erheben können gegen alle Feinde, die die Finsternis in unsere Lande und unsere Herzen bringen wollen. Ich erhebe meinen Kelch auf Euch, wunderschöne, ehrbare Fürstin Firnja und Euch, edelmütiger und tapferer Syr Zaran, auf dass Euch Alun allzeit sein Licht sende! Auf Euch!«
Syr Xardrus, der hohe imbrische Paladin des Lichtgottes.
Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Kelch – jeder in der Halle, der ein Glas oder einen Kelch hatte, folgte seinem Beispiel. Vorsichtig nahm der hohe Paladin wieder Platz, fast hätte er sich neben seinen Stuhl gesetzt. Der letzte Schluck schien einer zu viel gewesen zu sein. Unvermittelt kippte Xardrus nach vorne und schlug mit seinem Kopf hart auf den Tisch. Firnja sprang erschrocken auf – ihr Schrei ließ alle bestürzt nach vorne blicken. Der Hochfürst winkte Wael herbei, der den Puls des Paladins zu tasten versuchte. »Er ist tot!«, rief er bestürzt, packte ihn an den Beinen und hievte ihn auf den Tisch. Der alte Paladin war natürlich in seiner verzierten Garderüstung erschienen. Nachdem sie ihm mühsam die Brustplatte abgenommen hatten, versuchte Wael vergeblich, ihn durch rhythmisches Drücken wiederzubeleben. Auch ein Gebet der Ianna-Druidin kam zu spät. Schließlich trat ein Mann im Gewand eines Notors an den Tisch. Er betrachtete den Toten und flüsterte dem Hochfürsten etwas ins Ohr. Dieser wies daraufhin die Wachen an, die Türen der hohen Halle zu verschließen.

Ich blickte mich um: wohin ich auch sah, erschrockene Gesichter, Tränen in den Augen der Frauen und Schweiß auf der Stirn der Männer, Schluchzen und Gejammer. Welch traurige Wendung hatte diese fröhliche Feier genommen. Zaran geleitete seine Gemahlin mit gezücktem Schwert aus dem Festsaal. Auch ihr kullerten Tränen über die Wangen. Ich blickte mich um. Syr Wunnar hatte sich neben mich gesetzt und nippte nervös aus seiner flachen Schnapsflasche, die er immer um den Hals trug. Am anderen Ende unseres Tisches sah ich Lorgrim, den stillen Wanderer, der ebenfalls einen beunruhigten Eindruck machte. Aber wer tat das nicht im Moment? Am Ende der Tafel des Hochfürsten saß Syr Deodan, der vom Lanzenstechen einige Blessuren mitgenommen hatte. Auch die übrigen Ritter des Turniers saßen an den Tischen in der Nähe des Hochfürsten.

Ich konnte Vivana und Tarquan nicht sehen, sie mussten sich scheinbar schon vor dem Nachtmahl davongestohlen haben. Ich wollte mehr erfahren und ging mit Widun nach vorne. Da lag er, der alte Paladin. Seine Haut war seltsam rot verfärbt und seine Zunge hing ihm aus dem Mund. Der Heiler Wael und der Notor – Fjalgur, wie ich aus den Gesprächen erfuhr – untersuchten gerade den Leichnam. Sie versuchten Arme und Beine des Toten zu bewegen, doch waren diese scheinbar zu steif dafür. »Leichenstarre, so schnell, das ist höchst seltsam!«, hörte ich den Notor flüstern.

Die Wachen führten auf Anweisung des Waffenmeisters Radex die Gäste in Gruppen aus der hohen Halle hinaus. Die Ehrengäste wurden in der Inneren Burg untergebracht, während wir zu einem Schlafsaal in einem Gasthaus der unteren Regenburg geleitet wurden. Vier askalonische Wachen blieben vor der Herberge postiert. Dank des vielen Weins schliefen wir rasch ein. Der Blasendruck - oder waren es Albträume - ließen mich in der Nacht jedoch mehrmals wach werden und den Abtritt aufsuchen. Irgendwann fiel ich dann aber doch in einen flachen Schlaf.

Die rot-goldenen Strahlen der Morgensonne hatten mir wohl an der Nase gekitzelt, denn ich wurde wach durch einen Niesenanfall. Urota lag noch im Bett, drehte sich auf die andere Seite und gab grunzende Schnarchlaute von sich, seine Beine hingen weit über die Bettkante hinaus. Mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt, in einem trollischen Sägewerk zu übernachten. Ich sprang aus dem Bett und streckte mich. Auf dem Weg zum Abtritt kamen mir Anneliese, Freya und Maluna entgegen, die sich bereits im Frauen-Waschraum frisch gemacht hatten und ins Zimmer nebenan gingen. Vom Treppenabsatz aus hörte ich Widuns markante Stimme, der mit dem Wirt über eine Bierweihe verhandelte, damit dieser das Gebräu noch teurer würde verkaufen können. Zurück im Zimmer machte Saradar Liegestütze. »Von nichts kommt nichts!«, war sein Kommentar als ich wohl einen Moment zu lange seinen muskulösen Rücken bewundert hatte. Auch Tarkin war nicht faul und machte Klimmzüge an einem Querbalken. »Als Ritter ist körperliche Ertüchtigung unheimlich wichtig!«, erklärte er mir schnaufend.
Ich sah auf mein Bäuchlein – nun ja, nach dem festlichen Mahl gestern musste ich es jetzt wohl eher »Wamst« nennen - hinab und entschloss, auch ein paar Übungen zu machen – wenn nicht Widun gerade von unten zum Frühstück gerufen hätte.

Wir waren im »Braunen Tropfen« untergekommen, einem rustikalen Gasthaus mit einem dutzend Gasträumen. Der Schankraum war voll. Widun stellte uns dem Höhlenschrat vor, der hinter der niedrigen Theke stand: »Darf ich Euch vorstellen, das ist Farenn, genannt ›Donnerhorn‹. Ich habe heute Morgen bereits sein Bier gesegnet und er hat mir einige Geschichten über die Schluchtenstadt der Höhlenschrate erzählt. Ich muss da unbedingt einmal wieder hin. Nicht dass sie dort noch Mnamn abtrünnig werden!« Der Wirt lachte bei diesen Worten: »Glaube ich kaum, mein lieber Widun. Solange es Bier auf der Welt gibt, muss sich Mnamn keine Sorgen machen!«
»Sagt, Ihr Kerle und Weiber aus dem Bund aus – Rotz und Wasser?«, sah der Wirt fragend in die Runde. »Blut und Feuer!«, korrigierte ihn Tarkin scharf. »Schlimm, was da gestern vorgefallen ist, aber von uns hat sicher keiner geheult!« Widun versuchte den Kobold zu beruhigen: »Farenn hat eine etwas derbe Art von Humor, nimm es ihm nicht übel.«
Der Höhlenschrat mit seinen asymmetrischen Hörnern war neugierig: »Was ist da gestern eigentlich vorgefallen? Die Soldaten wollen nicht so recht damit rausrücken.«
Widun beugte sich über die Theke und flüsterte: »Also ich glaube ja, der alte Paladin hat ein falsches Bier getrunken, war bestimmt nicht gesegnet! Ist einfach so vornüber gekippt, konnten nichts mehr machen. Wenn Du mehr erfährst ...« Farenn nickte: »Ja, ja, wenn ich was Neues höre, lasse ich es Dich wissen. Wie sieht es aus, Blut-Bund? Etwas Blutwurst zum Frühstück?«
Tarkin schüttelte den Kopf: »Nein, aber ich hätte gerne ein Dünnbier.« Für einen Silberling wanderte Besagtes über die Theke.

Ich schaute mich im Schankraum um. Am runden Holztisch vor mir spielten ein paar imbrische Gäste »Spinnen und Zyklopen«, ein Würfelspiel, um sich die Zeit zu vertreiben. In einer Ecke erkannte ich Syr Deodan, der mit zwei seiner Soldaten am Tisch saß. Als er uns sah, winkte er uns zu sich.
»Das war Mord! Syr Xardrus war ein frommer Anhänger Aluns und einer der höchsten Paladine des Reiches, nie hätte ihn der Lichtgott vor seiner Zeit abgerufen!«, ereiferte sich der Ritter.
Tarkin sah ihn fragend an: »Aber wie? Mit Gift?«
»Das weiß ich nicht!«, zuckte Deodan mit den Schultern. »Selbst wir stehen jetzt unter Stubenarrest, nur zu gerne würde ich herausfinden, was genau passiert ist und wer dahintersteckt!«
»Habt Ihr denn irgendeinen Verdacht?«, wollte ich wissen.
»Ich denke jeder käme in Frage, der ein Interesse daran hat, das Verhältnis zwischen Imbrien und Askalon zu stören. Ein Mord an einem hohen imbrischen Paladin während der Vermählungsfeier auf der Burg eines der wichtigsten askalonischen Hochfürsten! Mir fällt gerade ein, dass der Hochfürst und der Graufuchs noch auf der Wegburg einen heftigen Streit hatten, ich kann mich leider nicht mehr an den genauen Grund erinnern. Aber vor dem Turnier schienen sie sich ja wieder versöhnt zu haben.«

Syr Deodan ereiferte sich wieder: »Und ich muss hier untätig rumsitzen! Stehe ich etwa auch unter Mordverdacht?«, rief er in Richtung des Wachsoldaten, der gerade für seine Kameraden ein Frühstück beim Wirt holte. Saradar stellte sich ihm in den Weg: »Sagt, wisst Ihr, wo unsere Freundin Vivana untergebracht wurde?« Der Soldat sah eingeschüchtert aus, zumal er sich mit den vier Bierkrügen und zwei langen Broten unter den Armen nicht hätte wehren können.
»Ich weiß nichts von einer Jujin, und wenn, dürfte ich Euch nichts sagen!« Der Soldat versuchte, den Barbaren links anzutäuschen, um dann rechts an ihm vorbeizukommen. Keiner hatte ihm gesagt, dass Vivana eine Jujin-Vergessene war, er wusste sehr wohl etwas!
Urota war zur Stelle, packte den Soldaten von hinten am Schlafittchen und hob ihn mitsamt Bier und Broten in die Höhe, sodass seine Füße Luftschritte machten. Die drei anderen Soldaten vor der Tür hatten wohl mitbekommen, dass es drinnen Ärger gab und kamen mit Hellebarden im Anschlag ins Gasthaus.
Der Höhlenschrat war plötzlich sehr aufgeregt und rief: »Heh, Troll, lasst den Wachsoldaten runter, die befolgen doch auch nur ihre Befehle!«
Saradar nickte Urota zu und dieser ließ den Soldaten wieder runter – nicht ohne ihm ein Brot und ein Bier abzunehmen. Nach zwei Bissen war das Brot im Mund des Trolls verschwunden und nach zwei Zügen aus dem Bierkrug hinuntergespült. Die Wachsoldaten wagten nicht zu protestieren und verließen eiligst wieder die Herberge. Wir hörten, wie die Tür von außen verriegelt wurde.
»Vielen Dank, jetzt sind wir hier völlig eingeschlossen!«, schimpfte Donnerhorn. Jetzt wurde mir klar, warum er diesen Spitznamen hatte.
Syr Deodan winkte uns wieder zu sich und tuschelte verschwörerisch: »Ich habe eine Idee, wie wir an Hinweise gelangen können. Wir bräuchten nur jemanden, der klein genug ist, um hier unbemerkt rauszuschlüpfen.« Sein Blick wanderte dabei zwischen Tarkin, Anneliese und Freya hin und her. »Die Wachen haben die Fenster sicher im Blick. Es muss noch einen anderen Weg aus der Gaststätte hinaus geben!«

Draußen wurden die Riegel wieder beiseite geschoben. Der dicke Heiler Wael und der Notor Fjalgur in seiner dunkelblauen Robe betraten das Gasthaus in Begleitung der vier Wachsoldaten.
Alle Gäste wurden angewiesen, auf ihre Zimmer zu gehen. Sie wollten die einzelnen Gruppen nacheinander in einem Nebensaal des Schankraums zum Todesfall befragen. Als wir an der Reihe waren, fragte uns Fjalgur zunächst, wer wir seien und warum wir hier wären. »Wir sind der ›Bund aus Blut und Feuer‹ und auf Einladung des Hochfürsten wir, da wir in der Schlacht an der Wegburg an seiner Seite gegen die Tekk-Invasoren gekämpft haben.« Fjalgur fuhr mit seiner Vernehmung fort: »Habt Ihr etwas Verdächtiges bemerkt? Habt Ihr eine Idee, wer ein Interesse daran haben könnte, Xardrus zu ermorden?« - »Also war es doch Mord?«, warf Tarkin ein. Der Notor ignorierte ihn einfach. »Vielleicht jemand, der einen Keil zwischen Askalonier und Imbrier treiben will? So einer wie dieser Syr Madhur«, merkte ich an.
»Die Befragungen werden vielleicht noch ein paar Tage dauern, solange müsst Ihr mit dieser Gaststätte vorlieb nehmen. Falls sich weitere Fragen auftun, weiß ich ja, wo ich Euch finden kann!« - »Tage?«, fragte Saradar erbost. »Ich bleibe doch nicht in dieser Gaststätte hocken, während die Ul'Hukk schon wieder ihren nächsten Angriff aushecken!« Wael versuchte ihn zu beruhigen: »Sobald wir alle befragt haben, könnt ihr die Gaststätte verlassen und Euch in der Stadt frei bewegen.« »Wisst Ihr vielleicht etwas über den Verbleib unserer Jujin-Freundin Vivana?«, fragte ich. Die beiden Ermittler sahen sich schweigend an, ließen meine Frage unbeantwortet, erhoben sich dann von ihren Plätzen und ließen uns von den Wachen wieder auf unsere Zimmer bringen. Deodan wurde die Treppe runtergeführt. Ich konnte ihm ansehen, dass er nur darauf wartete, jemandem mal so richtig die Meinung sagen zu können. Tatsächlich hörten wir einen Teil der Befragung durch die dicke Holzdecke hindurch. Ein Wort blieb mir besonders in Erinnerung: »Madhur.«