Samstag, 15. April 2017

Des Henkers Braut - Kapitel 5: Die Sklavin und die Bruderschaft

Unterdessen auf dem Nordmarkt …

Während es Widun und Anneliese mit Wehmut füllte, den Nordmarkt bald wieder verlassen zu müssen - was nicht nur am Angebot an magischen Artefakten und Biersorten lag - freute sich Tarkin dagegen, dieses »stinkende Lager«, wie er es gern nannte, gegen frische Luft und Schwertgefechte eintauschen zu können. Er brannte darauf, sich auf den Weg nach Süden zu machen und hatte sich bereits bei Tarso informiert: Die nächsten Ziele würden Agilis und Parapolis sein, wo die Händler dann ihre Waren aus dem hohen Norden feilbieten würden. Tarso hatte seine Besorgnis geäußert, dass sie nicht auf dem gewohnten Weg zurückkehren könnten, wenn sie noch lange warteten. Täglich trafen Tauben und Herolde ein, die vom Vormarsch der Tekk auf Askalon berichteten. An einigen Stellen sei der Verteidigungswall schon eingebrochen. Heute war dann auch noch die Nachricht von der Belagerung Taraxhalls eingetroffen, was Tarsos Sorgenfalten nur noch tiefer machte. Diese Stadt galt nicht nur als Bastion der Menschen und Schutzstadt für das ganze thalische Imperium, sie war auch ein wichtiger Wegpunkt für Karawanen auf der Reise nach Süden.

Sie hörten Tarso schimpfen: »Diese verdammten Tekk! Jetzt bricht durch sie auch noch der Pfefferweg zusammen!«

Die drei Gefährten hatten für Reparaturen an den Wagen mehrere Seile und Zeltplanen besorgt und betraten gerade das »offene Feld«, einen größeren Platz innerhalb des Nordmarktes, der für die Pferde vorgesehen war. Hier standen auch die Wagen, die repariert werden mussten.
Ein Reiter kam angeprescht, und Widun musste einen Satz zur Seite machen. Von hinten sah er bloß dessen langen, dunklen Kapuzenumhang. Der Reiter hielt abrupt inne und machte kehrt. Er war vermummt; Widun fielen mehrere versiegelte Schriftrollentaschen auf. Der dunkle Bote lenkte sein Ross genau auf Widun und seine beiden Koboldbegleiter zu: »Seid ihr die Söldner, die für Tarso Payn arbeiten?« - Sie antworteten ehrlich und erhielten ein versiegeltes Pergament. Er verlangte drei Silberlinge für seine Dienste.

Als Tarkin das Wachssiegel bemerkte, riss er Widun die Schriftrolle aus der Hand: »Das Zeichen der gekreuzten Schwerter, das ist für mich!«

Eilig entrollte er das Pergament und begann, laut vorzulesen:

An die Ehrenwerten Krieger Syr Edwen und Tarkin, genannt »Der Krähenfresser«
Allen Guten Göttern zum Gruße, Ihr edlen Mitstreiter der Bruderschaft der Gekreuzten Schwerter, Liebe Freunde,
Ihr seid nun schon einige Zeit mit der skilischen Karawane unterwegs, um die Wehrlosen zu schützen und den Gerechten beizustehen. Ich hoffe, es ist Euch wohl ergangen und ihr konntet weitere Kämpfer für die gerechte Sache auf Eurer Reise finden. Toran und der kleine Rest unseres Bundes haben hier in Askalon weiter gegen die Tekk gekämpft und konnten viele Flüchtlinge vor dem sicheren Tod bewahren. Seit Taraxhall von den Ul’Hukk belagert wird, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Pfefferweg zusammenbricht und damit auch unsere Wegburg über dem Rösserpass zu Fall gebracht wird. Was das für den Kampf gegen die Invasoren bedeutet, könnt ihr euch sicherlich ausmalen. Neben diesen schlechten Nachrichten, muss ich euch noch eine weitere, viel schlimmere Mitteilung machen: Torans heldenhafter Bruder Benesch, der als Lichtbringer einen großen Teil des askalonischen Heeres gegen die Tekk angeführt hat, ist verschwunden. Toran ist nun auf eigene Faust aufgebrochen, ihn zu finden und vor der Rache der Ul’Hukk zu bewahren. Stellt Euch vor: ganz allein, nur mit Ross und Schwert, in feindliches Gebiet jenseits des Walls. Ich hoffe, dass Euch dieses Schreiben noch rechtzeitig erreicht. Kommt bitte schnell zur Wegburg über dem Rösserpass, damit wir einen Plan entwickeln können, wie wir Toran und seinen Bruder retten können. Ich harre Eurer! Beeilt Euch!
Euer Freund und Bruder, Notor Gulim, genannt »Der Ehrliche«. Tarkin sah verwirrt und überwältigt aus, geistesabwesend schob der das Pergament in seinen Gürtel. Dann sprang er plötzlich auf und rannte in Richtung Karawanenlager: »Folgt mir, wir haben keine Zeit zu verlieren!«

Als Widun und Anneliese bei Tarsos Zelt anlangten, sahen sie, wie Tarkin und Tarso bereits heftig miteinander diskutierten. »Ich verstehe!«, gab Tarso gerade zu, »aber ihr müsst doch auch meine Position verstehen! Ich kann hier nicht ewig warten! Ich gebe euch zwei meiner älteren Pferde, dafür erhaltet ihr zunächst keinen Ausstand! Holt eure Gefährten in Medea ab und brecht dann direkt nach Taraxhall auf. Wenn ihr verhindern könnt, dass der Pfefferweg unterbrochen wird, dann ist das auch in meinem Interesse! Ich hoffe mit euch!« Ohne weitere Abschiedsworte holten sie zwei alte Rappen beim Tiermeister und brachen auf. Sie hatten eiligst das Nötigste zusammengepackt.

Da es in den engen Gassen und dem Gedränge des Nordmarktes oft zu Fuß schneller voran ging, führten Widun und Tarkin die Rappen am Zügel, Anneliese hatte es sich hoch zu Ross bereits bequem gemacht. Sie durchquerten gerade den berüchtigten östlichen Teil des Marktes, vor dem sie Tarso immer wieder gewarnt hatte, als bei einem Zelt in der Nähe die Eingangsplane mit einem Schrei hochgerissen wurde. Mit großen, geschmeidigen Sprüngen stürmte eine rötliche Gestalt aus dem Zelt und versteckte sich im Schatten eines Nachbarzeltes. Sie bedeutete den drei Gefährten mit einem Finger vor dem Mund, sie nicht zu verraten. Einen Augenblick später stürzte eine schwerbewaffnete Gestalt mit exotischer Rüstung und pockennarbiger goldgelber Haut aus dem Zelt hervor: ein Krieger aus Hon. Er musterte die Umgebung. Schließlich trat ein Ausdruck der Verzweiflung in seine mandelförmigen Augen. Danach trat ein weiterer Mann aus dem Zelt. Er stammte seiner Hautfarbe nach ebenfalls aus Hon und trug sein Hemd unten halb aufgeknöpft, sodass sein fetter Wamst genug Platz zur Entfaltung hatte. Der Dicke schien zornig zu sein und brüllte den Hon-Krieger an, der daraufhin kopflos in irgendeine Richtung davonstürzte. Jetzt hatte »Hängebauch«, wie ihn Tarkin schon im Geiste benannt hatte - immerhin reichte ihm der Bauch bis über die Knie - auch Widun und die Kobolde erblickt und schwabbelte mit Mühsal auf sie zu. Blut tropfte von seinen wulstigen Lippen und hinterließ Flecken auf seinem feinen Seidengewand.

Der dicke Jujin fragte sie mit einem fremdländlichen Dialekt: »Habt ihr eine Alwenfrau gesehen? Wohin ist sie gelaufen?«

Tarkin zögerte nicht lange - und zeigte in die falsche Richtung. Schnaubend - ob vor Wut oder Anstrengung war nicht ganz klar - entfernte sich der Jujin. Er zog einen kleinen Säbel aus seinem Gürtel und rief unablässig nach der Frau: »Komm zurück! Du gehörst mir, du Elende! Ich habe viel Gold für dich bezahlt!«

Als er endlich außer Sicht war, wandten sich die drei der roten Gestalt zu. Sie war tatsächlich eine Alwe, eine Feueralwe um genau zu sein. Ihre rötliche Haut leuchtete durch ihr dünnes Seidenhemd, an ihrem Hals und ihren Wangen Adern wie Lavaflüsse ihrer feurigen Heimat Pyr Dragis. Widun und die Kobolde waren von ihrem Äußeren fasziniert, so selten war ihr Anblick in den thalischen Reichen.

Die Alwe ergriff schließlich das Wort: »Möge Feuer eure Herzen wärmen, und Flamme eure Feinde tilgen!«

Sie sprach nur gebrochen die Gemeine Sprache, doch ihre Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Hatte sie eben noch verletzlich gewirkt, wie sie vor ihnen kauerte, nahm sie jetzt Haltung an und ein wiedererlangter Stolz sprach aus ihren goldgelb glühenden Augen. Widun - immer noch geblendet von ihrem Anblick - bot ihr etwas unbeholfen an, ihr bei der Flucht zu helfen. Sie willigte dankbar ein.

Zu viert verließen sie den Nordmarkt in Richtung Medea. Sie hatten sich jeweils zu zweit auf ein Pferd gesetzt, Tarkin ritt mit Widun, Anneliese saß bei der Feueralwe. Auch Widun und Anneliese waren jetzt erleichtert, den Nordmarkt hinter sich zu lassen. Hoch zu Ross genossen sie die fantastischen Wolkenbilder, die das Wetter an den Himmel zauberte. Als die Sonne unter den Horizont tauchte, wurde es Zeit ein Nachtlager aufzuschlagen. Hinter drei moosbewachsenen Felsen suchten sie Zuflucht vor den aufkommenden Winden. Die Feueralwe begann zu schlottern, als Kind des Feuers war sie die Hitze ihrer vulkanischen Heimat gewohnt. Widun reichte ihr die Pferdedecke. »Wie aufmerksam«, bedankte sich die exotisch-schöne Alwe, »ich heiße übrigens Maluna.« Anneliese verfolgte das Ganze mit einem missmutigen Blick. Tarkin sah seine Chance gekommen, sich an die kleine Koboldmagierin zu kuscheln, erhielt aber einen Korb, woraufhin er sich schmollend unter den schrägen Felsen rollte.
Anneliese verspürte den Drang, sich auf die moosigen Felsen zu legen, den Blick aufs Sternenzelt gerichtet. Sie merkte, wie sich langsam ihre Aura wieder auflud.

Widun hatte die erste Wache übernommen. Als diese ereignislos zu Ende gegangen war, weckte er Anneliese auf. Diese schreckte er aus tiefer, arkaner Kontemplation hoch; albtraumhafte Bilder huschten noch an ihrem inneren Auge vorüber, die sie jedoch nicht deuten konnte. Sie wischte sich über die großen Augen, setzte sich auf und ließ ihren Blick über die ruhig-düstere Welt um sich herum schweifen.
Widun hatte sich hingelegt, nachdem er sich durch einen Schubs versichert hatte, dass Anneliese auch wirklich wach war.
Die kleine Magierin lauschte der absoluten Stille, dann war es ihr, als ob sie ein Flüstern aus großer Ferne vernahm; seltsame Laute in einer alten, vergessenen Sprache - und dann - Schreie des Wahnsinns. Sie blickte sich um - war da jemand? Was war das? Ein Glitzern? Sie beschloss nachzusehen und rutschte den moosigen Felsen hinunter - kein Grund die anderen zu wecken.
Sie passierte einen hohlen Baum und sah dann, wo das Glitzern wohl hergekommen war. Sie stand an einem kleinen Teich, auf dessen ruhiger Oberfläche sich das Sternenlicht spiegelte. Komisch - kein Quaken eines Froschs war zu hören, kein Fisch unterbrach die glatte Wasserfläche. Sie drehte sich zum Gehen, da sah sie es: ein seltsames Funkeln, nicht richtig grün, nicht richtig blau - aber eindringlich. Es schien aus dem hohlen Baumstumpf zu kommen. Als sie gerade hineinblicken wollte, kam ein kleines, leuchtendes Wesen herausgeschossen. Es schlug mit winzigen Flügeln und hinterließ eine Spur aus Glitter, als es sich spiralig in die Luft schlängelte. Dann war es weg - nur noch Sternfunkeln. Anneliese versuchte die letzten Leuchtpartikel zu fangen. Als sie jedoch ihre Finger öffnete, waren sie verschwunden.

Die Morgensonne küsste die vier Reisenden wach. Tarkin hatte bereits die Pferde gefüttert und die Sachen gepackt. Anneliese hatte gar keine Zeit, den anderen von ihrem nächtlichen Erlebnis zu erzählen - andererseits hätten sie ihr wahrscheinlich auch gar nicht geglaubt: »Das hast du alles nur geträumt!«, hätten sie ihr weißmachen wollen.
Der Koboldsöldner hatte es augenscheinlich sehr eilig. Nach kurzem Frühstück brachen sie auf. Das Wetter meinte es heute gut mit ihnen - sie hatten Rückenwind und kamen schnell voran.

»Was ist das?«, fragte sich Tarkin, als er zwei dunkle Umrisse auf einem Hügel wahrnahm, die sich gegen die Abendröte abhoben. Beim Näherkommen konnten sie erkennen, dass es sich um zwei Galgen handelte, an denen stark verweste Leichen mit fehlenden Händen und Augen baumelten. Sie versuchten, das schaurige Bild schnell hinter sich zu lassen. Nachdem sie den Hügel überquert hatten, konnten sie bereits die Lichter Medeas sehen. Sie beschlossen, in Medea zu übernachten und gaben ihren Pferden die Sporen. Die Straße wurde holpriger, am Wegesrand verdichteten sich die Sträucher und Büsche zu einem tiefen Wald.
Am Horizont tauchten die ersten Sterne auf, der helle Mond erleuchtete bereits die Baumwipfel. Von einem weiteren Hügel aus hatten sie einen Blick auf die im Lichte Zamas erstrahlenden Weinberge und sahen das Spiegelbild des Mondes im Flussbett. Plötzlich zischte etwas Leuchtendes an den Gefährten vorbei - es bog nach rechts in den Wald ab. Reflexartig sprang Anneliese von ihrem Ross und rannte hinterher. Die anderen drei folgten ihr verdutzt ein paar Schritte in den Wald hinein.
Nach einer Weile kehrte die Koboldin gesenkten Hauptes zurück: »Schon wieder entwischt …«

Sie folgten dem Weg noch einige hundert Schritt und stellten dann fest, dass sie sich wohl an der letzten Abzweigung geirrt haben mussten, eigentlich hätten sie schon längst vor dem Stadttor stehen müssen.

»Was war das?«, erschrak Maluna. Aus einiger Entfernung hörten sie eine Mischung aus Rufen und Waffengeklirre. Sie folgten dem Lärm und konnten schließlich Stimmen hören, einige davon kamen ihnen bekannt vor, zumindest Widun und den Kobolden …