Mittwoch, 11. April 2018

Der letzte Tanz - Kapitel 4: Ein kleiner Umweg

Im Norden, einen Viertelmond früher...
»Widun, was ist los? Du hast geschrien im Schlaf!«, rüttelte Anneliese den Mnamn-Priester wach.
»Anneliese, es geht dir gut! Ich habe geträumt, sie hätten dich auf dem Scheiterhaufen verbrannt!«, seufzte Widun erleichert, als er die kleine Koboldmagierin wohlbehalten vor sich sah.
»Mich doch nicht! Wenn hier jemand jemanden verbrennt, dann bin ich das!«, stellte Anneliese klar.
Saradar starrte die beiden aus leeren Augen an. Etwas Schwarzes tropfte aus seiner Nase. Er saß noch so da, wie sie ihn am Vorabend zur Ruhe gebettet hatten.
»Guten Morgen Saradar, wie geht es dir?«, fragte ihn Anneliese freundlich. Er zeigte keine Reaktion und schien durch sie hindurchzuschauen. Der Reliquienknochen ruhte auf seiner Brust, die sich gleichmäßig hob und senkte, als würde er schlafen.
»Nicht viel los mit dem Barbaren«, stellte Tarquan fest.
»Wir sollten aufbrechen, es ist noch ein weiter Fußweg bis zum Nordmarkt.«
Anneliese fütterte das Wiesel, das ihr gegenüber sehr scheu war und nach einem kurzen Frühstück setzte sich die Gruppe wieder in Bewegung. Die Leute, die ihnen auf dem Weg begegneten – meist zu Pferd oder auf einem Gespann – blickten verwundert auf das seltsame Bild, das sich ihnen bot: eine Koboldin, ein Halbschrat und ein Einäugiger mit einem stummen Barbaren im Schlepptau. Leider bot ihnen niemand ein Pferd oder einen Wagen an, der ihre Reise beschleunigt hätte, alle blieben auf Abstand.
Mit Blasen an den haarigen Koboldfüßen und Krämpfen in den strammen Halbschraten-Waden ließen sie sich erschöpft zum Nachtlager nieder. Nur Saradar schien die Strapaze nichts auszumachen, er saß wieder an einen Baumstamm gelehnt und blickte starr in die Dunkelheit.
Anneliese schreckte aus dem Schlaf hoch, weil sie etwas an der Nase gekitzelt hatte: da war es wieder, das glitzernde Etwas! Nach einem Augenzwinkern war es jedoch in die Nacht verschwunden. »Eine Fee!«, fiel es Anneliese plötzlich wie Schuppen von den Augen. Sie schlief wieder ein und träumte davon, wie es wohl wäre, solch ein Wesen aus purer Magie als Begleitung zu haben.

Am Nachmittag des nächsten Tages erreichten sie den Nordmarkt. Das Wiesel des Barbaren war aus seinem Versteck gekommen und kletterte aufgeregt von einer Schulter zur anderen, wo es jeweils kurz verharrte und sich umschaute. Anneliese warf Radaras – so hatte es der Gjölnar getauft – gierige Blicke zu, wie gerne hätte sie auch so einen putzigen Begleiter, sie brachte es aber nicht über's Herz, Saradar seinen wuseligen Begleiter wegzunehmen.
Sie kamen zum Söldnerlager und erblickten zunächst kein bekanntes Gesicht. Tarquan sprach mit einem Söldner am Eingang und sie wurden schließlich zum Anführer durchgelassen. Als sie die Plane zum Hauptzelt anhoben, blickten sie auf den muskulösen Rücken eines riesigen Barbaren. Im Feuerschein schien es fast so, als ob sich die Tätowierung einer blaugrauen Schlange über seine Schulter bis ins Gesicht hochwinden würde.
Der Söldnerhauptmann Halar Khor'Namar.
Halar Khor'Namar drehte sich um und begrüßte knapp den unerwarteten Besuch. Er rauchte Pfeife und blies den Rauch in Ringen unter das Zeltdach.
Tarquan ergriff das Wort: »Hauptmann Halar, seid gegrüßt! Wir haben einen Stammesbruder von euch mitgebracht, der von einem Zurakpriester verflucht wurde, nur ein Heiler aus dem Stamm der Khor'Namar könne ihm helfen.«
Halar schaute in Saradars ausdruckloses Gesicht: »Pferd, sei gegrüßt! Ich kenne ihn, das ist doch Saradar! Natürlich helfe ich meinem Stammesbruder!«
Er rief zwei seiner Männer, die Saradar in ihre Obhut nahmen. »Bringt ihn zu unserem Keldyr-Druiden, vielleicht kann er ihm ja helfen!«
Tarquan blickte unter sich: »Halar, ich habe euch schon einmal darauf angesprochen. Ich möchte mich freikaufen und mit meinen neuen Freunden gen Süden in den Kampf gegen die Tekk ziehen!«
Halar wirkte zunächst überrascht, dann trat kurz ein zorniger Ausdruck in sein Gesicht, der sich aber schnell wieder abmilderte: »Pferd, natürlich hast du das Recht, dich freizukaufen. Ich bedaure dein Weggehen, wir haben viele erfolgreiche Kämpfe zusammen bestritten. Da steckt doch bestimmt eine Frau dahinter.« Er zwinkerte Tarquan zu, der mit einem Schmunzeln antwortete. Der Hauptmann hielt die Hand auf und Tarquan ließ einen klimpernden Beutel hineinfallen. »Hier sind die zweihundert Silberlinge, mit denen Ihr mir einst geholfen habt.«
Halar legte ihm die andere Hand auf die Schulter: »Möge Osir dich mit Tapferkeit segnen und siegreich möge dein Weg sein!«
Es schien eine Art von Ritual zu sein, denn Halar drehte sich weg und verschränkte die Arme, während Tarquan wortlos das Hauptzelt verließ und zielstrebig auf ein Nebenzelt zuging. Einen Augenblick später kam er mit einer kleinen Truhe zurück: »Wir brauchen Pferde!«

Bei einem Händler kaufte er zwei stattliche Schimmel. Sie ritten einem lauen Wind aus Südosten entgegen, die letzten Zelte des Nordmarktes verschwanden hinter ihnen.
Sie suchten sich einen Lagerplatz für die Nacht, als die Sonne hinter dem Schwarzeisengebirge in weiter Ferne unterging. Als es dunkel wurde, hörten sie das leise Heulen einiger Wildhunde. Pferd bot Widun eine Flasche an: »Magst du etwas von dem Gesöff?« Widun konnte nicht widerstehen und tat sich gütlich an dem dunklen Bockbier. Schnell fielen ihm die Augen zu - Mnamn war zufrieden.

Am nächsten Morgen hatte Widun Blähungen vom Bockbier des Vorabends, was ihm jedoch nicht unangenehm war. Anneliese hielt sich die Nase zu: »Du Stinkbombe! Als nächstes studiere ich Windmagie – damit ich deine Darmwinde von mir fernhalten kann!«
Sie ritten weiter nach Süden und kamen nach zwei Tagen an einen provisorisch errichteten Grenzwall. Pferd spekulierte: »Vermutlich haben sie den wegen der drohenden Tekkinvasion aufgeschüttet!«
Nur mit Mühe konnten sie ihn mit ihren Pferden überqueren. Im Osten zeichnete sich schließlich die Silhouette einer Stadt ab: »Das muss Tremen sein!«, vermutete der Söldner. »Es ist nicht mehr weit bis zur Grenze zwischen Imbrien und Askalon.«
Am Abend erreichten sie ein Bergmassiv, die Pferde hatten Mühe, sicheren Tritt zu finden auf den schmalen, mit groben Steinen bestreuten Pfaden, die sich den Berg hinaufwanden.

Plötzlich zog von Süden her eine schwarze Wolke heran.
»Das ist doch keine ...«, ein lautes Krächzen schnitt Tarquan das Wort ab. Es waren tausende Krähen, die da über ihren Köpfen schwirrten, den Himmel verdunkelten, in Schleifen und Spiralen durcheinander flogen, die einer geheimen, dämonischen Logik zu folgen schienen.
»Wenn hier Krähen sind, sind bestimmt auch die Ul'Hukk nicht weit!«, vermutete der Söldner. Sie versteckten sich schnell hinter einem großen Felsen. Und tatsächlich, eine Kettenschaft aus vielleicht fünfzig Tekksoldaten kletterte über ihnen in der Steilwand. »Ich fürchte, wir müssen uns einen anderen Weg suchen«, stellte Tarquan trocken fest.
»Aber ich könnte doch, mit Feuer ...«, wollte Anneliese einen Vorschlag machen.
»Wir hören besser auf Pferd, zu dritt haben wir gegen diese Horde keine Chance!«, unterbrach sie Widun.
Sie nahmen einen Weg, der sie um die Steilwand herumführte, sodass sie außerhalb des Blickfeldes der Tekk liegen würden. Der Anstieg war beschwerlich, die Felsen glitschig – es musste hier am Vortag heftig geregnet haben, kleine Gebirgsbäche waren zu reißenden Strömen geworden. Das nervenaufreibende Krächzen der pechschwarzen Krähen begleitete sie bis in die Nacht. Sie lagerten an einem abschüssigen Berghang. Sie vermieden es, ein Feuer zu machen. Die Nähe der Tekk ließ sie keine Ruhe finden.
Einer der Schimmel scheute plötzlich. Tarquan sah einen dunklen Schatten vor dem weißen Pferd vorbeihuschen. Er bekam noch mit, wie sich einer der Schimmel los riss, auf dem glatten Fels den Tritt verlor und mit einem erbarmungswürdigen Wiehern in die Schlucht stürzte.

Alle drei waren plötzlich hellwach – sie bildeten eine Formation, indem sie sich Rücken an Rücken stellten. Widun konnte mit den Augen dank seines Schratenerbes die Dunkelheit am besten durchdringen: »Ich erkenne drei Tekk, die sich von der Hangseite her anschleichen.«
Anneliese hob ihre rechte Hand, sprach eine Zauberformel und schickte ihnen als Gruß einen Flammenstrahl entgegen. Einer der Tekk wich brennend zurück, doch die beiden anderen stürmten weiter heran. Widun bat seinen Gott um Unterstützung – einer der beiden Späher geriet ins Wanken und hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Dann klirrten die Schwerter. Anneliese brachte sich in Sicherheit, Widun und Pferd kämpften verbissen und schafften es – unterstützt von einem weiteren Flammenstrahl der Koboldmagierin, die Tekk in die Flucht zu schlagen.

»Wir müssen hier weg!«, entschied Tarquan. Sie führten den Schimmel am Zügel in der Dunkelheit über die schmalen Bergpfade. Schließlich konnten sie in der Dämmerung die Umrisse einer Burg an einem Berghang erkennen. Im Morgennebel sahen sie zahlreiche Schemen, die sich vor den Mauern hin und her bewegten.
»Freund oder Feind?«, überlegte Widun laut, als er mit dem Fuß in einen Rinnsal trat. Er erschrak, denn es war kein Wasser, das da den Hang herunterfloss - es war Blut.