Sonntag, 25. Februar 2018

Der letzte Tanz - Kapitel 3: Burg, Bund und Bruderschaft

Die Heimsuchung der letzten Nacht erschien mir wie ein Albtraum. Doch Malunas Frage am nächsten Morgen machte mir deutlich, dass es kein Traum gewesen war: »Faun, sag mal, kanntest du den Grünen? Der sah ja ziemlich mitgenommen aus. Hast du ihm das angetan?«
Ich versuchte es ihr zu erklären, doch sie schüttelte mit dem Kopf: »Ein andermal kleiner Faun, wir müssen los!«
Wir verließen den unheimlichen Wald und vor uns lag ein Teppich aus unendlichen grünen Hügeln. Edwen erklärte, dass die Landschaft ›Rössertal‹ genannt wurde. Es ging zügig die sanften Hügel hinauf und wieder hinunter. In den Tälern flossen schmale Bäche, an den Ufern wieder Auenlandschaften mit einzeln stehenden Bäumen. Am Wasser quakten die Frösche und kreisten die Mücken. Alles wirkte so friedlich. Doch in der Ferne zeigten sich schon bald wieder dunkle Wolken. Die Bäume wurden kahler, die Wiesen matschig. Die Hufe unserer Pferde schmatzten bei jedem Tritt. Krähen saßen auf den kahlen Ästen. Als wir uns näherten, begannen sie mit einem ohrenbetäubenden Krächzkonzert und kündeten von drohendem Unheil. Vor uns wuchsen schwarze Berge aus dem Boden. »Die östlichen Berge Askalons«, erklärte mir Edwen, »wir kommen bald an den Eingang zum ›Inneren Rössertal‹.«
Ich fragte ihn, warum es denn Rössertal hieße. Der freie Ritter aus Askalon kratzte sich am Kopf und meinte dann: »Die Frage ist berechtigt. Eigentlich müssten hier hunderte von Wildpferden galoppieren. Irgendetwas ist faul.«
Die Schatten der von dunklen Gewitterwolken verhangenen Bergspitzen stellten sich uns drohend wie Speere entgegen, die uns fernhalten wollten. Der Himmel verdunkelte sich, in der Ferne konnte ich Wetterleuchten sehen. Ein Fallwind von den Bergen kam auf, und es begann zu nieseln.
»Das ist das richtige Wetter für einen Khor'Namar, Keldyr sei gesegnet!«, freute sich Saradar.
Mein Fell wurde nass – ich bevorzugte Sonnenschein.
Auf den kahlen Bäumen wieder Krähen, ich hatte das Gefühl, dass es immer mehr wurden. Und dann dieses Gekrächze, dieses enervierende Gekrächze. Singvögel waren hingegen gar nicht mehr zu hören. Links und rechts flankierte uns mittlerweile das Gebirge, tosende Bäche ergossen sich ins Rössertal. Der Boden war durchtränkt, zum Teil konnte er die Wassermengen nicht mehr aufnehmen, und es hatten sich kleine Tümpel gebildet. Auf einer Anhöhe konnte ich durch Wolkenschleier hindurch die Umrisse einer Festung erkennen. »Da ist sie, die Wegburg!«, freute sich Edwen. Es wurde schlammig, wir kamen nicht mehr weiter und mussten von den Pferden absitzen. Zu Fuß quälten wir uns durch den weichen Boden. Es wurde steiler und der Anstieg verlangte mir das letzte ab. Die Burg schmiegte sich an die Südseite eines Berghangs. Auf der Mauer machte ich durch den Dunstschleier hindurch einige Schatten aus, die sich hin und her bewegten. Vivana erkannte in ihnen drei – menschliche – Soldaten. Hinter ihnen wurden jetzt zwei Türme sichtbar, ein einziges fahles Licht aus einem der Fenster des größeren Turms war zu sehen, ansonsten war alles düster.
»Da ist das Brückentor – langsam - lasst mich vorausgehen!«, warnte uns Edwen, doch Tarkin war bereits mutig weitermarschiert und begrüßte die drei Bogenschützen auf dem marode wirkenden Schutzwall: »Heho, ›Gekreuzte Schwerter‹, hier stehen Syr Edwen und Tarkin mit ihren Freunden. Lasst uns rein! Notor Gulim hat nach uns schicken lassen!«
»Heho, Fremde. Ihr beiden dürft vortreten. Aber die anderen – ist das ein Troll? Die müssen erst einmal zurückbleiben!«, kam als Antwort.
Die beiden übergaben ihnen den Brief von Notor Gulim. Nach einer Weile öffnete sich das Eingangstor der eigentlichen Wegburg. Es knarrte und knarzte, als der schwere Riegel des dicken Eichentores auf der Innenseite beiseite geschoben wurde. Der Innenhof, der dann folgte, sah wenig einladend aus. In der Mitte fand sich ein kleiner Brunnen, über dem ein Banner mit zwei gekreuzten Schwertern im rauen Wind flatterte. Ein breitschultriger, bärtiger Mann erteilte einem halben Dutzend junger Männer Befehle auf der anderen Seite des Hofes. Sie waren in Lederrüstungen gekleidet und übten sich im Kampf mit Schwertern und Schilden aus Holz. »Heda, geht zur Seite«, drängten sich einige Arbeiter an uns vorbei, die schwere Holzlatten zur Verstärkung des Burgtores trugen. In der Schmied hämmerte ein Mann unmotiviert auf einem glühenden Stück Eisen herum und fluchte mehrmals laut.
Von oben durchschnitt eine heitere Stimme die Trübsal: »Meine Freunde! Willkommen auf der Wegburg, der Heimstätte der ›Bruderschaft der Gekreuzten Schwerter‹!«
Sie gehörte einem graubärtigen Mann, der gerade eiligen Schrittes eine Steintreppe herunterkam.
Er umarmte Syr Edwen und Tarkin: »Brüder, schön, dass ihr da seid! Ihr müsst entschuldigen, wir haben viele neue - und leider auch im Kampf unerfahrene - Leute, die euch alte Haudegen noch nicht kennen!«
Edwen stellte ihm den Rest unserer Gruppe vor: »Notor Gulim, wir kommen gerade aus Altem und sollen euch Grüße von Fugan Tayn ausrichten. Das sind unsere Freunde, die uns im Kampf gegen die Tekk und bei der Suche nach Toran Rotall unterstützen wollen!«
Notor Gulim auf der Wegburg am Rösserpass.
Gulim musterte uns: »Der alte Tayn, ich frage mich, warum er keine Tauben mehr schickt. Ob es an diesen vermaledeiten Krähen liegt? Aber ich sehe, ihr hattet eine beschwerliche Reise. Kommt mit rein in meine Kammer, dort könnt ihr euch am Feuer erst einmal aufwärmen.« An die Wachen gewandt rief er: »Melda soll unseren Freunden einen Braten bereiten, bringt mir auch ein Fässchen Wein in die Kammer!« In der Kammer brannte ein einladendes Kaminfeuer. Sie war hell erleuchtet und mehrere lange Tische und Bänke wiesen sie als Speisesaal aus. An den Wänden hingen die verschiedensten Waffen und das Banner mit den gekreuzten Schwertern. Nachdem wir auf Gulims Aufforderung hin Platz genommen hatten, wandte er sich wieder freundlich an uns: »Ihr seid also die Gruppe, von der mir Syr Rotall so hoffnungsfroh erzählt hat. Ihr habt tapfer mit ihm gegen die Tekk gekämpft und euer Ruf hat sich schon weit verbreitet – die Tauben fliegen schnell und wir Notoren sehen schließlich nicht oft einen so zusammengewürfelten Haufen wie euch, der eine Händlerkarawane beschützt, eine Stadt von einer Rattenplage befreit, gegen Schattentrolle zu Felde zieht und sogar einen Zurakkult vernichtet. Sagt, wie nennt ihr euch?«
Wir sahen uns fragend an und zuckten mit den Schultern.
»Syr Toran nannte euch immer den ›Bund aus Blut und Feuer‹, weil ihr in der Schlacht gegen die Tekk zusammengeschmiedet wurdet, in der viel Blut vergossen und euer Schicksal fast durch das Feuer besiegelt worden wäre.«
Er winkte den Kammerdiener herbei und flüsterte ihm etwas zu, woraufhin dieser eiligst die Kammer wieder verließ und mit einer Rolle zurückkam. »Dies ließ Toran für euch fertigen.«
Mit diesen Worten entrollte Notor Gulim ein Banner, das ein Kreuz aus einem Schwert und einer brennenden Fackel auf einem geteilten, rot-weißen Schild zeigte.
Das neue Wappen des Bundes aus Blut und Feuer.
Wir waren begeistert. Gulim meinte, Edwen solle das Wappen auf sein tyrisches Großschild übertragen lassen.
»Toran hatte immer die Hoffnung, dass Ihr irgendwann zurückkehren und euch der Bruderschaft wieder anschließen würdet, um Askalon und dem Thalischen Reich endlich den Frieden zu bringen!«
Tarkin klopfte Syr Edwen auf die Schulter: »Lieber Gulim, Edwen und ich werden im Herzen immer ›Gekreuzte Schwerter‹ bleiben, auch wenn wir jetzt dem ›Bund aus Blut und Feuer‹ angehören!«
»Das freut mich, mein Krähenfresser«, lachte der alte Gulim mit Tränen in den Augen und tätschelte dem Kobold das Fell. »Ihr wisst genau, dass ich das nicht leiden kann!«, schüttelte sich Tarkin und wir schüttelten uns vor Lachen.
Nachdem wir uns an Meldas Braten und dem Wein gelabt hatten, trat ein ernster Ausdruck in Gulims Gesicht: »Toran ist seit drei Viertelmonden verschollen. Wie ich euch berichtet habe, hat er sich alleine auf die Suche nach seinem Bruder Benesch gemacht – wir haben bislang keine Neuigkeiten von ihm erhalten.«
Edwen ging zum strategischen Teil über: »Wo stehen die Tekk. Was sagen die Späher?«
»Wie Ihr wisst, haben die Ul'Hukk Taraxhall erobert, Chiram und der ganze Süden Askalons sind fest in den Händen der Tekk. Sie haben ihre Festung in Neprox ausgebaut. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie über den Rösserpass kommen«, schilderte der Notor die angespannte Lage.
»Warum habt ihr so wenige Männer? Der Rösserpass ist strategisch so wichtig, dass ich hier ein ganzes askalonisches Heer erwartet hätte«, erkundigte sich Edwen.
Gulim rutschte unruhig auf der Bank hin und her: »Ja, ich weiß. Wir haben nach Verstärkung geschickt und die Truppen müssten bald hier eintreffen, aber auch an anderen Stellen müssen die Verteidigungsmauern bemannt werden.«
Saradar, der ja selbst eine Weile an den Mauern gegen die Tekk gekämpft hatte, hämmerte mit seiner Faust auf den Tisch: »Verflucht. Was ist mit diesen feigen Imbriern? Ihnen muss doch klar sein, dass die Tekk auch ihre Städte plündern werden, wenn sie erst einmal Askalon eingenommen haben!«
Der alte Mann schien ebenso aufgebracht zu sein: »Der Imperator weiß es. Er ließ verlauten, dass sich Imbrien erst einmal um seine inneren Angelegenheiten – explizit die Bedrohung durch die Hügel- und Schattentrolle – kümmern müsse. Aber nach dem Fall von Tharaxhall kann er uns einfach nicht länger im Stich lassen. Wenn der Rösserpass fällt, dann steht sein ganzes schönes Thalisches Imperium auf der Kippe.«
»Eine andere Frage. Ist einer eurer Gefährten in der Heilkunst ausgebildet? Unser Stallbursche Roluf hat einen schlimmen Fuß, den sich einmal ein Heiler ansehen müsste«, fragte Gulim in die Runde. Freya versprach sich um ihn zu kümmern, Vivana hatte noch Heilkräuter in der Tasche und begleitete die Wichtelin. Gulim sah, dass Saradar und Urota die Waffen an der Wand in Augenschein nahmen: »Ihr könnt euch gerne bedienen. Für meine Leute sind die meisten der Waffen, die hier hängen, zu wuchtig.« Saradar ließ sich das nicht zweimal sagen, er wollte gerne einen Zweihänder, fand aber nur ein großes Bastardschwert. Urota ergiff eine Ogrens-Langaxt.
»Besucht den Schmied, er kann euch sicher die Klingen wieder scharf machen!«, schlug Gulim vor.
Der Troll hatte gerade die Tür geöffnet, als ein junger Wachmann mit den Worten »Meister Gulim!« hereingestürmt kann, um dann – pumpend vor Atemnot - vor dem riesigen Troll abrupt stehenzubleiben und ihn ängstlich anzustarren.
»Mein guter Valan, kommt erst einmal zu Atem. Sagt, gibt es Neuigkeiten von Syr Toran?«, wurde er gefragt.
»Nein«, erwiderte der atemlose junge Mann, »unsere Späher sind noch nicht zurück, aber die Wachen auf dem Turm haben eine riesige, dunkle Horde ausgemacht, die sich langsam die Anhöhe vom ›Grünen Kessel‹ hinaufschiebt. Es sei schwer auszumachen, um wen es sich handelt, aber ein Krähenschwarm kreist darüber und trotz des Dunstes ließ sich erkennen, dass Riesen dabei sind.«
»Es ist also soweit, die Ul'Hukk kommen!«, verkündete Notor Gulim mit zittriger Stimme.
»Wie lange?«, fragte er den erschöpften Wachmann.
»Ein paar Stunden vielleicht« Er zuckte gequält mit den Schultern.
»Valan, die Wachen sollen auf ihren Posten bleiben. Die restlichen Männer sollen sich bewaffnen und sich im Innenhof versammeln! Wir müssen uns vorbereiten!«, befahl ihm der Notor.
Wir folgten dem Notor auf die Steintreppe. Unten im Hof versammelte sich langsam die Besatzung der Wegburg. Es waren junge und alte Gesichter, einige trugen Bögen, andere leichte Schilde und Schwerter oder Speere. Gulim nickte ihnen zu. Ein breitschultriger Mann mit breitem Kinn und zugekniffenen Augen eilte die Treppe zu Gulim hinauf. Er grinste, als er Edwen und Tarkin bemerkte, dabei zeigte er seine breiten, aber an den Kauflächen abgeschliffenen Zähne. Ein rostiger, aber beeindruckend großer Morgenstern baumelte von seinem Gürtel.
Er wandte sich an Edwen: »Es freut mich, dass wir zusammen sterben werden, edler Syr Edwen. Ich dachte schon, Ihr hättet uns den Rücken gekehrt!« Dann fiel sein Blick auf Tarkin: »Der Krähenfresser ist ja auch wieder da!«
»Freut mich auch, euch zu sehen, ›Zahnknirscher Zork‹«, gab ihm Tarkin auf seinen abfälligen Spruch zurück. Sie nickten sich dann aber zu und Zork postierte sich neben dem Kobold.
Ein etwas untersetzter Mann mit freundlichen, aber etwas traurig wirkenden Augen, kam die Steintreppe herauf. Gulim stellte ihn uns vor: »Das ist Hauptmann Wunnar. Er war früher bei der Stadtwache in Chiram und bildet jetzt unsere Rekruten aus. Seit Torans Weggang hat er auch die militärische Führung übernommen.«
Er nickte uns freundlich zu: »Wir brauchen jede Hilfe! Syr Edwen, wenn Ihr den Befehl übernehmen wollt, ich werde Euch treu dienen!«
Edwen musste ablehnen: »Hauptmann Wunnar, Ihr kennt die Männer und wisst am besten, wie Ihr sie einsetzen könnt! Ich werde Euren Befehlen Folge leisten!«
Ich sah Lorgrim, unseren schweigsamen Begleiter, aus einem der Türme kommen. Er wirkte sehr konzentriert und entschlossen.
Gulim wandte sich noch einmal an die versammelte Mannschaft: »Die Feinde der Menschen sind gekommen! Sie wollen erobern, sie wollen töten! Wir sind nur wenige, doch seht, wir haben Verstärkung bekommen!« Er ließ einen nach dem anderen vortreten.
»Da sind Syr Edwen und Tarkin, unsere eingeschworenen Brüder!«
»Saradar, der große Gjölnar-Krieger, der schon auf askalonischer Seite gegen die Tekk gekämpft hat!«
»Urota, der riesige Hügeltroll, und für uns ein mächtiger Verbündeter!«
»Vivana aus dem Volk der Bogenschützen, der Jujin!«
»Maluna aus dem Land des Feuers!« Die Männer ließen begeisterte Pfiffe hören.
»Und hier«, er wandte sich mir und Freya zu, »wie heißt ihr beiden nochmal?«
Ich flüsterte es ihm zu - »Finn, der Faun, ein Ianna-Druide und Freya, eine Priesterin des Alun, die uns – wenn auch nicht im Kampf, so doch im Gebet auf unserer Seite stehen werden.«
Hatte er denn nicht gesehen, dass ich einen Kurzbogen und einen vollen Köcher mit Pfeilen hatte? Ich würde mitkämpfen und mich nicht hinter Gebeten verstecken.
Doch unsere Chancen standen schlecht, ich zählte gerade einmal dreißig Männer im Hof und acht auf den Mauern. Edwen wollte sich einen Überblick verschaffen, und ich begleitete ihn. Gulim hatte ihm eine Karte gegeben.
Eine Karte der Wegburg.
Eine Seite der Wegburg lag an einem Berghang und war durch ihn geschützt. Hinter dem Brückentor lag eine tiefe Schlucht, in die sich vom Hang her ein Wasserfall ergoss. Aus der Tiefe dröhnte das tosende Rauschen eines angeschwollenen Gebirgsbaches. Eine breite Brücke überspannte den gähnenden Abgrund. Zum ›Grünen Kessel‹ hin hatten sie eine Passmauer errichtet, die sehr marode wirkte. »Könnte man die Brücke nicht einfach zum Einsturz bringen?«, fragte ich Edwen. »Das ist die einzige Verbindung runter in den ›Grünen Kessel‹, die können wir uns nicht abschneiden«, erklärte mir der bärtige Ritter.
Vivana hatte sich fünfzig Pfeile bereit gelegt und einen Teil der Pfeilspitzen mit Gift benetzt. Saradar und Urota hatten sich Wetzsteine beim Schmied geholt und schliffen ihre »neuen« Waffen.
Das Wetter schlug wieder um. Bei unserer Ankunft am Rösserpass hatte es etwas aufgeklart, jetzt verdichteten sich die Wolken wieder und erste Regentropfen fielen mir auf den Kopf. Der Himmel wirkte bedrohlich. Schwarze Wolken zogen von Süden her auf. Nein – es waren keine Wolken. Ein lautes Krächzen drang mir an die Ohren. Es waren dichte Schwärme aus Krähen, die da die Sonne verdunkelten. Wie auf ein Kommando hin stürzten sie sich auf uns nieder.
Die Bogenschützen reagierten sofort und holten zahlreiche Vögel vom Himmel. In einer Spirale schraubte sich der Rest wieder in die Höhe und schien sich zurückzuziehen.
Doch es war nur die Ruhe vor dem Sturm. Von jenseits der Passmauer drang ein Donnergrollen zu uns herüber. Es war das Geschrei aus tausenden monströser Kehlen.
Das war der Beginn der Schlacht am Rösserpass.

Samstag, 24. Februar 2018

Der letzte Tanz - Kapitel 2: Begegnungen

Inzwischen war erneut die Dunkelheit über das Land hereingebrochen. Jenseits einiger Hügel in einer Talsenke konnte ich bereits die Lichter der halb zerstörten Stadt Altem erkennen – mehr als ich gedacht hätte. Wir wollten uns auf einem Hügel unter einem ausladenden Kastanienbaum zum Nachtlager einrichten, als Vivana uns auf eine Lichtquelle in einigen hundert Schritt Entfernung hinwies. Tarkin schnüffelte: »Das ist ein Lagerfeuer, und darüber wird etwas gebrutzelt! Es riecht köstlich!« Urota begann auch zu schnüffeln: »Ein Mensch.«
Vivana wollte mehr erfahren: »Ich schaue mal nach, was eure feinen Näschen da gerochen haben.« Sie schlich sich zusammen mit Freya an die Feuerstelle heran.
Sie erkannten einen Mann, der sich in einen Fellumhang gewickelt hatte und über dem Feuer einen abgezogenen Hasen briet. Seine schlitzförmigen Augen verrieten, dass er Jujin-Vorfahren haben musste. Aus seinem Rückengurt, den er nicht abgelegt hatte, blitzten zwei exotisch verzierte Schwertknäufe hervor. Vivana entschied, sich zu zeigen. Sie ging mit einer Hand am Dolch auf den Fremden zu und verneigte sich: »Seid gegrüßt, sagt was treibt Ihr hier draußen in finsterster Nacht?« Er hob leicht den Kopf und wirkte überrascht, als er den Rest unser Gruppe erblickte. »Wir sind ein seltsamer Haufen, erschreckt Euch nicht, wir haben einen Hügeltroll dabei, aber Ihr habt nichts zu befürchten«, versuchte Vivana ihn zu beruhigen.
»Mein Name ist Lorgrim. Tretet vor und setzt euch zu mir ans Feuer. Ich habe allerdings nur einen Hasen, das wird nicht für euch alle reichen«, stellte sich der Fremde mit leiser Stimme vor.
Der geheimnisvolle Halbjujin Lorgrim.
Wir steuerten ein paar Himbeeren und einen Teil unseres Proviants bei, sodass alle satt wurden.
Der Mann blieb den weiteren Abend über schweigsam und hatte den Blick gesenkt. Eine tiefe Traurigkeit sprach aus seinen Augen. Vivana fragte ihn nach seinen Plänen. Er hob wieder kurz den Kopf und murmelte: »Will nach Süden, mich der ›Bruderschaft der Gekreuzten Schwerter‹ anschließen und gegen die Tekk kämpfen.« Edwen und Tarkin horchten auf und erzählten ihm, dass sie selbst Mitglieder in der Bruderschaft waren und luden ihn ein, uns zur Wegburg zu begleiten.
Lorgrim wirkte interessiert, blieb aber schweigsam und gab nichts weiter von sich preis.

Plötzlich hörten wir von Norden her ein Knacken im Unterholz und schließlich den Hufschlag eines Pferdes. Vivana sprang auf und rief in die Dunkelheit: »He da, wer dort?«
Eine irgendwie vertraut klingende Stimme antwortete: »Endlich hab ich euch gefunden!«
Vivana entgegnete drohend: »Gebt Euch zu erkennen, wir haben Euch umzingelt und unsere Bögen auf Euch gerichtet!«
Die Gestalt sprang vom Pferd, sie war in einen Kapuzenmantel gehüllt. Als sie ans Feuer trat, warf sie die Kapuze nach hinten und ein Streifen roter Haare auf einem sonst kahlen Schädel trat zutage: »Ich habe einen Bärenhunger!«
Es war Saradar, unser barbarischer Freund – und er konnte wieder sprechen. Nachdem er uns einen nach dem anderen umarmt hatte, begann er zu erzählen:
»Meine Freunde, ich habe immer noch Matsch in der Birne und fühle mich elend, aber dieser schwarze Schleier hat sich gelüftet.« Bei diesen Worten kletterte ihm sein Wiesel auf die Schulter: »Mein treuer Radaras hat mir die ganze Zeit über beigestanden. Es war furchtbar. Es fühlte sich an, als ob Schatten durch meinen Geist gekrochen wären oder meine Seele gefroren hätte. Ich konnte meine Füße nicht mehr spüren, auf meiner Zunge lag der Geschmack von Fäulnis und Tod. Ich habe nicht mehr gewusst, wer und wo ich war oder wie lange ich mich in diesem Zustand befunden habe. Meine Stirn hat gebrannt, mein Herz gegen meine Schläfen gepocht. Irgendwann habe ich dann die Augen geöffnet und musste sie gleich wieder zupressen, weil ich die Helligkeit nicht mehr gewöhnt war. Langsam wurde es besser und ich blickte mich um. Um meinen Hals fand ich diese Kette« - er zeigte uns die Reliquienkette, die ihm Utyferus beschafft hatte, um den ›Schwarzen Sud‹ aufzuhalten.
»Und mein Radaras war die ganze Zeit bei mir!« - das Wiesel kuschelte sich an sein Gesicht.
»Ich habe in einem Zelt gelegen. Irgendwann ist dieser Halar, der Anführer der Söldnertruppe, hereingekommen und hat mir erzählt, was passiert ist.
Tarquan hatte mich in Begleitung von Widun und Anneliese zum Nordmarkt gebracht. Als Bruder aus dem Stamm der Khor'Namar wollte er mich dann nach Yarwaques Hand mitnehmen. Ein Keldyr-Druide hat mir soweit geholfen, dass ich wieder sprechen konnte. Er hat mir gesagt, dass ich diese Kette nie ablegen darf, weil sonst der böse Geist zurückkommt. Und dass ich nach Yarwaques Hand zu einem Osirpriester müsste, um völlig geheilt zu werden.«
»Als ich erfahren habe, dass ihr alle nach Süden in Richtung Rösserpass aufgebrochen seid, um gegen die Tekk zu kämpfen, konnte ich natürlich nicht anders als euch zu folgen, auch wenn das Halar gar nicht recht war. Er würdigte aber meine Tapferkeit und hat mir diese Waffe gegeben«, Saradar zeigte uns eine rostige Barbarenaxt, »die ja wohl kein würdiger Ersatz für meine Zweililie ist. Die liegt wohl noch in Medea, wie ich gehört habe!«
Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass unsere Gruppe gar nicht vollzählig war: »Sagt, wo stecken Widun und Anneliese?«
Ich zuckte mit den Schultern: »Du musst sie überholt haben, oder sie wurden aufgehalten. Hast du auf deinem Ritt gar keine Pause gemacht?«
Saradar grinste: »Ich bin durch Regen und Matsch geritten, habe auf dem Pferd geschlafen. Nur zum Scheißen bin ich abgestiegen.«
Jetzt erst war ihm wohl durch seine eigenen Worte bewusst geworden, wie erschöpft er eigentlich sein sollte, denn er fiel augenblicklich - von einem wohlfährigen Seufzer begleitet - in einen tiefen Schlaf.
Vivana übernahm zusammen mit Urota und Lorgrim die erste Nachtwache.
Vivana war neugierig, und versuchte mehr vom Halbjujin zu erfahren. Er schien etwas Vertrauen gefasst zu haben, denn er begann zu erzählen: »Ich bin ein Söldner aus Askalon, mein Vater war ein einfacher Dorfbewohner. Ich wurde zum Schwertmeister ausgebildet und habe in meinem Leben verschiedenen Meistern gedient.«
Vivana war fasziniert von diesem geheimnisvollen Mann, der eine unglaubliche Ruhe, aber auch Traurigkeit ausstrahlte. Sie entschied jedoch, dass er nicht ihr Typ war.
Das Feuer brannte herunter. Ich löste die drei zusammen mit Edwen und Freya ab. Wir hörten in einiger Entfernung das Gekreische einiger Windgreifer, aber diesmal ließen sie uns in Ruhe.

Wir brachen auf im Morgengrauen. Saradar führte sein Pferd am Zügel, da es von den Strapazen sehr mitgenommen aussah.
Nach einer halben Tagesreise erreichten wir endlich die Stadt Altem. In meiner Erinnerung war sie ein kleines, trostloses Städtchen. Erst nach der Befreiung von der Rattenplage hatte eine gewisse Aufbruchstimmung geherrscht und die Leute hatten wieder an Tatendrang gewonnen.
Die Torwächter schenkten uns ein Lächeln und nickten freundlich, als wir die Stadt betraten. Die Straßen waren jetzt sauber und regelrecht überlaufen. Überall Menschen, die emsig ihrem Werk nachgingen: Mauern wurden erneuert, Häuserfassaden gestrichen, das Bollwerk verstärkt, Fässer durch die Gassen gerollt, in einer Schmiede hämmerten gleich vier Männer auf glühende Eisen.
Wir fragten eine der Stadtwachen: »Sagt, wo finden wir den Stadtherrn Largo?«
»Wisst ihr denn nicht, dass Largo vor kurzem verstorben ist! Orell führt jetzt die Geschäfte!«, entgegnete uns die Wache.
»Orell? Das war doch dieser fiese Händler, der die Leute in ihrer Not auch noch ausgebeutet hat! Wer hat den denn als Ratsherrn eingesetzt?«, fragte ich mehr zu mir selbst.
Edwen pflichtete mir bei: »Wahrscheinlich er selbst! Von dem können wir sicher keine Hilfe erwarten!«
Wir erkundigten uns nach dem Notor, der uns damals unterstützt hatte. »Den Notor Tayn findet ihr bei den Flüchtlingen. Ihr findet ihn auf dem ›Müden Markt‹.«
Auf dem Marktplatz drängte sich eine lange Schlange aus Menschen. Sie standen an einer Essensausgabe an – ich erkannte den alten Priester Terek, der uns die Novizen in Obhut gegeben hatte. Er verteilte Gemüsesuppe und Brot an die Hilfsbedürftigen. Hinter der Schlange leuchtete das schlohweiße Haar des Notors. Wir drängten uns hindurch und tippten dem alten Mann auf die Schulter, der gerade damit befasst war, einigen Arbeitern Anweisungen zu geben.
Er drehte sich erschrocken um und wich einen Schritt zurück, als er den Troll sah. Schnell trat aber ein Lächeln des Erkennens in sein Gesicht: »Bei den guten Göttern! Willkommen zurück! Wie ihr sehen könnt, ist viel geschehen, seit ihr uns von diesem Rattendämon erlöst habt!«
Notor Fugan Tayn aus Altem.
Er erklärte uns, dass es sich bei den Menschen auf dem Marktplatz um Flüchtlinge aus Taraxhall handelte, die vor den Tekk geflohen seien. »Es sind zu viele, wir kriegen sie gar nicht alle unter! Ich leite die Arbeiten, um die vom Erdbeben verfallenen Häuser wieder herrichten zu lassen.«
Ich fragte ihn nach Orell. Ich merkte ihm an, dass er auch nicht begeistert war von seinem neuen Stadtherrn: »Es ist traurig, dass Largo von uns gegangen ist. Er erlag einem Fieber, vielleicht war es sogar noch die Rattenpest, die ihn dahingerafft hat. Ich weiß es nicht. Ihr wisst ja, dass Orell einen ungemeinen Geschäftssinn hat. Er nutzte seine Chance, scharte viele Unterstützer um sich und wurde so von den Bürgern gewählt. Ich muss ihm aber zu gute halten, dass er sich geändert hat und ihm das Wohl der Bürger mittlerweile sehr am Herzen liegt.«
Tarkin bat ihn um Pferde, damit wir schneller zum Rösserpass gelangen könnten.
Notor Tayn wirkte nachdenklich: »Wisst ihr, eigentlich können wir im Moment gar nichts entbehren. Aber Notor Gulim von der Bruderschaft ist ein alter Freund von mir. Ihr könnt ihm eine Nachricht von mir überbringen und ich werde euch vier Pferde zur Verfügung stellen.«
Inzwischen war Ian Terek bei der Essensausgabe abgelöst worden und kam zu uns rüber. Er ging stark gebeugt, machte kleine, unsichere Schritte und stützte sich auf einen Stock. Er drehte seinen Kopf schräg nach oben, um uns anzusehen: »Sonnige Grüße! Wenn das mal nicht unsere Rattenfänger sind! Sagt, was ist aus meinen Novizen geworden.«
Er machte mehrmals das Zeichen des Sonnenrades, als er von den Vorgängen in Medea, dem Zurakkult und dem Schicksal von Zedrick und Luth erfuhr. Ich konnte tiefe Trauer in den Zügen des alten Mannes erkennen. Fugan Tayn versprach sich um die Pferde zu kümmern. Wir sollten später wiederkommen. Er beriet sich mit dem alten Priester als wir gingen.
Wir suchten die Schenke ›Zum Lachenden Raben‹ auf, die vormals noch der ›Weinende‹ gewesen war. Unser Eintreten sorgte für einiges Hallo. Aus einer Ecke des Schankraums kam ein freudiges »Syr Edwen, altes Haus! Da ist ja auch Tarkin, der mutige Koboldkrieger!« Es war Syr Kym. Er saß mit seiner Tochter zum Mittagessen an einem großen Tisch. »Setzt euch zu uns, was für eine freudige Überraschung, euch wiederzusehen! Ich bin euch so dankbar, dass ihr mir meine Tochter wiedergebracht habt«, er legte seinen Arm um sie. »Kann ich euch irgendetwas Gutes tun? Ich weiß schon etwas: Bringt Bier für meine Freunde!«
Zwei dralle Schankmaiden kamen vollbeladen mit Bierkrügen. Maluna war skeptisch, was den dunklen Gerstensaft anging: »So etwas trinkt ihr Menschen? Das riecht ja abscheulich!«
Urota hatte sein Bier mit einem Zug abgetrunken und wischte sich den Schaum vom Mund – ein lauter Rülpser folgte, der die umstehenden Bierkrüge zum Wackeln brachte.
Syr Kym erzählte uns von den Ereignissen in Askalon: »Die Tekk haben Taraxhall überfallen und gewütet wie Bestien. Viele Menschen starben, anderen droht ein viel schlimmeres Schicksal. Sie werden in Blutwagen in Fleischhallen gebracht, wo sie solange leben, bis sie wie Vieh von den Tekk geschlachtet und gefressen werden.«
Tarkin, bei dem das Bier schon seine Wirkung zeigte, schüttelte sich vor Entsetzen: »Mein Schwert dürstet nach Tekkblut! Für eine gerechte Sache ist es mir eine Freude, mein Leben aufs Spiel zu setzen!«
Der alte Ritter ließ es sich nicht nehmen, uns mit einem Pferd und Proviant zu unterstützen.
Nach einem herzlichen Abschied schlug Saradar vor, der unglücklich über den Verlust seines Doppelspeers war, die neue Schmiede aufzusuchen. Unsere Bewaffnung – vier Kurzschwerter und ein Dolch – ließ zu wünschen übrig, sodass sich der Rest der Gruppe anschloss.
Das rhythmische Klopfen der Schmiedehämmer war beeindruckend und ging mir durch Mark und Bein. In Serienproduktion stellten die vier Schmiede und ihre Lehrlinge in der riesigen ›Neuen Schmiede‹ Schwerter und Rüstungen her. Überall Funken und glühende Eisen. Mir wurde in meinem Fell richtig heiß, der Schweiß rann mir von der Stirn. Die geschäftigen Menschen würdigten mich keines Blickes, doch als Maluna eintrat wanderten neugierige Augen auf ihrem Körper auf und ab.
»He, pass doch auf, wo du hinschlägst«, wurde einer der Lehrlinge von seinem Meister gemaßregelt, als er mehrfach am Amboss vorbei geschlagen hatte.
Saradar schrie durch den Lärm: »Habt ihr Zweililien?«
Einer der Schmiedemeister blickte ihn ungläubig an: »Ihr wisst schon, dass wir uns auf eine Tekkinvasion vorbereiten. Für solche Kinkerlitzchen haben wir keine Zeit! Eine große Axt könnte ich Euch anbieten!« Saradar schüttelte den Kopf und verließ enttäuscht die Schmiede.
Tarkin zeigte ihm sein Kurzschwert: »Könnt Ihr mir das einschmelzen und daraus eine Koboldklinge machen?« Der Schmied unterbrach seine Arbeit und schwang ungeduldig seinen Hammer von einer Hand in die andere: »Dafür müsste ich sechzig Silberlinge von Euch verlangen!« Tarkin schaute in seinen Geldbeutel und ließ den Kopf hängen. Vivana erstand ein kleines Messer für fünf Silberlinge. Urota versuchte es mit einem Tauschhandel, er wollte ihm zwei Eckzähne anbieten. Der Schmied lachte: »Dann hätte ich ein so beeindruckendes Lächeln wie Ihr mit Euren Hauern! Nein – ehrlich – so etwas kann ich nicht gebrauchen!«
Freya fragte ihn bescheiden nach einer Waffe. Er musste mehrmals nachfragen und sich bücken, um sie zu verstehen. Dann griff er in seine Schürze und holte einen kleinen Eisenspieß heraus: »So etwas hier? Das benutze ich immer als Zahnstocher – wenn Ihr es haben wollt?«
Edwen erstand ein teures Langschwert und ich kaufte mir einen Kurzbogen und zwanzig Pfeile, für die ich ihm zwei Silberlinge und mein Huhn zur Verwahrung überließ: »Aber bitte nicht essen, es legt Euch jeden Tag ein Ei!« Der Schmied zwinkerte seinem Lehrling zu: »Natürlich nicht!«
Die Augen gingen dem Schmied und seinem Lehrling über, als Maluna vortrat. Sie hatte ihr feuerrotes Haar geöffnet und es wallte über ihre Schultern. Im flackernden Feuerschein der Schmiede glänzten gülden ihre Wangenvenen. Bei ihrem Anblick lief selbst mir ein Kribbeln durch den Körper und nicht nur meine Fellhaare richteten sich auf: Sie war eine Feuergöttin!
»Ich habe hier ein Kurzschwert, kann ich dafür von euch ein Langschwert kriegen, und ich meine ein richtiges langes Schwert – versteht Ihr?«
Der Schmied und der Lehrling schauten sich ungläubig an. Sie ging auf die beiden zu und flüsterte ihnen etwas ins Ohr, ich konnte bloß »Mitternacht« verstehen. Beide nickten daraufhin eifrig und der Ausdruck von Vorfreude trat in ihre Gesichter.
Für die Nacht hatten wir uns im ›Lachenden Raben‹ einquartiert.

Am nächsten Morgen waren wir guten Mutes. Vivana hatte bemerkt, dass Maluna tatsächlich das Langschwert bekommen hatte. Die Feueralwe grinste bloß und sagte: »Waren ganz süß die zwei.« Nach einem kurzen Frühstück brachen wir auf. Der Notor hatte uns drei Pferde besorgen können, dazu kamen noch das Ross von Syr Kym und Saradars Schlachtross, das er von Halar erhalten hatte. Fugan Tayn und auch der alte Priester Terek ließen es sich nicht nehmen, sich persönlich von uns zu verabschieden. Tayn wünschte uns viel Glück und erinnerte uns: »Denkt daran, ihr seid jederzeit willkommen in Altem! Ohne euch wäre unsere Stadt dem Untergang geweiht gewesen.« Er zuckte resigniert mit den Schultern: »Vielleicht ist sie es noch – wenn die Tekk über den Rösserpass kommen. Grüßt bitte meinen alten Studienkameraden Gulim von mir!«
Terek gab uns mit auf den Weg: »Möge das Licht mit euch sein! Hütet euch vor Zurak, dem Gott des Hasses. Er versucht Zwietracht zu säen unter Freunden, lasst euch nicht entzweien!«
Er winkte uns zum Abschied mit seinem Stock.

Im Süden lag die flache, askalonische Ebene vor uns, offenes Gelände auf dem wir hoch zu Ross rasch vorankamen. Ob wir es noch rechtzeitig zum Rösserpass schaffen würden?
Wir trafen auf eine große Zahl an Flüchtlingen, die mit ihrem wenigen, überstürzt gepackten Hab und Gut aus Taraxhall und den umliegenden Dörfern geflohen waren. Sie berichteten uns, dass viele Menschen von den Ul'Hukk getötet oder verschleppt worden seien und sie nun auf Schutz in Altem hofften. »Sie haben Riesen in ihren Reihen – reihenweise haben sie die askalonischen Soldaten niedergemetzelt! Wir sind alle verloren!«, war zu hören und »überall diese furchtbaren Krähen!«
Der geheimnisvolle Lorgrim hatte sich uns angeschlossen, er war so schweigsam wie zuvor und war immer darauf bedacht, auf Abstand zu bleiben und nicht aufzufallen.

In der Ferne konnte ich einen Wald erkennen, der sich über den gesamten Horizont erstreckte und wie eine Decke über einem großen Hügel lag. Ein ungutes Gefühl beschlich mich, ich hätte den Wald, der laut Edwens Karte ›Silberforst‹ hieß, am liebsten umgangen.
Die Sonne versank hinter den Bäumen im Westen und zauberte nochmal ein wunderschönes Farbenspiel an den Himmel – wie ein letztes Aufblühen einer Blume vor dem Dahinwelken. Der Wald kam mir seltsam vertraut vor. Ein breiter Pfad führte durch den Wald, zu beiden Seiten gesäumt von alten, knorrigen Bäumen und einem Wechsel aus Laub- und Nadelbäumen. Es wurde stockfinster, als es auch die letzten Sonnenstrahlen nicht mehr schafften, durch das dichte Blätterdach zu dringen. Wir suchten eine geeignete Stelle für unser Nachtlager und fanden eine Höhle, die nicht aus Stein bestand, sondern aus einem dicht verwebten Wurzelwerk uralter Roteiben gebildet wurde. Wieder überkam mich ein mulmiges Gefühl, das ich so nicht kannte. Der urwüchsige Wald erinnerte zwar wenig an die lichten Wälder meiner Heimat Oxysm, doch hätte ich mich auch hier der Erdmutter nahe fühlen müssen. Vielleicht lag es an den Tekk, die jenseits des Rösserpasses auf uns lauerten.
Ich hatte schlecht geschlafen, als mich Tarkin zur zweiten Wache weckte. Ich war müde, die Welt erschien mir wie ein Albtraum. Gespenstisch lag Zamas Licht über dem Blätterdach. Maluna hatte scharfe Augen und hielt die Umgebung im Blick. »Was ist das?«, stieß sie mich plötzlich an.
Ein grünes Leuchten näherte sich und schwebte zwischen den Bäumen umher. Ein Waldgeist?
Beim Näherkommen erkannte ich, dass er eine menschliche Gestalt hatte. Er war in einen Kapuzenmantel gekleidet und gab murmelnde Laute von sich. Maluna kannte keine Waldgeister und hatte sich in Verteidigungsstellung gebracht. Das Wesen kam immer näher, schien aber von uns keine Notiz zu nehmen. Plötzlich hielt es kurz inne uns stieß dann direkt auf mich zu. Der von einer tief ins Gesicht gezogenen Kapuze verhüllte Kopf schnellte empor.
Der Anblick drang mir ins Innerste meiner Druidenseele: aus grün leuchtenden Augen über einem gezwirbelten Schnurrbart und einer aufgerissenen Kehle, aus der die Adern wie Würmer heraushingen, traf mich ein zutiefst vorwurfsvoller Blick. Der Geist versuchte zu sprechen. Ein Brodeln drang aus seinem Mund: »Frevler, Frevler, wir sind alle Frevler!« Dann drehte er sich weg und verschwand, bevor Maluna einschreiten musste. »Wer oder – verdammt nochmal – was war das?«
»Das war Jel, der Grüne«, war das einzige, was ich hervorbrachte, bevor ich die Besinnung verlor.

Sonntag, 18. Februar 2018

Der letzte Tanz - Kapitel 1: Eine beschwerliche Reise

Die Altmark breitete sich vor uns aus. Eine offene Auenlandschaft mit nur einzeln stehenden Bäumen und von vielen Bächen durchflossen. Einerseits war es ein Vorteil für uns, da sich dadurch nur wenige Versteckmöglichkeiten für Wegelagerer und Räuber boten, andererseits hatten wir einen riesigen Hügeltroll im Schlepptau, den wir nicht so gerne zur Schau stellen wollten.
Wir durchquerten ein Langdorf und die Leute blieben mit offenen Mündern stehen. Eine so seltsame Gruppe hatten sie wohl noch nie zu Gesicht bekommen. Urota sorgte allein durch seinen Anblick schon für Aufruhr. Eltern zerrten ihre Kinder von der Straße, Fensterläden wurden - bis auf einen schmalen Spalt zum Gaffen - geschlossen. Als sie merkten, dass wir nichts Böses im Schilde führten, kamen die Menschen neugierig wieder heraus und boten uns sogar ihre Waren feil. Wir deckten uns für zwei Silberlinge mit Wasser und Proviant ein. Ein Pferd oder gar ein Gespann mit einem Karren konnte leider niemand entbehren. Und so mussten wir zu Fuß auf den schlecht gepflasterten Straßen weiterziehen – andererseits wäre eine Fahrt im Wagen unter diesen Umständen sicher eine holprige Angelegenheit geworden.
Nachdem wir die dritte Siedlung hinter uns gelassen hatten – die Bauernkinder hatten Ringelreigen um den Troll getanzt - suchten wir uns ein ruhiges Plätzchen zum Lagern.

Mein Magen hatte sich schon mit einem lauten Knurren beschwert, was aber gar nichts im Vergleich zu den Geräuschen war, die ein Troll unter solchen Umständen von sich gibt. Wir hatten schon befürchtet, dass ein Gewitter aufziehen würde, es war jedoch lediglich das Rumpeln im Bauch des Hügeltrolls gewesen.
Er hatte gerade seinen Rucksack geöffnet und war dabei, hineinzugreifen, als ein kleines Wesen mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen aus dem Proviantbeutel sprang.
Es war die Wichtelin Freya, die da vor uns auf dem Boden lag. Sie erhob sich und strich Krümel von ihrem Gewand. Urota blickte ungläubig zwischen seinem Proviantbeutel und der Wichtelin hin und her.
»Priesterin Freya, wie seid Ihr denn in den Beutel gelangt?«, fragte ich neugierig.
Freya hatte sich bereits wieder vom ersten Schreck erholt und erzählte: »Ich wollte euch mit dem besessenen Barbaren helfen und kam ins Gasthaus. Doch dann wurde ich abgelenkt: Ich hatte noch nichts gefrühstückt und der Duft des Käses war einfach zu verlockend. Ich wollte nur ein Stückchen davon abbeißen – und später natürlich dafür bezahlen – als jemand plötzlich den Rucksack schloss, und dann muss ich das Bewusstsein verloren haben.«
Urotas Gesichtsausdruck wirkte vorwurfsvoll, als er der Wichtelin seinen Beutel hinhielt: »Leer!«
Sein Bauch knurrte wie ein tollwütiger Hund. Wir beeilten uns, ihm etwas von unserem Proviant abzugeben, ein Troll ist ja bekanntlich nicht er selbst, wenn er hungrig ist.
Freya wollte gerne bei uns bleiben: »Ich bin froh, erst einmal aus dem verfluchten Medea draußen zu sein. Und auf die Fragen dieses Inspektors vom Mon Alunas habe ich so gar keine Lust!«
Nachdem der Trollmagen gebändigt worden war, zogen wir weiter in Richtung Süden. Am Horizont waren inzwischen dunkle Gewitterwolken aufgezogen.
»Wir sollten uns einen Unterschlupf suchen, bevor das Unwetter zuschlägt!«, schlug Edwen vor.
Wir beschleunigten unseren Schritt, Freya hatte es sich auf der Schulter des Trolls bequem gemacht. Er schien ihr wegen des leeren Beutels nicht mehr böse zu sein.
Ein Berg im Südwesten nahm stetig an Größe zu, die Landschaft wurde felsiger. Die dunklen Wolken waren zum Glück Richtung Osten weitergezogen, worauf sich die Sonne noch einmal tief am Horizont zeigte und die schroffe Berglandschaft in ein feuriges Rot tauchte. Bereits müde vom Wandern mussten wir noch einen seichten Bach überqueren. Schließlich stellten wir in Ufernähe unter einigen Bäumen unser Nachtlager auf. Wir entschieden uns gegen ein Feuer und teilten die Nachtwachen ein.

Nach einer ereignislosen Nacht und einem kurzen Frühstück setzten wir die Reise fort.
Der Himmel hatte wieder etwas aufgeklart, aber im Süden zeichneten sich erneut dunkle Wolken ab. Wir ließen den Berg rechts liegen und überquerten gerade ein Geröllfeld, als wir plötzlich hinter einem großen Findling Stimmen hörten. Unsere Kundschafterin Vivana winkte uns erleichtert zu. Es waren nur einfache Bauern, die mit ihren Knechten und Mägden unterwegs waren, um im Norden ihre Felder zu bestellen. Sie waren zunächst erschrocken, als sie den Hügeltroll erblickten, beruhigten sich aber schnell, als wir ihnen freundlich begegneten.
»Turg, ich hab dir doch gleich gesagt, dass es keine gute Idee war, durch das Geröll zu fahren. Jetzt siehst du, was wir davon haben«, lamentierte ein Bauer namens Melakk.
Sie versuchten verzweifelt, einen ihrer Ochsenkarren wieder flott zu machen, der sich zwischen zwei Felsbrocken verkantet hatte. Sie zogen und schoben mit vereinten Kräften, sogar die Mägde und ein paar Kinder waren an der Aktion beteiligt.
»Lassen mich machen!«, bot sich unser Troll an und schob den Karren ohne große Kraftanstrengung wieder auf die Straße.
»Habt Dank, Ihr seid der freundlichste Troll, der mir je begegnet ist«, bedankte sich der dritte Bauer namens Fidu, dem der Karren gehörte. Seine Kinder pflückten am Wegesrand ein paar Blumen und formten einen Kranz daraus, den sie Urota – mit Freyas Hilfe – auf den Kopf setzten.
»Ach wie schön, ein Blumentroll«, lachte Tarkin. Als Dank überließen sie jedem von uns einen Laib Brot.
Wir gingen weiter in Richtung Süden. Am Horizont tauchten seltsame Felsformationen auf. Je näher wir kamen, desto deutlicher wurde mir, dass es sich um eine Gruppe einzeln stehender Felssäulen handeln musste. Ich fragte mich, ob sie auf natürliche Weise entstanden sein könnten, wie sie sich da drohend gegen den Himmel abzeichneten. Das Licht der untergehenden Sonne ließ die Felsnadeln glühend rot aufleuchten und zeichnete nach dem Hindurchtreten durch die Spalten seltsame Muster auf den Boden – fast schien es, als ob sich das Licht an einigen Stellen selbst auslöschen würde.

Die Umgebung war wieder gebirgiger geworden und wir hielten Ausschau nach einem Unterschlupf für die Nacht. An einem plätschernden Gebirgsbach deckten wir uns mit frischem Trinkwasser ein – da waren auch Fische im Wasser. Wir versuchten unser Glück – Tarkin hob eine dicke Quellenforelle in die Luft, die fast größer war als er selbst. Mittlerweile war die Sonne hinter dem Gebirgskamm verschwunden und erste Sterne wurden sichtbar. Das Sternbild des Jägers leuchtete hell vor uns am Firmament. Doch was war das – irgendwas hatte die Sterne verdeckt und es schien sich in Kreisen hin und her zu bewegen. Maluna hatte die besten Augen – sie meinte, es könnten große Vögel sein, aber sie habe solche Wesen noch nie zuvor gesehen.
Wir fanden eine Höhle – Tarkin schnüffelte hinein: »Unbewohnt!«. Sie reichte nicht tief in den Berg hinein, und wir trauten uns hier ein Feuer zu machen, um die Quellenforellen zu braten.
Nachdem wir uns an Fisch und Brot gelabt hatten, teilten wir die Nachtwache ein.
Wegen Urotas in der Höhle widerhallenden Schnarchens hatte außer Tarkin, der sich irgendetwas in die Ohren gestopft hatte, niemand schlafen können. Ich war mit dem Troll zur Wache eingeteilt. Nach meiner Weckerfahrung als Eichhörnchen schickte ich Freya vor, ihn an der Nase zu kitzeln. Die Wichtelin machte das ganz geschickt und sprang rechtzeitig in Sicherheit, bevor Urotas Riechkolben ein lautes »Hatschi« durch die Höhle schallen ließ.
Urota und ich setzten uns an den Höhleneingang und lauschten in die Stille, in der Ferne war nur ganz leise das Plätschern des Baches zu hören. Die anderen konnten jetzt endlich in ihren wohlverdienten Schlaf fallen. Urota fiel es schwer wach zu bleiben, immer wieder schlossen sich seine Augenlider und er klopfte sich auf die Wangen, um wach zu bleiben. Immerhin bemühte er sich. Was war das? Von draußen kamen Geräusche, die klangen, wie die Überlagerung von Krächzen und Windgeheul - dann eindeutig Flügelschlag. Urota ging vor den Höhleneingang und schrie sofort auf. Beim Heraustreten konnte ich zwei im Dämmerlicht grün leuchtende vogelartige Wesen erkennen, die sich auf ihn gestürzt hatten und und ihm in die Arme pickten oder vielmehr bissen. Er schlug um sich, und sie zogen sich kurz zurück. Die anderen wurden von Urotas Schrei geweckt und traten ebenfalls hinaus. Da kamen sie wieder: Vivana stach gezielt mit ihem Giftdolch zu und konnte einen erlegen, Tarkin und Edwen holten gemeinschaftlich das zweite Flugmonster vom Himmel.
Ein Windgreifer vor den Säulen der Altvorderen.
Im Feuerschein der Höhle konnte Edwen erkennen, worum es sich handelte: »Das sind Windgreifer. Erstaunlich, eigentlich leben sie viel weiter im Süden, und selbst im südlichsten Askalon sind sie eher selten!«

Ich rupfte drei der grünen Federn, vielleicht könnte ich die ja nochmal gut gebrauchen – und sei es bloß, um einen Troll kitzelnderweise - und aus sicherem Abstand - aus dem Schlaf zu wecken.

Am nächsten Morgen hielten wir vor einer Weggabelung am Fuße der seltsamen Felsformation.
Es handelte sich um vier gewaltige Säulen, die scheinbar aus dem Berghang herausgeschlagen worden waren. Ich konnte mir nicht vorstellen, wer ein solches Werk hätte vollbringen können: Menschen wohl eher nicht, vielmehr Giganten - oder sogar die Götter selbst? An manchen Stellen konnte ich Zeichen oder Symbole erkennen, es musste sich um die Hinterlassenschaften eines uralten Volkes handeln.

Ich befragte Edwen, der mir jedoch nur schulterzuckend antwortete: »Ich weiß nur, dass sie ›Die Säulen der Altvorderen‹ genannt werden.« Widun hätte als Mnamnpriester vielleicht mehr herausfinden können. Die Säulen waren höher als alle Türme der Menschen, die ich auf unseren Reisen bisher gesehen hatte, fast schienen sie, an den Wolken zu kratzen.
Vivana hatte einen verwitterten Wegweiser entdeckt, der am Boden lag: »Also, diesem Schild zufolge liegen im Norden Medea, wo wir hergekommen sind, im Süden ›Kywens Höhen‹ und die Stadt Altem, im Westen Tremen, im Südosten der Rotwachtwald und im Osten ›Die Wilden Marschen‹ - und da ist ein Totenkopfsymbol dahinter.«

Während die anderen darüber diskutierten, welchen Weg wir einschlagen sollten, entschloss ich mich, als Eichhörnchen eine der Säulen zu erklimmen, von dort oben hätte ich sicher einen schönen Panoramablick. Die anderen blieben mit verblüfftem Gesichtsausdruck unter mir zurück, als ich einen der rauen Felsen hochjagte. Ich spürte, wie die Luft immer dünner wurde. Oben angelangt, traute ich meinen Augen kaum. In große Nester gebettet, die zum Teil aus Knochen bestanden, lagen riesige Eier, aber kein Vogel weit und breit.
Ich sah mich um: der Ausblick war wirklich fantastisch. Im Süden zogen allerdings wieder schwarze Wolken auf, wie ein Omen, dass sich dort ein Unheil zusammenbraute. Vor uns lag ein Verbund aus mehreren mittelhohen Bergen, das mussten ›Kywens Höhen‹ sein, danach folgten ein Wald und eine Stadt, wahrscheinlich Altem. Im Westen konnte ich ebenfalls eine Stadt erblicken, von der wir jedoch viel weiter entfernt waren, wahrscheinlich Tremen. Als ich über mit plötzlich Flügelschlag hörte und wieder das Gekreische der letzten Nacht, floh ich schnell die Felsensäule hinunter – als Eichhörnchen hatte ich gegen einen Windgreifer keine Chance.
Nachdem ich mich zurückverwandelt hatte, fragten mich meine Gefährten, welchen Weg ich einschlagen würde. Nach einigem Hin und Her, dem Abwägen von Vor- und Nachteilen kamen wir zum Entschluss, über ›Kywens Höhen‹ zu steigen, um dann nach Altem zu gelangen – wo sie uns noch Dank für die Befreiung von der Rattenplage schuldeten – und den sie uns gerne in Form von Pferden würden ausdrücken können.
Tarkin und Edwen befürchteten, dass wir den Rösserpass ansonsten nicht rechtzeitig erreichen würden, um der ›Bruderschaft der Gekreuzten Schwerter‹ bei ihrer Suche nach den Rotall-Brüdern beizustehen.
Wir setzten unsere Wanderung fort und gelangten an einen Fluss, der laut Edwen Queros hieß und folgten seinem Lauf. Zunächst ging es langsam bergauf, schließlich wurde es jedoch so steil, dass wir die Hänge hochklettern mussten – nicht einfach, ohne eine geeignete Kletterausrüstung.
Der Gipfel warf bereits seinen Schatten auf uns, als wir uns erschöpft eine Kuhle im Felsen suchten, um die Nacht dort zu verbringen. Tarkin hatte unterwegs ein paar Wurzelknollen gefunden und Vivana packte einen großen Käse aus. Wir hatten ein Feuer gemacht, um die Knollen weich zu kochen. Wie sich herausstellte, war das ein Fehler, denn wir wurden erneut von Windgreifern angegriffen, nachdem sie sich mit ihrem Gekreische lauthals angekündigt hatten.
Diesmal gelang es uns, sie schnell in die Flucht zu schlagen, und sie ließen uns auch in der folgenden Nacht in Ruhe.

Am folgenden Morgen ging es wieder bergab ins Tal. Hier fanden wir Beeren und füllten an einem kleinen Bach unsere Trinkflaschen wieder auf. Beim Klettern am nächsten Berg löste sich Geröll, doch wir hatten Glück und überstanden das ganze unbeschadet.
Auf dem Gipfel des zweiten Berges zeigte sich im Zwielicht der gerade untergegangenen Sonne ein Plateau. Gegen die Dämmerung hob sich ein Gebäude ab. Beim Näherkommen konnte ich erkennen, das es sich um die Ruine eines Klosters handeln musste. »Ein guter Ort zum Übernachten«, entschied Vivana. Maluna legte ihr eine Hand auf die Schulter: »Warte, da liegt etwas im Eingangsbereich!«
Sie hatte wirklich unheimlich scharfe Augen. Jetzt wo sie es sagte, sah ich es auch. Ein großes, vierbeiniges Wesen, das dort am Boden lag und dessen Körper sich rhythmisch hob und senkte. Eine zottige, rote Mähne verdeckte sein Gesicht. »Es schläft!«, meinte ich. Edwen hielt einen Finger vor seinen Mund: »Leise, das ist ein askalonischer Berglöwe, und die haben ein sehr feines Gehör!«
Kaum hatte er mir das zugeflüstert, als sich auch schon der Berglöwe aufrichtete, seine rote Mähne schüttelte und uns dann aus funkelnden, grün leuchtenden Augen anstarrte.
Ein askalonischer Berglöwe vor den Ruinen von Kywens Kloster.
Unversehens trabte er auf Vivana zu, die in eine Art Schockstarre verfallen sein musste. Im letzten Moment duckte sie sich weg, der Löwe streifte sie jedoch mit einem gewaltigen Prankenhieb, sodass sie gegen eine Mauer geschleudert wurde und halb besinnungslos liegen blieb.
Ich durfte keine Zeit verlieren und betete an Ianna. Aus dem Boden unter dem Monster schnellte eine gewaltige Dorne hervor, die ihm eine große Wunde beibrachte. Damit hatte der Löwe nicht gerechnet. Er legte sich hin und leckte seine Wunde, wie es Katzen tun – und Faune natürlich auch. Da wir keine Fernkampfwaffen hatten, warfen die anderen mit Steinen nach ihm. Er wurde dadurch nur noch aggressiver und fauchte uns an. Ich betete erneut an Ianna um einen »Dornenstich« - eine weitere Dorne schoss aus dem Boden und traf den Löwen am Hals. Er röchelte, sackte in sich zusammen, zuckte noch eine Weile rhythmisch mit den Beinen und blieb dann regungslos liegen.

Vivana hatte sich schnell wieder berappelt. Ihre erste Sorge galt allein dem Löwenfell: »Oh nein, da sind ja Löcher drin!« Selbst Urota musste da ungläubig mit dem Kopf schütteln. Wir betraten die Klosterruine und entfachten ein Feuer in der Mitte der großen Eingangshalle. Nachdem Vivana dem Berglöwen das Fell abgezogen hatte, teilten wir sein Fleisch zwischen uns auf und grillten es. Ich bat um die langen Eckzähne, immerhin hatte ich ihn – mit Iannas Hilfe – zur Strecke gebracht. Tarkin fragte mich erstaunt: »Bist du jetzt auch unter die Trophäensammler gegangen, Faundruide?« Ich erklärte ihm: »Wie du weißt, akzeptiert Ianna das Töten von Gegnern in Notwehr oder als Beute. Diese Eckzähne sollen mir nur als Erinnerung an dieses Wesen dienen, um es zu ehren, nicht um damit anzugeben.«
Die zerfallene Deckenkonstruktion gab den Blick auf die Sterne frei. Wohl gesättigt fiel ich in einen tiefen Schlaf.

Edwen weckte uns am nächsten Morgen: »Wohlan, es ist nicht mehr weit bis Altem!«
Tatsächlich kamen wir bergab schnell voran, zumindest bis wir auf eine Schlucht stießen, die etwa einen Steinwurf breit war. Eisiger Wind blies uns aus dem tiefen Felsspalt ins Gesicht.
»Wie kommen wir da rüber?«, fragte ich. Maluna zeigte nach links. Ich folgte ihrem Finger mit den Augen. Da war eine Hängebrücke. Beim Näherkommen konnten wir erkennen, dass diese ziemlich wackelig und heruntergekommen aussah. Sie schaukelte stark im Wind, einige Planken fehlten bereits, andere hingen nur noch lose an den Brückenseilen.
»Die macht keinen sehr vertrauenswürdigen Eindruck«, meinte Edwen.
Mir kam eine Idee. Ich griff in meine Tasche und holte die Zauberbohne hervor. Ich legte sie ans Brückenende und betete. Sie wuchs am Brückengeländer entlang, schaffte es aber nicht, die Schlucht komplett zu überbrücken.
»Vielleicht sollten erst einmal die Leichtgewichtigen voran gehen«, schlug Edwen vor.
»Ich zuerst«, rief Tarkin und ging mutig voraus. Plötzlich krachte es und Tarkin stürzte - doch er hatte Glück im Unglück, da sich sein haariger Fuß in der Bohnenranke verfangen hatte. Vivana ging vorsichtigen Schrittes, immer mit einem Fuß vorfühlend, über die Brücke und gelangte sicher auf die andere Seite. Sie warf Tarkin ein Seil dazu, mit dem er sich sichern sollte – er verfehlte es jedoch. Ich folgte vorsichtig, gelangte auf die andere Seite, konnte Tarkin aber auch nicht hochziehen.
Ich wollte noch »Warte Urota!« rufen, doch es war zu spät. Hilfsbereit wie er war, war auch unser Troll auf die Brücke getreten – und rutschte durch die Planken. Er konnte sich noch gerade so an der Bohnenranke festhalten. Als jetzt auch noch Edwen auf die Brücke trat, war es ihr zuviel – vor Edwen rissen alle vier Seile und die Brücke krachte mitsamt der Bohnenranke, an der wiederum Urota und Tarkin hingen, gegen die gegenüberliegende Felswand. Tarkin hing jetzt kopfüber in der Mitte der Schlucht, nur sein eingehakter Fuß verhinderte den Sturz in die Finsternis. Edwen hatte sich geistesgegenwärtig am diesseitigen Brückenseil festhalten können und zog sich wieder hoch: »Puh, das war knapp.«
Ich betete an Ianna, dass die Ranke Urota hochziehen sollte – er war jedoch zu schwer. Tarkin schafft es endlich, seinen Fuß aus der Schlinge zu ziehen. Flink kletterte er die Ranke und das verbliebene Seil hoch auf das rettende Felsplateau.
Zu dritt und mit Hilfe von Ranke und Seil schafften wir es endlich, auch den Troll in Sicherheit zu bringen.
»Was machen wir jetzt?«, wollte Edwen wissen, der noch mit Maluna und Freya drüben stand.
Freya überbrückte die Wartezeit, indem sie sich ein paar Himbeeren pflückte und jetzt begann, mit ihnen zu jonglieren.
Nach einigem Hin- und Herüberlegen, ließ ich die Ranke sich wieder in die Bohne zurückverwandeln, verwandelte mich selbst in meine Eichhörnchenform und kletterte mit der Bohne im Mund die Schlucht hinab. In der Finsternis am Boden der Schlucht hörte ich Krabbelgeräusche und beeilte mich, über ein kleines Bächlein zu springen, dass ich besser hören als sehen konnte. Auf der anderen Seite kletterte ich wieder hoch. Oben angekommen, tätschelte mir Edwen das Fell: »Was hast du denn vor, mein schlaues Eichhörnchen?«
Ich spuckte die Bohne aus, die wieder zu einer Ranke auswuchs und ungefähr drei Viertel der Schlucht überspannte. Dann kehrte ich in meine Faungestalt zurück und rief Vivana auf der anderen Seite zu: »Versuch aus deinem Seil eine Schlinge zu formen und sie über das Rankenende zu werfen.« Sie schaffte es auf Anhieb, zog die Schlinge fest zu und verknotete das Seil an einer großen Baumwurzel. Freya balancierte leichten Schrittes über Ranke und Seil – und ließ es sich nicht nehmen dabei weiter mit den Himbeeren zu jonglieren. Urota fand, dass das einen Applaus wert war. Maluna hatte ebenfalls einen ausgeprägten Gleichgewichtssinn und kam ohne Probleme auf die andere Seite. Edwen in seiner schweren Rüstung fiel das ganze schwerer. Er stolperte, als er auf der Ranke war, konnte sich aber festhalten und hangelte sich schließlich rüber.
Ich betete an Ianna – die Ranke wurde zur Bohne und sprang mir zurück in die Hand. Vivana holte ihr Seil wieder ein.

Welche Mühen und Nerven es uns gekostet hatte, über diese Schlucht zu gelangen!

Morgen würden wir endlich in Altem sein!