Samstag, 16. März 2019

Der letzte Tanz - Epilog

Auf zwei Langbooten schossen wir über den Fluss Regenarm. Die in fahles Licht getauchte Burgenstadt Regenfels lag hinter uns. Dunkle Wolken am Himmel, links und rechts zogen am Ufer Büsche und Sträucher vorbei. Die Ruderer hatten sich in die Riemen gelegt, darunter waren auch Saradar, Widun und Edwen. Anneliese, Freya und ich waren – wegen unserer zu kurzen Arme – vom Ruderdienst befreit. In unserem Boot saß ein mir unbekannter Mann, er war klein, hatte einen buschigen Schnauzbart und ebensolche Augenbrauen. Er gab die Befehle.
Im anderen Boot versuchten Urota und Maluna den Rhythmus zu halten, den Tarkin mit seinen Kommandos vorgab. Dies missfiel offensichtlich dem hünenhaften Kerl, der mit im Boot saß.
»Hier gebe immer noch ich die Kommandos, Kobold!«, maßregelte er ihn mit undeutlicher Stimme, da er ein langes Entermesser zwischen den Zähnen hatte.
Von der Statur her erinnerte er an Saradar. Mir fiel auf, dass er zahlreiche offene Wunden am Körper hatte. Litt er an irgendeiner Krankheit?
Ganz vorne saß doch tatsächlich Myk, der Knappe. Wie kam er denn hierher?
Tarquan hatte Vivana auf seinem Schoss liegen, sie hatte die Augen immer noch geschlossen – aber der Bund aus Blut & Feuer war wieder vollzählig – und – so wie es aussah – auf der Flucht!

Wir kamen an eine Stromschnelle, die die ganze Aufmerksamkeit der Ruderer erforderte. Das Wasser des tosenden Flusses spritzte in die Boote und ließ mich mit einem nassen Fell zurück. Jetzt hatte sich der Fluss wieder beruhigt und die Strömung war so schnell, dass die Ruder eingeholt werden konnten. Das Rauschen des Flusses hatte eine trügerisch friedliche Wirkung.

Ich tippte Edwen auf die Schulter und bat ihn zu erzählen, wie es ihm ergangen war und wie wir in die Boote gekommen waren, da ich ja eine Erinnerungslücke für die Ereignisse nach meinem Sprung in das schwarze Loch hatte. Edwen räusperte sich und begann in gedämpfter Stimme mit seiner Geschichte:

»Wie Du weißt, bin ich zurückgeblieben, um dem kranken Toran zu helfen. Ich half Gulim und der Magd dabei, ihm neue Wickel anzulegen, wenn er wieder einmal ein Delirium hatte. Er sprach dann wirr, ›tausend Augen‹, ›viele Gesichter‹ und ›Spinnen‹ kamen oft in seinen Fieberträumen vor. Es war furchtbar, meinen alten Weggefährten so leiden zu sehen. Aber Gulim gab die Hoffnung nicht auf. Er sei so schwer verwundet gewesen, dass es trotz der besten Heilkräuter noch eine ganze Weile dauern würde, bis er sich vollständig erholt hätte. Unterdessen war sein Bruder, Syr Benesch, erwacht und berichtete mir, was er im Grünen Kessel erlebt hatte. Er bezeichnete Toran als Hitzkopf, weil er das Leben seiner Männer aufs Spiel gesetzt habe, um ihn zu befreien. Er müsse noch viel lernen, bevor er ein richtiger Anführer sei, dankte mir aber, dass ich solange auf ihn aufgepasst hatte. Ich erfuhr auch, dass die Tekk Taraxhall nach der Eroberung besetzt hielten, was für sie sehr untypisch sei. Normalerweise würden sie die Menschen entführen und die Siedlungen niederbrennen. Erwähnenswert ist auch der Vorfall mit den Rittern vom Regenfels und dem Trupp Imbrier, die Syr Madhur festnehmen wollten. Zum Glück kam es zu keinem Blutvergießen und er ist mit einem Trupp Getreuer davongeritten in Richtung Grüner Kessel. Ich erfuhr von den Imbriern, dass Syr Xardrus ermordet wurde und Syr Madhur in Verdacht steht, die Strippen zu ziehen. Syr Benesch erschien auf der Burgmauer. Ihm als Führer der ersten imbrischen Armee und Lichtbringer beugten alle ihr Haupt. Er entkräftete die Auseinandersetzung zwischen den askalonischen und imbrischen Rittern, konnte aber nicht verhindern, dass ein Trupp imbrischer Soldaten Syr Madhur und seinen Mannen hinterherjagte. Ich entschied mich, die Ritter vom Regenfels zu begleiten, um mich euch wieder anzuschließen. Toran wusste ich bei Gulim in guten Händen. Als wir die beeindruckende Burg erreichten – ich hatte sie nur einmal als Kind besucht und fand sie genauso faszinierend wie damals – war ich überrascht, dass sie eine Ausgangssperre verhängt hatten. Wir kamen rein, aber keiner durfte raus. Auf dem Weg zur Inneren Burg traf ich auf Syr Aschantus, der mich nach Madhur befragte. Ich erzählte ihm, was ich mitbekommen hatte. Er schickte mich in ein Gasthaus, das aber mehr wie ein Gefängnis auf mich wirkte. Ich machte es zwei Männern nach, die ebenfalls wieder aus dem bewachten Gasthaus entschlüpft waren und folgte ihnen bis an einen der Wasserkanäle, wo sie Waren in Langboote verluden. Das waren eben jene beiden, die uns jetzt helfen. Sie hatten keine Zeit bis zur Aufhebung der Ausgangssperre zu warten, da sie für einen Händler Waren aus der Stadt bis zu einem Schiff in der Martoss-Bucht bringen müssen. Ich machte mich auf die Suche nach euch und da kam mir dieser Knappe entgegen, der mir alles erzählte. Er war nicht in die Waffenkammer gegangen, wie ihr ihm aufgetragen hattet, sondern hatte heimlich Syr Aschantus belauscht, wie er seinen Leuten den Befehl gab, den ›Bund aus Blut & Feuer‹ zu verhaften. Ich versuchte mit ihm entlang eines Wasserkanals zur Inneren Burg zu gelangen und …. da kamt ihr mir entgegengeschwommen – die meisten zumindest. Während ich dich rausfischen konnte, schaffte es Maluna gerade noch, Urota aus dem Wasser zu ziehen. Trolle können wohl nicht schwimmen.«
Das andere Boot war direkt neben uns – Urota hatte – wie die anderen auch – Edwen aufmerksam zugehört und grunzte, »Ritter in Eisenrüstung auch nicht!«, während er leicht an unserem Boot wackelte und Saradar zu dem Notruf »Rettet unsere Seelen!« veranlasste.
»Auf jeden Fall haben uns Inisch«, der bärtige Mann drehte sich um und nickte mir freundlich zu, »und Haab, der Halbgjölnar da drüben, mitgenommen. Ihr Kapitän sucht ein paar tüchtige Seeleute.«

Wir trieben eine Weile so dahin und nur ab und zu mussten die Ruder eingesetzt werden, um uns von den Felsen am westlichen Ufer weg zu bringen. Die Ostseite wurde von einem dunklen Wald gesäumt, dessen knorrige Äste und Zweige weit über den Fluss ragten. Nur ab und zu wurde er von einer lichten Stelle unterbrochen, an der ein Bach in den Regenarm mündete. Inisch erhob irgendwann seine Stimme: »Wir kommen bald an eine Stelle, an der wir anlanden müssen, weil der Fluss sich plötzlich zu einem kleinen See verbreitert und das Wasser zu seicht wird für die Boote. Macht euch auf nasse Füße gefasst!«

Der Fluss machte einen Bogen und im Scheine Zamas erkannten wir bereits von weitem die angekündigte Furt. Maluna hob die Hand, sie hatte etwas gehört: »Ich höre Hufschlag!«
Tarquan nickte: »Ja, das sind ein halbes Dutzend Pferde – Dreischlag mit Pause – sie reiten im Galopp!«
Inisch trieb uns an: »Erhöht die Schlagzahl. Wer weiß wer das ist, vielleicht eine Räuberbande! Wir müssen versuchen, vor ihnen an der Furt zu sein und schnell übersetzen!«
Die Ruderer gaben ihr bestes, und tatsächlich schafften wir es, weit vor dem Reitertrupp anzukommen. Die Pferde waren in den Trab zurückgefallen und der vorderste Reiter rief nach uns. Es war eine Frauenstimme, wir konnten nicht verstehen, was sie rief, doch wir erkannten, dass es die Stimme von Galinea war. Wir entschlossen, sie herankommen zu lassen. Die Anführerin stieg von ihrem Pferd und ging auf uns zu. Im Mondlicht konnte ich ihren Gesichtsausdruck erkennen, der freundlich wirkte: »Braucht ihr Hilfe?«
Sie nickte ihren Männern zu, die ebenfalls von ihren Pferden abstiegen und uns beim Tragen der Langboote halfen.
»Ihr seid Torans Freunde, also auch meine Freunde. In Regenfels suchen sie nach euch, aber das wisst ihr ja offensichtlich. Ich schicke ein paar Männer los, damit sie eine falsche Fährte für die imperialen Soldaten legen. Ich soll auf euch aufpassen. Euer Freund Lyr wird auch mitkommen.«
Auch zwei weitere ihrer Männer stiegen in die Boote. Die Seeleute waren zunächst etwas überrascht über die Neuankömmlinge, trauten sich aber nicht, weitere Fragen zu stellen.
Hinter der Furt nahmen die Boote wieder an Fahrt auf. Die Seeleute kannten die gefährlichen Stellen des Flusses. Unter ihrem Kommando konnten wir die Stromschnellen gut umschiffen.

Es wurde langsam hell am Horizont, der Morgen graute. Zu beiden Seiten des Flusses zwitscherten die Vögel. Plötzlich ein Leuchtstreifen am Ufer. Schnell wie eine Libelle war ein glitzerndes Etwas kurz über den Fluss geschossen, um dann wieder im Schilf zu verschwinden. Myk fragte erschrocken: »Was war das?«
Anneliese grinste: »Ich weiß es – verrate es euch aber nicht, da ihr es sowieso nicht glauben würdet!«
Die Luft wurde feucht und salzig. Inisch schnupperte und bemerkte vergnügt: »Ah, Seeluft, wie ich sie liebe! Es ist nicht mehr weit!«
Mit salzigem Geschmack auf den Lippen landeten wir am Ostufer der Mündung des Regenarms. Vor einem hölzernen Kai war ein Schiff vertäut. »Eine Kogge«, wie uns Inisch erklärte, »sehr beliebt bei den Händlern, die die Küste von Oxysm bis hinauf in den hohen Norden befahren«. Am Kai herrschte emsiges Treiben. Seeleute rollten über Holzplanken Fässer an Bord oder warfen Säcke an Deck. Aus einer kleinen Hütte trat ein breitschultriger Mann mit einem Walrossbart, der tief die morgendlich frische Seeluft inhalierte. Er trug einen dicken Seemannsmantel mit Goldknöpfen und seine Stiefel waren auf Hochglanz poliert, sodass sich die ersten Sonnenstrahlen darin spiegelten.
»Willkommen! Ich bin Kapitän Haldart und das ist mein Schiff, die ›Sturmkönigin‹!«
Einige der Männer fingen an zu tuscheln, als Inisch vor den Kapitän trat und auf uns zeigte zeigte: »Ich denke, ich hab' ein paar geeignete Matrosen gefunden!«
Edwen flüsterte, sodass es die Seeleute nicht hören konnten: »Ich fürchte, wir können uns für eine Weile in Askalon und Imbrien nicht blicken lassen. Der Bund aus Blut und Feuer wird wegen Mordes am Hochfürsten gesucht! Vielleicht können wir an Bord dem Ganzen erst einmal aus dem Weg gehen.«
Ich erwiderte ihm leise: »Aber der Mörder Deodan ist doch tot!«
Myk zog plötzlich unsere ganze Aufmerksamkeit auf sich.
»Schaut mal her!«
Er hatte den Beutel, den er von Wunnar erhalten hatte, genauer untersucht und zog ein gefaltetes Stück Papier daraus hervor. Er reichte es Edwen, der das Blatt entrollte -
»Ein Brief!« - und uns vorlas.

Hört zum letzten Mal, Ihr Krieger vom Bund aus Blut und Feuer, die Worte eines Toten. Mögen mir die Götter meine Taten vergeben und möge Mortarax mir den gerechten Weg weisen. Ich bin mir sicher, dass Ihr jetzt auf der Flucht seid. Ich hoffe, dass Ihr alle überlebt habt. Ihr wart meine letzte Karte, die ich ausspielen konnte, um auch an Deodan Rache zu üben.Ihr fragt Euch sicher, warum ich all diese Menschen getötet habe. Nun, ich will es Euch erzählen. Alles begann vor etwa drei Jahren, als sich die Schlinge der Ul'Hukk um Chiram, unsere schöne Stadt Chiram, die ja auch für einen Teil von Euch Heimat war, immer enger zuzog. Ich war damals der Hauptmann der Stadtwache und sollte mit den wenigen Männern, die mir zur Verfügung standen, die Stadt verteidigen. Wir konnten zum Glück viele Freiwillige gewinnen und sie notdürftig ausbilden. Auch sollte uns ein großes Heer aus askalonischen und imbrischen Truppen bald erreichen. Als sie eintrafen, wurde ich zum Kriegsrat berufen. Syr Xardrus hatte den Oberbefehl. Er hatte mit Syr Deodan und Syr Zaran sowie dem einfallsreichen Radex einen Plan ersonnen, wie sie die Tekk vernichtend schlagen wollten. Teil des Plans war es, dass nur ein kleiner Teil der Truppen in der Stadt selbst bleiben sollte, während der Großteil der Armee, insbesondere die Reiterei, den Tekk in den Rücken fallen sollte, sobald der Angriff im Gange war. Ich war der einzige, der Zweifel anmeldete. Chiram hatte keine dicken Verteidungswälle, die den Ul'Hukk lange stand halten konnten, ich befürchtete viele Opfer und forderte eine Verstärkung der Truppen vor Ort. Doch die anderen überstimmten mich. Ich erhielt dreißig Männer zur Verstärkung der Garnison – gerade einmal dreißig Männer! Es kam, wie es kommen musste. Während sich die hohen Paladine und Hochwohlgeborenen zurückzogen und in ihrem Feldlager lange Kriegsrat hielten, war die Zeit für eine Räumung von Chiram abgelaufen, die Tekk hatten die Stadt eingekesselt und dann - fielen sie wie die Bestien über uns her. Sie hatten Ogrens dabei, die in wenigen Augenblicken zwei Breschen in unsere Mauern geschlagen hatten. Die grauhäutigen Bestien aus Ultar strömten wie Ameisen in unsere Stadt. Meine Männer der Stadtwache kämpften tapfer – doch sie fielen wie die Fliegen. Es war hoffnungslos. Ich wollte meine Familie in Sicherheit bringen – doch zu spät – unser Haus stand in Flammen. Ich hatte sie zu ihrer Sicherheit im Keller untergebracht, wo sie sich verbarrikadieren sollten – mein geliebtes Weib Ella, meine drei Söhne und meine einzige Tochter! Jetzt wurde der Keller zu ihrer Todesfalle. Ich hörte ihre Schreie und ich konnte nichts mehr für sie tun. In meiner Verzweiflung wollte ich selbst verbrennen, doch die Hilfeschreie des Bäckers und seiner Familie erinnerten mich an meine Pflicht – den Schutz der Bürger! Uns gelang die Flucht und schließlich kam ich zur Bruderschaft der Gekreuzten Schwerter, in der ich wahre Freundschaft fand. Aber wütend und enttäuscht wuchs in mir das Verlangen, mich an denen zu rächen, die für den Tod meiner Familie verantwortlich waren. Während meiner Zeit auf der Wegburg schmiedete ich den Plan, wie ich die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen könnte.Das Gift, ja das Gift. Ihr wollt sicher wissen, wie ich daran gekommen bin. Gift ist die Waffe einer Frau heißt es immer, und tatsächlich stammte es von meinem Weib Ella. Sie war eine wunderbare Heilerin, die sich auch mit Giften auskannte. Ich trug die Bitteressenz immer bei mir in meiner Feldflasche, für den Fall, dass ich einmal in tekkische Gefangenschaft geraten sollte und mir so ein Ausweg blieb, um nicht lebendig an einem Fleischhaken zu enden. Es war eine besondere Flasche – indem ich am Mundstück drehte, konnte ich zwischen Gift und Schnaps wählen.Auch ich habe den Tod verdient - ich hätte meiner Familie beistehen müssen und habe sie doch durch meinen Rat in eine Todesfalle gebracht.Um den Heiler und den Notor tut es mir aufrichtig leid. Sie waren kurz davor, mich zu überführen, auch Radex hatte die Bitteressenz gerochen. Meine Rache war noch nicht vollendet. Dieser Lorgrim - er musste mich beim Mord an Fjalgur beobachtet haben – er war bloß ein Dieb – bevor er reden konnte, habe ich ihn mit einer Armbrust ausgeschaltet. Der Notor hatte einen Brief aus Medea erhalten, der mir gerade recht kam, da er euch schwer belastete und auch Deodan schließlich gegen Euch aufgebracht hat. Ihr wart das Werkzeug meiner endgültigen Rache!Wohlan denn, Ihr tapferen Helfer und Helden! Mögen Euch Eure Tage noch viel Segen, Ehre und Reichtum bescheren, auf mich wartet nur noch die bittere Finsternis auf dem Boden meiner Flasche.
Syr Wunnar, Hauptmann der Stadtwache von Chiram.

Donnerstag, 7. März 2019

Der letzte Tanz - Kapitel 12: Das Kabinett der Bestien

Wir hatten den hohen Regenturm bereits einmal umrundet und außer dem Treppenaufgang, der zum Haupteingang führte, keinen weiteren Eingang auf der Bodenebene entdeckt. Bei der zweiten Umrundung achteten wir auf die Steine. Tatsächlich, ein Stein sah locker aus. Saradar zögerte nicht lange und drückte drauf, Widun und Urota duckten sich instinktiv. Doch statt eines schwingenden Hammers öffnete sich eine Geheimtür. Fackeln an den Wänden erhellten die dahinterliegende Kammer. Auf dem Boden befanden sich Platten mit seltsamen Symbolen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums befand sich eine offene Tür.
»Was sind das für Symbole?«, fragte Freya in die Runde. Urota zuckte mit den Schultern, Widun kratzte sich am Kopf - Saradar trat auf die erste Platte – und die gegenüberliegende Tür fiel zu. Er ging zurück auf die Schwelle – und die Tür öffnete sich wieder. Er probierte eine andere Platte aus – die Tür blieb offen. Beim nächsten Schritt schloss sie sich wieder. Widun verfolgte das Muster aufmerksam: »Ein Runenrätsel! Das Geheimnis muss in den Runen selbst liegen! Saradar, tritt noch einmal auf die Platte, bei der die Tür offen geblieben ist!«
Saradar ließ sich dirigieren.
»Und jetzt auf die nächste vor dir!« - Tatsächlich blieb die Tür offen.
Widun strahlte über beide Backen: »Es sind vier verschiedene Runen, jede steht für eine Richtung, und zwar die Richtung, in die der nächste Schritt erfolgen muss.«
Er leitete Saradar entsprechend an und wir folgten, einer nach dem anderen, in den Fußstapfen des Barbaren.

Hinter der Runentür wand sich eine lange, breite Treppe in die Tiefe. Sie endete in einer großen Halle, die durch ein Loch in der Decke nur spärlich ausgeleuchtet wurde. Überall tropfte es von der Decke. Der Boden glänzte feucht, wir mussten aufpassen, nicht auszurutschen. Irgendwo musste ein Loch im Boden sein, da von unten her immer wieder ein starker, kalter Luftzug durch die Halle pfiff. Alle möglichen, nicht-menschlichen Geräusche drangen plötzlich an meine Ohren. Nach kurzer Gewöhnung an die schlechten Lichtverhältnisse erkannte ich rostige Gitterstäbe.
»Ein Gefängnis!«, vermutete Anneliese. »Das sind Zellen, und in den Zellen ...«
In der ersten saß ein kleiner, pelziger Geselle - »Ein Kobold?« - in der zweiten ein Wesen mit glänzender, schuppiger Haut und in der uns gegenüberliegenden erkannte ich die Umrisse eines Ogrens. Es war Gorrym, gegen den Urota gekämpft – und verloren hatte. Als er uns kommen sah, sprang er fauchend auf und hämmerte gegen die Gitterstäbe. Saradar brachte es auf den Punkt: »Das dunkle Geheimnis des Hochfürsten – das Bestienkabinett.«

Ein lautes Rattern übertönte plötzlich die Kakophonie der Bestien. Auf der gegenüberliegenden Seite des Bestienkabinetts wurde ein Fallgitter hochgezogen. Sechs Soldaten strömten hindurch und bauten sich vor uns in zwei Gefechtsreihen auf.
»Ihr seid gekommen, um die Sache zu beenden. Das hätte ich Euch nicht zugetraut. Glaubt nicht, dass wir es Euch leicht machen! Beim Blute Askalons, Angriff!« - Das war Deodans Stimme, die da aus dem Schatten heraus seine getreuen Soldaten in den Kampf schickte.

Saradar brüllte einen Schlachtruf – dessen vom Echo verstärkte Wirkung die Bestien für einen Augenblick verstummen ließ und trommelte sich mit den Fäusten auf die Barbarenbrust.
Vivana und Tarquan versuchten, sich im Schatten hinter die Angreifer zu schleichen – doch da geschah das Unglück. Ich hörte wie Pferd erschrocken aufschrie und bekam gerade noch mit, wie Vivana ihren Geliebten reflexartig am Arm erwischte, bevor dieser in ein Loch im Abgrund gestürzt wäre. Sie versuchte ihn heraufzuziehen, rutschte dabei aber auf dem glatten Boden aus und schlug mit dem Hinterkopf gegen den Treppenabsatz. Vivanas Hilfe reichte dem Söldner jedoch, um sich am Rand des Lochs hochzuziehen. Er beugte sich sofort über die besinnungslose Jujin-Diebin und kümmerte sich besorgt um sie, was für uns den Verlust zweier Kämpfer auf einen Schlag bedeutete.

Drei der askalonischen Soldaten waren mit Langbögen ausgerüstet und hatten durch die Lücken der ersten Reihe auf uns angelegt. Wir suchten Deckung – so gut das in der Halle möglich war – und die Pfeile zischten an uns vorüber. Freya versuchte die Gegner mit »Okului privo« zu blenden, wurde aber von Alun nicht erhört. Während Widun einen Trinkspruch an den Schratenherrn richtete, warf ich die Wunderbohne zu Boden. Wie erhofft erwuchs aus ihr der »Bohnenmann«. Ich betete um Unterstützung durch einen Waldgeist und wurde von Ianna erhört. Der Waldgeist verschmolz sogleich mit dem Bohnenkörper.
Auch Widuns Gebet wurde schließlich erhört. Aus den Ritzen der Bodenplatten trat ein Nebel, der sich zu einem geisterhaften Gebilde formte, das entfernt an einen Schraten mit geweihartigen Hörnern erinnerte.
»Das ist mein Schraten-Ururururgroßvater Waruin, und er wird für uns kämpfen!«, rief uns Widun zu.
Der »Schratenahn« wurde sogleich von zwei askalonischen Soldaten beharkt und wehrte sich mit einer Schlagwaffe, die man – so wurde mir später erklärt - »Bengel« nennt.
Die Bogenschützen hatten sich Urota als Zielscheibe ausgesucht und schossen auf ihn – vorbei. Maluna hingegen war treffsicherer und erwischte einen der Bogenschützen.
Mein Bohnenmann war zum Leben erwacht, richtete sich zu voller Größe auf und schritt trotzig Deodans Getreuen entgegen. Urota und Saradar nutzten die Deckung, die ihnen Iannas Geschöpf vor den Bogenschützen bot und reihten sich hinter ihm ein. Anneliese fuchtelte wild mit ihren Armen durch die Luft und schoss einen doppelten Flammenstrahl auf einen der Soldaten, der sich jedoch in Deckung werfen konnte und so mit leichten Verbrennungen davonkam.

Der Schratenahn hatte sich unterdessen mit einem Kampfschrei mitten ins Getümmel gestürzt und schlug wie wild um sich. Wenn er mit seinem Bengel zuschlug, schien er fast real zu sein, um dann sofort wieder in einen durchsichtig-leuchtenden Zustand zu wechseln. Die Hiebe der askalonischen Ritter konnten ihm aber wohl doch etwas anhaben - obwohl man ihm das bis auf ein Schwächerwerden seines Leuchtens nicht anmerkte - er war ja immerhin schon eine Weile tot.

Anneliese schoss erneut einen Flammenstrahl ab und auch Maluna traf mit einem Pfeil.
Deodan wägte sich hinter seinen Soldaten in Sicherheit. Ob sie ihm weiter so treu ergeben wären, wenn wir ihnen verraten hätten, wofür ihr Anführer verantwortlich war? Doch für Gespräche war die Zeit abgelaufen. Ich betete an Ianna, ein großer Dorn schoss hinter der Schlachtreihe aus dem Boden und traf den mutmaßlichen Mörder.

Tarkin hatte es auf die Weichteile seines Gegners abgesehen. Er versuchte ihm in den Unterleib zu schlagen – sein Hieb glitt jedoch an der eisernen Schamkapsel ab. Der Koboldritter musste sich unter dem Gegenschlag wegducken.

Tarquan hatte Vivana in Sicherheit gezogen und war gezwungen, selbst in den Kampf einzugreifen. Er versuchte, hinter die Gegner zu kommen. Saradar traf einen der askalonischen Soldaten mit einem Doppelschlag. Der Bohnenmann duckte sich unter dem Schwerthieb eines Angreifers weg, dafür wurde der hinter ihm stehende Urota getroffen. Schwarzes Trollblut quoll ihm aus einer Wunde an der Brust – Widun scheiterte beim Versuch, ihn zu heilen. Auch seine Bitte an Mnamn, die Feinde in einen Lachanfall zu versetzen, schlug fehl.
»Irgendetwas stimmt hier nicht, warum erhören uns die Götter nicht?«, fragte er verzweifelt. Mir fiel auf, dass alle Soldaten seltsame Amulette trugen, ob es damit etwas zu tun hatte? Auch Ianna gewährte mir keinen weiteren Dornenstich, der Schratenahn schlug vorbei und »Puff!« war er weg.
»Bis bald mal wieder, Uropa!«, rief ihm Widun noch hinterher.

Tarquan und der Bohnenmann wurden von den Soldaten schwer verletzt. Saradar hingegen schaffte es, einen der Soldaten zu Boden zu ringen. Der Rest der Soldaten einschließlich Deodan rückte enger zusammen, um die Verteidigung zu stärken. Saradar sprang mitten hinein und köpfte einen der Gegner mit seinem vorpalen Bastardschwert. Der stark lädierte Bohnenmann verwandelte sich wieder zur Bohne zurück und sprang in meine Hand. Der verdutzte Waldgeist verschwand mal wieder ohne Abschiedsgruß.

Syr Deodan hatte es auf Anneliese abgesehen, doch sie streckte ihre Arme aus - als wollte sie sagen»Nicht mit mir!« und schickte ihm einen Flammenstrahl entgegen, der ihn in einen Feuerball verwandelte. Er sprang vor Schmerzen kreischend durch die Halle und sank schließlich als Häufchen äschernen Elends zu Boden.

In der Hitze des Gefechts hatten wir ganz aus den Augen verloren, was um uns herum im Bestienkabinett vor sich ging. Der Hochfürst war durch das Falltor getreten und machte sich an einem Hebel an der Wand zu schaffen. Quietschend öffneten sich alle Zellentüren – die Bestien waren frei!
Er versuchte, zu seiner Tochter zurück zu humpeln - sie war gerade im Torbogen aufgetaucht - rutschte in der Eile aber aus und schlug unsanft mit dem Kopf auf den Boden.
Der freigelassene Ogrens ging mit großen Schritten auf den eingetrübten Hochfürst zu und schleuderte ihn - unter dem entsetzten Blick der Fürstentochter - mehrfach gegen die Steinwände. Er ließ ihn leblos liegen und ging dann auf Firnja los. Zum Glück hatte jemand das Fallgitter heruntergelassen, sodass sie vor ihm in Sicherheit war.

Unterdessen hallten Rufe und laute Schritte von der Turmtreppe herab. Syr Aschantus stürmte einer Gruppe imbrischer Soldaten voran. Sie stellten keine Fragen, als sie den toten Hochfürsten und den freien Ogrens sahen, sondern fingen sofort an auf alles zu schießen, was sich noch im Bestienkabinett befand.

Ich betete an Ianna, als der Ogrens auf mich zugetrabt kam. Und tatsächlich gelang es mir mit Hilfe der Erdgöttin, Kontrolle über ihn zu erhalten. Ich besänftigte ihn soweit, dass er von uns abließ. Einer der Freigelassenen, ein Schattentroll, war sofort auf Urota losgegangen. Dieser empfing ihn mit seiner Langaxt und machte kurzen Prozess.

Aus der Klemme zwischen Askaloniern, Monstern und dem Pfeilregen der imbrischen Soldaten mussten wir einen Ausweg finden. Der befreite Kobold winkte uns: »Hier lang, da unten ist ein Kanal!«
Er sprang in das schwarze Loch und beschwor dabei die Paladine der Ängstlichkeit »Beim Hasenfuß!« - wohl um sich Mut zu machen.
Ein Pfeil zischte knapp an mir vorüber – mit einem mulmigen Gefühl im Magen sprang ich dem Kobold hinterher - »Bei Anxiaaaaaa!«

Ich musste mir beim Fallen in den Wasserkanälen irgendwo den Kopf angestoßen und das Bewusstsein verloren haben. Als ich wieder zu Sinnen kam, saß ich hinter Edwen in einem Langboot.
»Wo kommst du denn her?«, fragte ich ihn verwundert.
»Das muss ich dich fragen, ich habe dich nasses Eichhörnchen gerade aus dem Kanal gezogen!«, lachte er.

Sonntag, 3. März 2019

Der letzte Tanz - Kapitel 11: Die Litanei des Todes

Wir folgten dem Gang in die Richtung, aus der wir den Schrei vernommen zu haben glaubten. Es war das hohe und schrille Kreischen einer Frau gewesen. Drei Steintreppen später standen wir im Obergeschoss des Gebäudes. Am Ende des Ganges war der Übergang zum Vermählungsturm. Zahlreiche Soldaten hatten sich dort versammelt. Der Waffenmeister war darunter – er wurde von einem Soldaten gestützt, hielt sich den Hals und hustete. Beim Näherkommen bemerkte ich, dass er einen ganz roten Kopf hatte. Aus der Turmtür drang ein schluchzendes Weinen und Jammern. Zwei Soldaten mussten die hysterische Firnja festhalten, der es in ihrer weinerlichen Verzweiflung gleich war, ob ihre Blöße bedeckt war. Neben dem großen Himmelbett lag ihr Bräutigam – nackt und rot. »Gift!«, folgerte Vivana sogleich.
»Weg, weg! Geht mir aus den Augen, alle!«, der Hochfürst kam herangestürmt und drängte uns zur Seite. »Schafft mir diese Gaffer – und diesen Wolf – was hat hier ein Wolf zu suchen? Schafft sie weg, sofort!« Damit waren wir gemeint. Ein Soldat trat nach mir – als ich ihn anknurrte, richtete er seine Hellebarde auf mich: »Ihr habt den Hochfürsten gehört, verschwindet!«
Der schockierte Notor rief uns nach, uns in einer Stunde in der Gaststätte zu treffen.

»Die arme Firnja, schluchzend und kaum verständlich brachte sie heraus, dass sich Zaran plötzlich an den Hals gefasst habe und nur noch sagen konnte, dass er keine Luft mehr kriege. Dann sei er hingefallen und nicht mehr aufgestanden. Wie bei Xardrus war seine Haut rot gefärbt und die Zunge hing ihm aus dem Hals. Radex hatte auf einem Stuhl vor dem Schlafgemach Wache gesessen und kam direkt hineingestürmt. Es habe nach Bitterknollen gerochen und er habe Firnja gerade noch von ihrem Bräutigam wegreißen können, bevor auch sie dem Gift zum Opfer gefallen wäre. Er selbst hat aber so viel eingeatmet, dass er mittlerweile in seiner Kammer liegt und immer noch um Luft ringt, ich weiß nicht, ob er die Nacht überleben wird!«, berichtete uns Fjalgur.
»Das alles beweist doch, dass der Alchimist Lyr unschuldig ist, oder? Vielleicht kann er Radex helfen und ein Gegenmittel herstellen!«, stellte Vivana fest.
»Ihr habt recht, ich werde es sofort veranlassen. Wenn er bereit ist, dem Waffenmeister zu helfen, ist er ein freier Mann.«
Eine Wache trat herein: »Ein eiliger Brief für den Hochfürsten, Notor!«
Fjalgur nahm ihn ungeöffnet entgegen und verabschiedete sich: »Entschuldigt, der Hochfürst hat sich mit seiner Tochter in eine geheime Kammer zurückgezogen. Ich muss solange seine Geschäfte führen, bis alles aufgeklärt ist. Sucht bitte nach dem Gift und findet den Mörder! Wendet Euch an Syr Aschantus, wenn Ihr etwas braucht. Die Innere Burg ist aus Sicherheitsgründen erst einmal für alle Fremden gesperrt, auf Anweisung von Syr Vardek.«

Lyr wurde aus seiner Zelle entlassen. »Ich brauche meine beschlagnahmten Sachen, wenn ich dem Waffenmeister helfen soll«, verlangte der junge Alchimist von den Wachen. Und tatsächlich brachten sie ihm seine Ausrüstung in eine Kammer im Bereich der äußeren Regenburg. In der Mitte des Raums stand ein Athanor, ein alchimistischer Ofen, wie uns Lyr erklärte.
»Der Notor hat verfügt, dass Ihr sein alchimistisches Laboratorium benutzen dürft, um ein Gegengift herzustellen. Eine Wache wird vor der Tür verbleiben und Euch im Blick behalten«, erklärte der Ranghöchste der Stadtwachen.
Lyr kramte ein Buch hervor. »Ah, mein Libello Loris Toxikis«, erklärte er, während er es eilig durchblätterte. »Hier steht es: Gegengift für Bitteressenz – Intensiv überschwefeltes Sauersalz. Ich brauche verschiedene Gerätschaften: einen Mörser mit Pistill, Phiolen dreier Größen und ...« - er blickte sich im Laboratorium um - »blaues und rotes Sauersalz. Hier ist der Schlüssel zu meiner Truhe. Sie steht noch in unserem Zelt neben dem Turnierplatz. Ihr erkennt es am Symbol der ›Roten Klingen‹. Beeilt Euch und bringt mir die Sachen hierher – dem Waffenmeister läuft die Zeit davon! Ich werde schon einmal den Athanor anheizen. Ich habe keinen Sulfo Vulkanos, äh, Schwefel ...«
Widun hatte eine Idee: »Vielleicht gibt es hier einen Winzer, die verbrennen doch Schwefel, um ihre Fässer zu reinigen!«
Vivana wollte sich um die Gerätschaften und Reagenzien aus der Truhe kümmern. Widun zog los, einen Winzer zu finden.
Freya sprang auf meinen Wolfsrücken und ich lief zur Kammer des Waffenmeisters, die sich in einem Turm der äußeren Burg befand, wie uns der Notor erklärt hatte. Vielleicht konnten wir ihm mit göttlicher Unterstützung helfen. Radex lag schwitzend auf seinem Bett, er atmete keuchend und murmelte vor sich hin. Eine Magd und ein junger Mann machten ihm feuchte Umschläge.
»Bitter, bitter … ich weiß es, ich weiß es!«, schrie er plötzlich im Delirium.
Der junge Mann blickte uns verwundert an. »Mein Name ist Freya, ich bin eine Priesterin des Alun und das hier ist Finn, ein Faundruide in Wolfsgestalt. Wir möchten für den Waffenmeister beten. Unsere Gefährten und der Alchimist Lyr versuchen ein Gegengift herzustellen.«
»Mein Name ist Myk«, stellte sich der pausbäckige Knabe vor. »Ich bin .. vielmehr war der Knappe von Syr Zaran … bevor, bevor«, eine Träne kullerte ihm die Wange herab.
»Jetzt stehe ich in Diensten des Waffenmeisters.« Er erneuerte gerade die Wadenwickel.
»Er hat Wahnvorstellungen und schreit die ganze Zeit«, erklärte er uns.
Freya legte ihm die Hand auf und betete an den Sonnengott. Ich legte mich ihm in Wolfsgestalt zu Füßen. Radex beruhigte sich daraufhin etwas, aber ohne ein Gegenmittel würde er die Nacht nicht überstehen.
Waffenmeister Radex.
Es kam uns wie eine Ewigkeit vor, obwohl in Wirklichkeit keine Stunde vergangen sein konnte, bis ein großer Hügeltroll die Tür für eine kleine Kobolddame öffnete. Anneliese trug eine Phiole mit violetter Flüssigkeit wie ein rohes Ei in beiden Händen vor sich her. Gespannt beobachteten wir, wie sie dem ohnmächtigen Radex das Gläschen an die Lippen hielt. Mit ein paar Tropfen benetzte sie ihm erst die Lippen und als er daraufhin den Mund etwas weiter öffnete, goss sie ihm mehr davon auf die Zunge. Er schluckte, hustete und schluckte wieder. Die Falten der Anspannung auf seiner Stirn verschwanden und er sank mit einem Schluchzen in den Schlaf.
»Es scheint zu wirken!«, freute sich der Knappe. »Er schläft jetzt. Vielen Dank für Eure Hilfe. Ich werde bei ihm bleiben und mich um ihn kümmern, ihr könnt gerne zu Bett gehen«, bot uns Myk an.

Die Mitternachtsstunde war vorbei. Wir hatten gerade unsere Zimmer in der Gaststätte betreten, als Hornstöße von der Inneren Burg herunterschallten. Wir stürzten hinaus auf die Gasse und rannten in Richtung des Wassergrabens. Die Brücke und die angrenzenden Gassen waren leer in den späten Nachtstunden. Eine dunkle Gestalt hastete die Treppen der Inneren Burg herab, Pfeile zischten an ihr vorbei. Im Mondschein Lors hoben sich die Silhouetten mehrerer Bogenschützen gegen den Nachthimmel ab, die auf den Fliehenden angelegt hatten. Im Licht der schwankenden Brückenlaternen konnte ich dann erkennen, wer da um sein Leben lief. Es war Lorgrim, der da versuchte, über die Brücke zu kommen. Er stolperte, stürzte und blieb auf dem Rücken liegen, sich vor Schmerzen krümmend. Ein Pfeil hatte sein linkes Bein durchbohrt.
Saradar rief: »Halt, hört auf zu schießen! Wir haben ihn!« Tatsächlich verschwanden die Schatten zwischen den Zinnen. Widun und ich knieten uns zu Lorgrim hinab. Mir fiel auf, dass er eine große Leinentasche über der Schulter trug. »Das Buch … ihr müsst es ...«, ächzte er. Sein Blick war angsterfüllt, Schweiß rann ihm von der Stirn.
Dann ging ein Ruck durch seinen Körper. Ein Bolzen ragte aus seiner Brust.
»Wer hat da geschossen?«, wunderte ich mich, während Syr Aschantus und einige Wachsoldaten die Treppe heruntereilten. Lorgrim röchelte, schaumiges Blut quoll aus seinem Mund und er tat seinen letzten Atemzug. Vivana machte sich an der Tasche zu schaffen und zog ein seltsames Buch heraus. Es war in dickes, altes Leder eingebunden, in das seltsame Glyphen eingeprägt waren, das Messingschloss in Form einer Spinne war versiegelt.
»Hier schaut eine Seite raus!«, fiel Anneliese auf. Sie zerrte daran mit aller Kraft, bis sie nach hinten umfiel. »Hier ist sie! Zumindest ein Teil davon ...«, vermeldete sie strahlend und ließ den Papierfetzen schnell in ihrer Tasche verschwinden, bevor der Paladin und seine Gefolgsmänner zu uns traten.
»Notor Fjalgur ist tot. Und das ist sein Mörder!«, er zeigte auf den toten Halbjujin.
»Er muss ihm das Buch gestohlen haben, das Ihr da in Händen haltet, Syr Kobold« - Anneliese hatte Tarkin das Buch gegeben und war in den Schatten getreten – nochmal wollte sie nicht riskieren, als Hexe verhaftet zu werden.
»Was ist passiert?«, fragte Widun bestürzt.
»Ich wollte mit dem Notor besprechen, wie wir weiter vorgehen. Ich fand ihn tot über seinem Pult liegen, auch er ist erdolcht worden! Aus einer dunklen Ecke sprang dann plötzlich dieser Kerl hervor und stürzte die Turmtreppen hinab. Jetzt haben wir ihn endlich, unseren Mörder!«
Aschantus schien sich sicher zu sein.
Ich erinnerte mich an die blutigen Fußspuren neben Waels Leiche und schnupperte an Lorgrims Stiefeln, konnte aber nichts feststellen. Dann schritt ich zu Aschantus, der mich verwundert ansah: »Wo kommt der Wolf her?«
Meine Gefährten erklärten es ihm.
»Wenn Du mal nicht mit den Dämonen des Abgrunds im Bunde stehst, Ziegen-Zauberer!«
Ich schnüffelte an seinen Stiefeln, roch aber auch hier keine Blutspuren. Vivana hatte die Leiche untersucht: »Ich kann die Mordwaffe nicht finden, er hat keinen Dolch bei sich!«
Syr Deodan trat aus einer Seitengasse, er hatte eine Armbrust in der Hand.
»Eine tolle Waffe, ich habe sie da drüben zwischen den Fässern gefunden!«, behauptete er.
»Aber wer hat sie abgefeuert?«, fragte Saradar in die Runde. Als Antwort kam nur ein Schulterzucken. Die Wachen waren mit normalen Langbögen ausgerüstet.
Deodan bekräftigte Aschantus' Ansicht: »Egal, wir haben den Attentäter. Es würde mich nicht wundern, wenn er von Madhur geschickt worden ist und wir irgendwo bei ihm auch Hinweise auf das Gift finden! Ich habe gehört, dass Ihr den Jujin besser kanntet?«
»Ist dem so?«, fragte der Paladin argwöhnisch. »Geht ins Gasthaus zurück. Ich habe vielleicht später noch ein paar Fragen an euch!«
Vier Soldaten trugen Lorgrims Leichnam davon. Deodan verabschiedete sich: »Ich werde den Hochfürsten unterrichten, dass die Gefahr vorerst gebannt ist.«

Wir befolgten die Anweisung des Paladins und machten uns auf den Rückweg zum Gasthaus. Ich verwandelte mich zurück. Tarkin kramte unterwegs das Buch hervor. Freya musterte die Oberfläche im spärlichen Licht der Laternen.
»Diese Zeichen sind mir völlig unbekannt, obwohl ich in der Bibliothek des Lichttempels alte Schriften studiert habe.«
Anneliese war ebenso ratlos: »Es sind auch keine magischen Symbole, damit kenne ich mich aus!«
Saradar und Vivana versuchten das Schloss zu öffnen, er mit Muskelkraft, sie mit Fingerfertigkeit und einem Dietrich - vergebens. Widun wies auf das Spinnensymbol hin: »Ich würde ein Fass Bier darauf verwetten – dieses Buch beinhaltet irgendeine Teufelei dieser Zurak-Kultisten!«
Maluna schlug vor, den Zirkel der Gelehrten zu Rate zu ziehen. Nach einem kurzen Nickerchen im Gasthaus, machten sich Maluna, Anneliese und Freya am frühen Morgen auf den Weg.

Es war bereits Mittagsstunde, als sie zurückkehrten. Die Wichtelpriesterin berichtete: »Nun ja, es lief alles zunächst ganz gut. Nach dem obligatorischen Rätsel ließ uns der alte Naharun hinein. Wir zeigten ihm das Buch und er wusste, dass Fjalgur es hatte und untersuchen wollte. Ein Fremder habe es bei ihm vor ein paar Monden zur sicheren Verwahrung abgegeben. Fjalgur habe Naharun erzählt, dass der fremde Krieger es einem mächtigen Hexenmeister gestohlen habe. Der Notor hatte Besorgnis, dass das seltsame Buch mit dem Siegel des Zurak Unglück über ihn bringen würde und sich bisher nicht getraut, es zu öffnen. Er vermutete, dass es sich nur mit Hexerei öffnen lasse, wer es mit Gewalt oder auf eine andere Weise wage, riskiere es, verflucht zu werden.«
»Dann hatten wir ja Glück letzte Nacht, dass es nicht geklappt hat! Und weiter?«, fragte ich neugierig wie ich war.
»Tja, und dann sind die Bücherregale umgekippt«, erklärte Maluna mit strengem Blick auf Anneliese. Die Koboldin zuckte mit den Schultern: »Kleines Ungeschick... Ich wollte nur mal sehen, ob sie magische Schriftrollen in der Halle der Bücher haben.«
Maluna ergänzte: »Ja, indem du auf das höchste Regal geklettert bist und es zum Kippeln gebracht hast.«
Freya legte nach: »Alle - ich betone - alle Regale sind umgekippt, eins nach dem anderen. Der Notor hat uns beschimpft und sogar nach den Wachen gerufen. Deshalb mussten wir uns aus dem Staub machen. Da können wir uns so bald nicht wieder blicken lassen.«

Ein Junge kam zur Tür des Gasthauses hereingestürmt. Der Schratenwirt donnerte ihn an: »Nicht so hastig mein Kleiner! Du erschreckst mir noch meine Gäste!«
Myk war außer Atem – er trat einen Schritt zurück, als er bemerkte, dass er direkt vor unserem Hügeltroll zum Stillstand gekommen war: »Der Waffenmeister ist zu sich gekommen. Er möchte sich bei Euch bedanken und hat etwas sehr Dringendes mit Euch zu besprechen. Ihm ist eingefallen, bei wem er schon einmal diese Bitteressenz gerochen hat.«

Wir ließen das Mittagessen stehen und folgten dem Knappen rüber zum Turm an der äußeren Mauer, in dem der Waffenmeister sein Quartier hatte. Knarrend öffnete sich die Tür – hier stimmte etwas nicht. Der Waffenmeister lag rücklings in seinem Bett und rührte sich nicht. Er hatte die Augen weit aufgerissen, eine Hand war seltsam verkrampft. Als wir das Laken zurückschlugen sahen wir, was los war. Radex hatte links vom Brustbein ein klaffendes Loch, aus dem Blut die Strohmatratze durchtränkt hatte. Myk schrie auf und wich zurück. Saradar öffnete die verkrampfte Hand. Auf dem Handballen fand sich der blutige Abdruck eines Schwertes vor einem Kessel und einer Burgmauer. Myk erkannte das Symbol sofort: »Das ist das Wappen von Chiram! Der gefallenen Stadt im Grünen Kessel!«
Vivana hatte es auch schon einmal gesehen: »Ein Kessel mit einem Schwert, dieses Wappen führt doch auch Syr Deodan!«
Widun fiel auch etwas dazu ein: »Die ›Roten Klingen‹ kommen doch auch alle aus dem Grünen Kessel!«
Wir hörten Schritte. Anneliese schaltete schnell: »Wir müssen hier weg! Die werden uns verdächtigen!«
Myk zeigte auf die gegenüberliegende Tür: »Da geht’s raus auf den Wehrgang. Von da aus können wir eine Leiter runtersteigen! Ich habe den Schlüssel zu Radex' Kammer, ich werde schnell die Tür von innen verriegeln.«
Nachdem wir unbemerkt die Leiter hinabgestiegen waren, spekulierte Vivana laut: »Und wenn Deodan hinter allem steckt, will er uns vielleicht als Schuldige präsentieren! Sein letzter Sündenbock Lorgrim kommt ja nicht mehr in Frage!«
Myk nickte und erzählte: »Deodan war unheimlich sauer auf den Heiler Wael, weil er meinen Herrn Syr Zaran an seiner Statt behandelt hat. Er konnte nicht gegen den Tekkgeneral antreten und wurde so um seine Rache gebracht. Syr Xardrus strich den Ruhm dafür ein. Ich hörte wie er sich bei seinem Freund Syr Madhur darüber aufregte. Ich bin mir auch sehr sicher, dass er einen Dolch hat, auf dessen Knauf sich so ein Wappen befindet. Ich habe es bei vielen Soldaten aus dem Grünen Kessel gesehen und bewundert. Falls sie uns schnappen, kann ich bezeugen, dass ihr nicht für Radex' Tod verantwortlich seid, ihr habt ihm ja sogar das Leben gerettet. Aber mir als halbem Kind werden sie bestimmt nicht glauben!«

Vivana zeigte auf das geheimnisvolle Buch, das Anneliese unter dem Arm trug: »Was machen wir mit dem Buch? Wenn sie uns schnappen, fällt es vielleicht in falsche Hände!« Anneliese klammerte es an sich: »Ich möchte es behalten, aber, aber … Was, wenn es wirklich verflucht ist und ich auch so ende wie der arme Notor!«
Ein Ausdruck von Panik trat in ihr Gesicht. Wir kamen am Gebäude mit dem Eulenschild vorbei. Anneliese war zurückgeblieben, wir blickten uns um. Sie hatte doch tatsächlich das Buch durch einen Schlitz in der Tür gesteckt.
»Ich hoffe, die alte Eule passt gut darauf auf!«
Vivana schüttelte den Kopf: »Ohne Worte!«
Hinter uns aufgeregte Rufe. Raschen Schrittes - Rennen wäre zu auffällig gewesen - gingen wir zur Brücke über den inneren Wassergraben. Wir waren entschlossen, Deodan zur Rede zu stellen und ihn als Mörder zu entlarven.

Der Hochfürst hatte nach der Entwarnung letzte Nacht den Aufgang zur inneren Burg wieder freigegeben. Den einzigen Wachmann an der Brücke hatte Maluna so in ihren Bann geschlagen, dass er den Rest der Gruppe gar nicht beachtete. Wir konnten ungehindert bis zum Vorhof der inneren Burg gelangen.
Im Schatten des Regenturms sahen wir eine Gestalt am Rande eines Brunnens sitzen. Sie hielt eine Flasche in der Hand und hatte ein Lied angestimmt. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte ich in ihr den alten Kämpen Syr Wunnar. Er trank wieder aus seiner flachen Feldflasche und sang das Lied vom letzten Wege, das ich schon auf dem Grabhügel vor der Wegburg gehört hatte. Als er uns kommen sah, begrüßte er uns und winkte.
»Was für eine Aufregung. Dieser Notor war gestern bei mir und wollte eine Kostprobe von meinem Schnaps, ist ihm wohl nicht gut bekommen, wie ich hörte«, lallte Wunnar, der offensichtlich betrunken war. Er schaute uns mit traurigen Augen an: »Aber dieser Lorgrim hat dafür bezahlt, habe ihm nie getraut, diesem Schlitzauge.«
Saradar wollte wissen, ob der Ritter Deodan gesehen hatte: »Ja, allerdings, er hat mich hier zur Wache eingeteilt. Frage mich, warum. Ist mit seinen getreuen Soldaten zum Hochfürsten gestürmt!«
»Wisst Ihr, wo der Hochfürst seine geheime Kammer hat?«, wollte ich wissen.
»Ich denke, dass ich Euch vertrauen kann. Er versteckt sich mit seiner Tochter irgendwo unter dem Regenturm. Weiß aber nicht, wie Deodan da reingekommen ist. Sie sind irgendwo hinter dem Turm verschwunden. Warum wollt ihr ihm folgen? Meint ihr etwa, dass er der Mörder ist? So ein edler Ritter von hohem chiramschen Geblüte! Hat mir sogar neuen Schnaps spendiert, so einer kann doch kein Mörder sein, oder?«
Der Sieger des Lanzenstechens warf Myk einen Beutel mit klimpernden Münzen zu.
»Da mein Junge. Hab' ich gewonnen, ich kann mit soviel Gold nicht umgehen. Du kannst es eher gebrauchen, erinnerst mich an meinen Sohn. Erst Dein Syr Zaran, der so furchtbar gestorben ist ...«
Myk bedankte sich, unsicher, ob es der Ritter auch ernst meinte.
Wunnar nickte, während er skeptisch an seiner Feldflasche roch und dann einen tiefen Schluck daraus nahm. Plötzlich begann er zu husten, wurde ganz rot im Gesicht und kippte rücklings in den Brunnen, ohne dass wir so schnell eingreifen konnten. Tarkin sprang auf den Brunnenrand und starrte in den Abgrund: »Nichts zu sehen, nur tiefe Finsternis!«
Saradar schüttelte sich vor Wut, er hatte in Hauptmann Wunnar während des Turniers einen Freund gefunden und nicht nur ein Bier mit ihm geleert.
Er brüllte: »Wunnar! Ich werde Dich rächen, das schwöre ich bei Osir und Keldyr, so wahr ich ein Khor'Namar, ein Sohn des Windes bin!«
Er wandte sich an uns, ich konnte eine Träne in seinem Augenwinkel erkennen. Radaras war auf seine Schulter geklettert und leckte ihm die laufende Träne von der Wange.
»Er war betrunken, als er mir nach dem Turnier im ›Braunen Tropfen‹ von seinem Schicksal erzählte. Er hat seine gesamte Familie beim Überfall der Ul'Hukk auf Chiram verloren. Deshalb konnte er sich auch über den Turniersieg und das Gold nicht wirklich freuen. Wenn ich diesen Deodan zu fassen kriege, ich werde ihm eigenhändig den Kopf von den Schultern reißen!«

Wir waren uns einig, dass es für Myk zu gefährlich sein würde und schickten ihn - trotz seines Protests – in die Waffenkammer, in der er sich auskannte und erst einmal in Sicherheit sein würde.