Samstag, 16. September 2017

Abenteuer 5: Der letzte Tanz - Prolog

Eine große Spinnwebe hing am Höhleneingang. Ich wischte sie beiseite. Von der achtbeinigen Bewohnerin keine Spur. Die schockierenden Ereignisse der letzten Zeit hatten ihre Spuren hinterlassen. Da standen wir, nur ernste Gesichter ringsum. Wir hatten unsere Waffen und Pferde in den Händen der Stadtwache zurückgelassen. Gerade den bärtigen Krieger Edwen und seinen Koboldkampfgenossen Tarkin trieb die Sorge um ihren Anführer Syr Rotall zur Eile an. Wir verließen im Dunkel der Nacht die Hexenhöhle und legten hastig die Strecke bis zur Weggabelung südlich von Medea zurück.
Der Söldner Tarquan trat aus dem Schatten direkt auf Vivana zu. Ich hörte, wie er sich von ihr verabschiedete.
»Vivana! Ich will und werde an deiner Seite bleiben, vorher jedoch muss ich Halar mein Kopfgeld aushändigen, das er einst für meine Dienste anzahlte. Dann erst bin ich frei und werde dir überall hin folgen!«
Mit diesen Worten drückte Tarquan Vivana noch einmal an sich. Dann wendete sich sein Blick auf Saradar, unseren »besessenen« Barbaren.
»Ich werde Saradar zu Halar bringen. Er ist ein Bruder vom gleichen Stamm, der wissen wird, wie man ihm helfen kann. Dann werde ich euch nacheilen so schnell ich kann!«
Ich drehte mich weg, da ich dem Geknutsche, das dann folgte, nichts abgewinnen konnte.
Widun und Anneliese entschlossen sich, die beiden zum Nordmarkt zu begleiten. Es folgte ein kurzer, aber herzlicher Abschied.
Tarquan hatte ein Seil um die Hüfte des mächtigen Gjölnars geschlungen, der, als er daran wie an einem Zügel zog, wortlos hinter ihnen her trottete.

Eine beschwerliche Reise wartete auf uns, der Pferde und liebgewonnenen Waffen verlustig gegangen; vor allem Urota trauerte seinem Riesenknochen nach. Uns blieben bloß die Kurzschwerter, die wir von den Räubern erbeutet hatten und der Schlangendolch, den Vivana in der Truhe gefunden hatte.
Nachdem unsere Gefährten in den Schatten verschwunden waren, zogen wir uns an den Wegrand zurück und berieten, welchen Weg wir zum Rösserpass einschlagen sollten.
Edwen kannte die Umgebung am besten und schlug vor, in südlicher Richtung die Altmark in Richtung Tremen zu durchqueren.
Vivana und Maluna waren unsere Augen und Ohren, sie gingen als Kundschafterinnen voraus. Tarkin, Edwen und ich folgten in Sichtweite, Urota bildete die Nachhut.

Ich blickte noch einmal zurück: am Osthang des riesigen Mon Alunas tauchten erste Strahlen der Morgendämmerung seinen Grat in ein leuchtendes Rot und kündeten von einem neuen Tag in Thalien. Sie ließen mich die Nächte voller Schrecken im Bannkreis des Zurakkultes fast vergessen.

Mittwoch, 6. September 2017

Des Henkers Braut - Epilog

Der Zurakkult war besiegt – so schien es uns zumindest. Der Brief der »Bruderschaft der Gekreuzten Schwerter« trieb uns zur Eile an, wollten wir noch rechtzeitig vor der Invasion der Tekk am Rösserpass eintreffen.
Bruder Unar hatte jedoch eine Ausgangssperre verhängen lassen. Er war der höchste Amtsträger der Alunpriesterschaft in Medea und hatte jetzt das Sagen, nachdem Inotius, der zungenlose Verräter, im finstersten Kerker gelandet war und auf das weltliche Urteil wartete, während das jenseitige über den Stadtherrn Rothbart dem Totengott oblag.
Unar hatte Haegus Malefar, dem »Hochwächter des heiligen Lichts«, eine Taube geschickt, um ihn über die Vorkommnisse in Medea zu unterrichten. Er war sich sicher, dass er eine Untersuchungskommission bilden und sie den beschwerlichen Weg vom Gipfel des Mon Alunas hinab entsenden würde – aber das konnte sehr lange dauern.

Unterdessen waren unsere Verletzten auf dem Weg der Besserung. Während die körperlichen Wunden von Tarquan schnell heilten, vor allem dank der aufopfernden Pflege von Vivana, hielt Saradars seltsamer Bewusstseinsverlust unerklärlich lange an.
Am Abend nach der Entlarvung Inotius' als Kopf des Kultes hatten ihn Utyferus, der junge Priester, den wir als Straßenmusikanten kennengelernt hatten, und eine Wichtelpriesterin namens Freya aufgesucht.
Der Priester hatte versucht, Saradars Fluch zu bannen, doch seine Bemühungen waren erfolglos geblieben. Am folgenden Abend hatten sie uns erneut aufgesucht, diesmal schienen sie weitergekommen zu sein. Sie waren überzeugt, dass er von einer dunklen Präsenz befallen sei und versprachen, ihm zu helfen.

Am folgenden Morgen – wir nahmen gerade ein Frühstück aus altem, harten Brot, ein paar Eiern, knusprig gebratenem Speck mit einer Gemüsebrühe ein – gesellte sich der Henker zu uns, sein Beil, die »Henkersbraut«, ruhte an seinem Schemel. Er hatte - wie immer in der Stadt - seine Maske auf, aber wir konnten erkennen, wie uns seine durchdringenden blauen Augen musterten.
Schließlich begann er: »Ihr seid eine seltsame Gruppe von Abenteurern, aber ihr habt hier viel verändert. Der Hochwächter des Lichts hat eine Gruppe aus einem Inspektor, sechs Priestern, einem Paladin und sechs Schwertern des Lichts entsandt, die hier alles auf den Kopf stellen wird. Ihr denkt, ihr habt der Stadt geholfen, doch das Böse weilt immer noch hier – unsichtbar für die Sterblichen, lauernd im Schatten. Der Inspektor wird euch nicht mehr fortlassen. Geht besser, solange ihr noch könnt. Sie werden nach euch suchen, weil ihr die Ausgangssperre missachtet habt, aber ihr werdet leben.«

Wir wussten, dass wir die Stadt über den Geheimgang am alten Wehrturm jederzeit verlassen konnten, doch wollten wir nicht ohne unsere Pferde und unsere Waffen gehen.
Wir versuchten also, von Unar die Erlaubnis zu bekommen, die Stadt verlassen zu dürfen. Er verwies uns jedoch an die nächsthöhere Instanz, an Haegus Malefar, den Vorsteher des Ordens der Wächter des heiligen Lichts. Wir ließen von Bruder Latius eine Nachricht verfassen und per Taube verschicken, doch die Zeit drängte, wir konnten unmöglich einen Halbmond warten, bis eine Antwort eintreffen würde.
Ohne eine Besserung von Saradars Zustand war allerdings nicht an eine Flucht zu denken.
Vivana zweifelte, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, den Alunpriestern Saradars Leben anzuvertrauen. Doch wir wurden nicht enttäuscht. Nach unserer Rückkehr in die Schenke trafen wir auf einen griesgrämig dreinblickenden Wirt, der gerade seine Krüge polierte. Ich war mir sicher, dass er uns insgeheim für die Ausgangssperre verantwortlich machte und uns gerne besser heute als morgen los geworden wäre. Mürrisch entgegnete er uns: »Da oben wartet jemand auf euch.«

Utyferus stand in der Tür zu Saradars Krankenlager. Eine Kette mit einem Knochen baumelte an seiner Hand, die deutliche Kratzspuren aufwies. Tarkin fragte besorgt: »Ihr seid verletzt, was ist euch widerfahren, und was ist das für ein Knochen?«
»Das an meiner Hand? Das war bloß Kater Filius, der mag es nicht, wenn man ihn streichelt. Und das hier ist eine Reliquie, um genau zu sein: das Schädelfragment des Hl. Kaleisius. Fragt lieber nicht, was ich auf mich genommen habe, um in seinen Besitz zu gelangen. Legt Saradar die Kette um, der Knochen muss Kontakt mit seiner Haut haben, um wirksam zu sein. Er ist dann nicht geheilt, es wird aber den Wandlungsprozess aufhalten und er wird auch wieder gehen können. Ihr müsst ihn so schnell wie möglich nach Norden bringen, nur ein Priester seines Gottes kann ihn wirklich von der schwarzen Präsenz befreien.«
Der Priester legte dem Gjölnarbarden die Kette um den Hals und sprach ein leises Gebet an den Lichtgott. Der Knochen ruhte dabei auf der Brust des Khor'Namar, des Windsohns.
Utyferus sprang erschrocken zurück, als plötzlich Saradars Wiesel aus dessen Hose herauskroch und Freudensprünge auf dem Bauch des Barbaren vollführte.
Saradar schien es tatsächlich schlagartig besser zu gehen. Er konnte sich aufsetzen, aufstehen und sogar ein paar Schritte laufen, sein Blick war jedoch immer noch leer.

»Wo ist die Wichtelpriesterin?«, wollte Tarkin wissen.

»Wenn ich das wüsste. Schwester Abelia hat sie heute Morgen das letzte Mal gesehen. Ich mache mir schon Sorgen. Ich dachte, sie würde mir helfen beim ›Ausleihen‹ der Reliquie, doch sie war wohl besorgt um ihre Stellung in der Priesterschaft. Vielleicht hat sie ihre Ansicht geändert, und sich aus Scham versteckt, ich weiß es ehrlich gesagt nicht.«

Tarkin verriet ihm den Geheimgang am alten Wehrturm, falls er selbst in Verdacht geraten sollte.
Er verabschiedete sich lächelnd von uns: »Möge das Licht euch immer scheinen. Inspektor Elysius soll ein harter Hund sein, aber es wird schon nicht so schlimm werden. Lebt wohl.«

Wir haderten, ob wir uns durch einen Trick, wie einen inszenierten Brand, unsere Waffen und Pferde von der Stadtwache zurückholen sollten. Wir entschieden dann aber doch, die Stadt klammheimlich durch den Geheimgang zu verlassen. Immerhin blieben uns die Waffen, die wir im Kampf mit den Räubern und Zurakpriestern erbeutet hatten.

Mit geleckten Wunden und aufgefülltem Proviant, freute ich mich auf unser nächstes Abenteuer.

Des Henkers Braut - Kapitel 9: Besessen

Zwei Gestalten in weißen Roben verließen den Tempel des Lichts in Medea. Beide hatten ihre Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Der auffälligste Unterschied zwischen beiden war ihre Körpergröße. Während die eine Gestalt eine durchschnittliche Größe für einen Menschen hatte, war die andere winzig. Sie machte die mangelnde Schrittlänge durch schnelles Trippeln und eingestreute Sprünge wett, sodass sie gleichauf blieben.
Die Straßen Medeas waren mittlerweile leer, es hing ein Schleier kalten Rauchs in der Luft, der das Licht der Laternen trübte.

Endlich hatten sie ihr Ziel erreicht, den Gasthof »Zum Fasanenruf«. Ein paar Kerzen und das heruntergebrannte Kaminfeuer erhellten den Gastraum nur spärlich. Beim Eintreten schlugen die beiden ihre Kapuzen zurück. Sie wurden bereits erwartet.

Vivana begrüßte den Ankömmling: »Bruder Utyferus, gut, dass ihr schon da seid. Unserem Gefährten geht es sehr schlecht. Er liegt oben und windet sich in Krämpfen. Tarkin ist bei ihm. Unser Priester des Mnamn hat schon versucht, ihn zu heilen, aber sein Zustand hat sich eher noch verschlechtert.«

Der junge Priester wandte sich an seine winzige Begleiterin: »Schwester Freya, geht bitte nach oben und schaut nach ihm. Kommt wieder, falls ihr Hilfe braucht.«
Die Wichtelin machte eine kurze Verbeugung und sprang dann flink die Treppenstufen hinauf.

Der junge Alunpriester ging zu einem verschwörerischen Flüstern über: »Glaubt mir, die niederen Götter können in einem solchen Falle wenig ausrichten. Der Schratenherr, naja, man kann nicht jeden Fluch mit Schnaps vertreiben.« Aus einer dunklen Ecke kam ein beschwipstes »Das hab' ich gehört!«.

Am oberen Treppenabsatz tauchte die Wichtelpriesterin wieder auf und rief: »Bruder Utyferus, ihr müsst ihn euch selbst ansehen. Da stimmt etwas nicht!«

Der Gerufene eilte die Treppe hinauf und betrat das Zimmer. Er sah, wie der Faundruide gerade ein Gebet an die Erdmutter sprach, doch vergebens. Es knackte im Gebälk, der Barbar hustete, sonst passierte nicht.
Tarkin, der Kobold, hatte dem Barbaren Wadenwickel angelegt und kühlte gerade seine Stirn mit einem nassen Lappen. Der Gjölnar schien sich beruhigt zu haben. Er lag still da und starrte an die Decke. Er schien sehr weit weg zu sein.

Finn, der Faundruide, sah den Alunpriester verzweifelt an: »Wie kann ich ihm helfen?«

Der Priester antwortete: »Ehrlich gesagt: wenig; Ianna hat hier keine große Macht. Aber ihr könntet einmal lüften, ein übler Gestank liegt im Raum.«

Utyferus beugte sich über Saradar: »Seht, er hat die Augen nach oben verdreht, sodass man nur noch das Weiße sehen kann. Ich will versuchen, den Fluch zu bannen, der auf ihm lastet. Bitte tretet alle zurück.«

Alle folgten seiner Aufforderung. Während die Umstehenden in tiefes Schweigen verfielen, versenkte sich der junge Priester ins Gebet. Nach einer Weile holte er eine Flasche geweihten Wassers und acht kleine weiße Kerzen aus seiner Gürteltasche. Die Kerzen stellte er in regelmäßigen Abständen um Saradar herum auf und entzündete sie. Dann machte er das Sonnenzeichen. Er öffnete den Verschluss der Flasche und begann, Saradar mit geweihtem Wasser zu besprenkeln. Die Tropfen schillerten im Kerzenschein in allen Farben. Währenddessen intonierte er mit tiefer und fester Stimme einen zölestischen Gesang: »Esruch Fugon Nomo Alunas.« Das Kerzenlicht flackerte kurz auf, doch an Saradars Zustand änderte sich nichts.
Der Gesang des Priesters erstarb schließlich. Enttäuscht blickte ihn die kleine Wichtelpriesterin an: »Wenn er verflucht wäre, müsste es ihm doch jetzt besser gehen.«
Der weiße Priester sank erschöpft auf einen Stuhl. »Ich verstehe es auch nicht. Ich befürchte, es handelt sich nicht bloß um einen simplen Fluch. Fast wirkt es, als sei er … Nein, das kann nicht sein.«
Der faunische Druide sah ihn fragend an. »Es scheint fast so, als ob euer Freund von einer fremden Macht befallen sei. Ich schlage vor, dass ihr euch abwechselnd um ihn kümmert. Ich muss mit Schwester Freya in die Tempelbibliothek. Wir kommen morgen wieder. Falls sich sein Zustand in der Zwischenzeit verschlechtern sollte, wisst ihr, wo ihr uns findet.«
Mit diesen Worten verließen die beiden Alunpriester das Gasthaus und kehrten zum Tempel zurück.
Dort schickte Utyferus die kleine Wichtelfrau ins Bett: »Die Bibliothek ist abgesperrt und Bruder Amelfus hat den Schlüssel. Wir treffen uns gleich nach dem Morgengebet in der Bibliothek. Gute Nacht.«

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»So, so; ihr wollt also in den gesperrten Bereich«, stellte der alte, gebeugte Amelfus, der Verwahrer der Bücher, fest.

»Es ist eine Notlage. Einer der Abenteurer, die den Zurakkult vernichtet haben, wurde verflucht, ich muss an die Bücher über Dämonen und schwarze Künste – ansonsten ist er verloren!«, beteuerte der junge Priester.

»Bruder Utyferus, ich will es euch erlauben. Hier ist der Schlüssel. Inotius war mir schon immer ein bisschen zu fromm – das kam mir schon immer verdächtig vor. Er hatte seinen eigenen Schlüssel für den gesperrten Bereich, ich habe ihn oft des Nachts mit einer Kerze dort sitzen sehen. Jetzt weiß ich warum!«

Utyferus legte Freya einen großen Folianten auf den Tisch, blies den Staub vom Deckel und schloss ihn auf: »Der Codex ›Nomo Daemonico‹, vielleicht werdet Ihr darin fündig, Schwester Freya.«

Das Buch war sogar aufgeschlagen noch höher als sie. Sie zog sich an dem großen, geschlitzten Lesezeichen hoch und setzte sich an den unteren Seitenrand. Sie war eine schnelle Leserin. Zum Umblättern ging sie an den rechten Seitenrand, zog an der Ecke und lief mit ihr auf die linke Seite rüber, wo sie sie behutsam ablegte.
Die Strahlen der Mittagssonne fielen gerade durch das bunte Mosaikfenster, das eine Eule darstellte – ein Symbol für Skia, die Göttin der Weisheit – als Freya aufgeregt aufschrie: »Ich hab's, ich hab's gefunden!«
Freya beim Stöbern.
Utyferus trat zu ihr: »Leise! Ihr vergesst Euch! Wir sind doch in einer Bibliothek! Zeigt mir, was Ihr gefunden habt.«
Sie las ihm eine Passage aus Band X des Dämonencodex vor, in dem es um »Verfaulte Leiber« ging:

»Der Schwarze Sud.
Findet sich am Corpo sub axilla, sub lingo oder im Sacco conjunctivo eine Nigra Substancia, so ist vom Sodi Nigri, in der Gemeinen Sprache auch Schwarzer Sud genannt, auszugehen. Die Substancia hat in der Regel einen fauligen Foetorio; der Volksmund bezeichnet den Befallenen daher auch als ›Verfaulten‹. Der Befallene hat die Augen geöffnet, sie regelhaft aber so verdreht, dass nur noch die Sclera Alba sichtbar ist; er reagiert nicht auf Ansprache. Die Nigra Substancia dringt von diesen Loci aus langsam in den Corpo ein und verzehrt die Seele des Befallenen. Dieser Processo läuft langsam ab, doch nach ungewisser Duracio ist er irreversibel. Dann ist aus dem Befallenen ein williger Diener des Gottes des Hasses geworden, dessen Nomo hier nicht weiter expliziert wird.»Sehr gut, Schwester Freya.«, lobte Utyferus die kleine Wichtelin. »Findet sich dort auch etwas über eine mögliche Heilungsprozedur?«

Freya zuckte mit den Schultern: »Darüber findet sich hier nichts, Bruder Utyferus. Vielleicht im Band XX über Heilung von Besessenheit.«

Utyerus holte einen weiteren Wälzer aus dem Regal, blies wieder den Staub vom Buchdeckel und legte ihn offen auf den Tisch. Schnell hatte er die entsprechende Passage gefunden. Er las laut vor:

»Heilung vom Schwarzen Sud.
Ein rapportierter Caso von Bruder Semwellius.
--- Und so gelang es mir – ich will es, ohne mich der Sünde des Stolzes schuldig zu machen, ... mit Hilfe einer Reliquie, dem Proc. Coccygo des Schutzheiligen Podexius … mit Contacto zum Corpo … das Fortschreiten des Sodi Nigri zu verhindern … doch eine vollkommene Restitucio … ist nur einem Priester des Hauptgottes des Befallenen möglich.
Aliud denke ich, dass auch die Gebeine eines anderen Schutzheiligen in Betracht gekommen wären.«Utyferus hatte ein breites Lächeln auf den Lippen: »Wir müssen uns zunächst versichern, ob er tatsächlich vom Schwarzen Sud besessen ist. Kommt, Schwester Freya.«

Die beiden Priester wollten gerade den Tempel verlassen, als sich ihnen ein Jüngling in brauner Kutte in den Weg stellte. Es war Tolar, der einzige der Novizen aus Altem, der das Wüten des Zurakkultes überlebt hatte.
»Bruder Utyferus, Schwester Freya, Bruder Unar will euch sehen.«
Sie folgten dem jungen Mann in den hohen Tempel. Unar kniete vor dem Altar des Lichts und war in ein Gebet vertieft. Als er die beiden Priester bemerkte, machte er das Sonnenzeichen und erhob sich.

»Schön, dass ihr gekommen seid. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal die Amtsgeschäfte eines Hohepriesters und eines Stadtherrn übernehmen müsste. Nun, Alun hat so entschieden. Wie dem auch sei. Ich wollte euch unterrichten, dass eine Taube gekommen ist. Der Hochwächter des Lichts befiehlt, dass wir eine Ausgangssperre über Medea verhängen sollen. Ich habe dies direkt an die Stadtwache weitergeleitet. Sie soll bestehen bleiben, bis ein Inspektor mit seiner Gefolgschaft vom Mon Alunas eingetroffen ist, und die Angelegenheit gründlich untersucht hat. Ich habe gehört, ihr habt den ganzen Tag in der Bibliothek zugebracht und dadurch das Mittagsgebet versäumt.«

Aus den Gesichtern der beiden konnte man zunächst Erschrecken und dann Beschämung herauslesen. Sie ließen die Köpfe hängen.

»Was war so wichtig, dass ihr eure Pflichten vergesst?«, wollte Unar wissen.

Er musste sich wegen seines schlechten Gehörs etwas nach unten bücken, als ihm Freya antwortete: »Wir haben herausgefunden, dass der Barbar wahrscheinlich vom Schwarzen Sud besessen ist!«

Jetzt sah Unar erschrocken aus: »Der Schwarze Sidd? Alun, behüte uns vor den Geistern des Abgrunds!«
Er machte das Sonnenzeichen.

Utyferus ergänzte: »Wenn es so ist – wir müssen das erst noch verifizieren – brauchen wir die Reliquie eines Schutzheiligen.«

Unar schüttelte den Kopf: »Wir können sicherlich keine Reliquien an irgendwelche Barbaren aus den Nordlanden verschwenden. Aber, versucht euer Glück, stellt einen Antrag an die Reliquienbewahrer, vielleicht genehmigen sie euch die Verwendung. Ich weiß nur, dass Bruder Emerius gar nicht begeistert wäre, wenn ihr seine Reliquiensammlung durcheinander bringt. Und nun holt euer Mittagsgebet nach!«

Die beiden Priester knieten nieder und versanken ins Gebet, als von draußen schon die Abenddämmerung durch die Mosaikfenster drang.

Wieder schwebten die zwei weißen Roben wie Geister durch die Gassen Medeas, die bereits ins Zwielicht getaucht wurden.

Im dämmrigen Licht des Schankraums des Fasanenrufs hatte sich die Abenteurergruppe versammelt. Nur der Barbar aus dem Norden fehlte. Der Halbschrat Widun saß an der Theke und war in ein Gespräch mit dem missmutig dreinblickenden Wirt vertieft, der gerade jammerte: »Dumme Sache, diese Ausgangssperre. Jetzt bleibt meine Kundschaft aus. Wenn ihr nicht wärt, würde noch mein Bier schal werden.«
In einer Ecke des Raums waren zwei weißbärtige Männer in ein Würfelspiel vertieft, Bronzemünzen wanderten begleitet von einem Lachen des Gewinners und einem Seufzen des Verlierers hin und her über den Eichentisch. Eine Bank wurde fast vollständig vom riesigen Hügeltroll Urota eingenommen, sie ächzte und knackte bereits unter seinem Gewicht. Ihm gegenüber saß der Faundruide, dessen Huhn gerade – unter dem strengen Blick der übrigen Abenteurer – gackernd über den Tisch stolzierte. Vivana füttere Tarquan, ihren Liebsten – es roch nach Bohnen mit Speck, ein kühles Bier durfte natürlich nicht fehlen.
Eine rothäutige Schönheit aus dem Land des Feuers musste einer kleinen Koboldmagierin von ihrer Heimat berichteten. Ein bärtiger Krieger schaute gedankenverloren ins Kaminfeuer.
Bei jedem Geräusch von draußen hoben sich die Köpfe erwartungsvoll und blickten in Richtung Tür.
Diesmal waren sie es: die beiden ungleichen Alunpriester.

Während die Wichtelpriesterin ohne lange Vorrede die Treppe hinauf sprang, setzte sich Utyferus zu den Abenteurern: »Alun zum Gruße!« Er fuhr in einem Flüsterton fort:
»Wir sind uns ziemlich sicher, was euren Freund befallen hat. Eine dunkle Präsenz hat von ihm Besitz ergriffen, die ihm die Lebenskraft aussaugt. Es ist kein Dämon, den man austreiben könnte. Doch wartet, Freya überzeugt sich gerade, ob auch die anderen Zeichen zutreffen. Wir müssen uns erst ganz sicher sein.«

Die Wichtelin rutschte mit einem breiten Grinsen im Gesicht das Treppengeländer herunter. Sie sprang Utyferus auf die Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Es ist so, wie wir vermutet haben. Wir haben auch schon eine Idee, wie wir eurem Freund helfen können, aber es wird nicht einfach. Vertraut uns, wir machen das schon.«

Dabei zwinkerte er der Wichtelpriesterin zu.

Samstag, 5. August 2017

Des Henkers Braut - Kapitel 8: Die Wahrheit kommt ans Licht

Je näher wir dem Marktplatz kamen, desto lauter wurden die Rufe und Schreie einer aufgebrachten Menschenmenge. Als uns die Menschen bemerkten, traten sie zurück, um uns durchzulassen. Aus manchen Gesichtern sprach Angst, andere schauten uns zornig an, manche schienen auch einfach nur verwirrt zu sein.
In der Mitte des Markplatzes angelangt, schlug uns die Hitze eines brennenden Scheiterhaufens entgegen. Hier war jemand verbrannt worden, es waren nur noch verkohlte Überreste zu sehen.
Aus dem grellen Feuerschein kam uns eine Gestalt entgegen. Es war Inotius in seiner blutverschmierten Robe. Der Henker stand ihm zur Seite, sein poliertes Beil blitzte im Flackerlicht.
Als der doppelzüngige Priester uns wahrgenommen hatte, begann er wild gestikulierend die Menge aufzuwiegeln – sein Gesicht wirkte in der Glut des Scheiterhaufens wie eine verzerrte Dämonenfratze.

»Eine Hexe haben wir verbrannt, aber unter dieser Gruppe befindet sich eine weitere Hexe – eine Feuerhexe! Und dieser Troll da ist ein Menschenfresser, der euch von Zurak geschickt wurde! Dieser Faun dort hat eine dämonische Flöte, mit der er den Stadtherrn verhext hat! - Helft mir dabei, diese Diener Zuraks auszumerzen!«

Inotius' Lügen verfehlten ihre Wirkung nicht – die Menschen bewarfen uns mit Steinen. Sie kesselten uns ein und der Kreis wurde immer kleiner. Da trat plötzlich Tolar vor, der letzte der Novizen, und versuchte Inotius zu beschwichtigen.

»Bruder Inotius, hört mir zu! Ich kann für sie bürgen. Sie haben die Stadt Altem von einer Rattenplage befreit und mich und zwei weiteren Novizen des Alun auf der Reise nach Medea beschützt. Sie sind keine Anhänger des Zurak!«

Die Leute schien das ganze wenig zu kümmern, sie warfen weiter mit Steinen und der Kreis schloss sich unaufhaltsam.
Widun: »Wir können beweisen, dass wir keine Diener des Hassgottes sind. Haben nicht alle Diener die Tätowierung einer Spinne auf der Brust? Gefährten, entblößt eure Brust!«
Auf Widuns Geheiß hin zeigten wir – zumindest die männlichen Mitglieder der Gruppe – den Leuten unsere nackte Brust. Mein Huhn sprang erschrocken aus der offenen Lederrüstung, landete auf dem Boden, legte ein Ei und verfiel sofort wieder in seine Schockstarre.
Ich konnte erkennen, dass sich Inotius suchend umblickte. Sein Gesichtsausdruck wirkte panisch. Ihm war wohl bewusst geworden, dass sein falsches Spiel gleich aufflog. Dann ging plötzlich alles ganz schnell. Er versuchte, sich davonzustehlen – doch der Henker packte ihn an der Robe – und diese zerriss bei der Fluchtaktion. Für alle sichtbar prangte das Mal einer Spinne auf seiner Brust.
Inotius' Augen wurden rot – er öffnete die Lippen – wahrscheinlich um einen Fluch auszustoßen – doch der Henker war schneller: mit seiner Linken zog er die lügnerische Zunge hervor, und mit dem Messer in seiner Rechten schnitt er sie ab. Statt verfluchter Worte sprudelte ein Schwall dampfenden Blutes aus Inotius' Mund und der falsche Priester sank zitternd zu Boden.

Der Pulk wurde von zwei Stadtwachen zur Seite gedrängt. Sie machten Platz für die Brüder Unar und Utyferus.
Bruder Unar: »Zum Henker, was ist hier passiert? Wie konntet ihr die Hexe hinrichten, ohne dass der Stadtherr anwesend war! Und warum liegt Inotius bewusstlos am Boden?«
Henker: »Auf Inotius' Befehl hin. Er sagte, dass der Stadtherr tot sei, dieser Gruppe dort zum Opfer gefallen und dass sie die Waldhexe befreien wollen, weil sie auch Anhänger des Zurak seien. Deshalb müsse das Urteil schnell vollstreckt werden. - Aber er hat uns alle getäuscht, nicht diese Ausländer, sondern er selbst war wohl der Anführer des Zurakkultes. Er hat die Leute aufgewiegelt und Zwietracht und Misstrauen gesät. Doch das hat jetzt ein Ende.« - Er zeigte ihnen die abgeschnittene Zunge.
Utyferus: »Wenn das wahr ist! Der Hohepriester des Alun ein Kultist des Zurak!«
Henker: »Seht selbst, er hat die Zurakspinne auf der Brust!«
Unar: »Tatsächlich, welch Frevel! Möge Alun uns vor den Mächten des Abgrunds beschützen!« - Er machte das Zeichen des Sonnenrades.
Utyferus: »Nun, dann schafft diesen Hassprediger ins dunkelste Verlies, das Ihr finden könnt!«
Der Henker nahm sich des Bewusstlosen an und trug ihn davon.
Widun fragte Utyferus: »Wisst ihr, wer die Waldhexe gefangen genommen hat?«
Utyferus: »Ja, Di'Vars Bruder hat sie heute Abend an den Haaren zum Stadttor hereingeschleift und geschrien, dass sie hinter allem stecke und dass sein Bruder unschuldig gewesen sei!«

Nachdem der Henker zurückgekehrt war, unterrichteten wir ihn und die beiden Priester über das Ritual im Keller der Gaststätte. Sie schlossen sich uns an, verstärkt von ein paar Soldaten der Stadtwache.
Im Gewölbe angelangt, beugte sich Utyferus über den am Boden liegenden Zurakkrieger und untersuchte ihn gründlich. Er musste sich noch einmal bewegt haben, denn er lag jetzt bäuchlings an der Tür.
Utyferus: »Er lebt, ist aber bewusstlos. Das muss ein Verfaulter sein. Aber sein Gesicht kommt mir irgendwie bekannt vor.«
Henker: »Ja, verflixt und zugenäht, das ist doch der Michel! Der Holzfäller, der vor ein paar Jahren spurlos verschwunden ist.«
Utyferus wandte sich an uns: »Ihr müsst wissen, Verfaulte sind Wächter des Zurak. In der Regel bleiben sie stumm und sind mit einem Fluch belegt, der aus ihnen willenlose Krieger macht, die die geheimen Versammlungsorte der Zurakanhänger schützen sollen. Er muss lange Zeit in diesem dunklen Gewölbe zugebracht haben.«

Er drehte gerade den Kopf des Verfaulten, dann folgte ein spitzer Schrei: »Oh, bei Alun! Ihr habt ihm doch nicht etwa seinen Mund geöffnet!«
Vivana: »Ja, er drohte zu ersticken, also haben wir uns erbarmt!«
Unar: »Ihr Unglückseligen, damit habt ihr einen dämonischen Geist freigesetzt. O Alun, schütze uns vor den Geistern des Abgrundes!« - Er machte wieder das Sonnenzeichen.
Utyferus wandte sich mit etwas sanfterer Stimme an uns. »Die Verfaulten sind nur noch bloße Gefäße für Geister des Abgrunds. Wir werden den Bewahrer des Lichts, Haegus Malefar vom Mon Alunas bitten, uns einen Inspektor mit Gefolgschaft zu schicken, der sich diesen außergewöhnlichen Frevels annimmt. Ich hätte nie vermutet, das unser Hohepriester hinter einem Zurakzirkel stecken könnte. Bleibt bitte in der Stadt, wir brauchen euch zur Aufklärung der Geschehnisse. Wenn ihr verwundet seid, könnt ihr uns gerne im Tempel aufsuchen.«

Tarkin kam ganz aufgeregt in den Keller gerannt. »Ich kriege Saradar nicht wach. Er hat die Augen geöffnet, starrt aber nur ins Leere. Diese verdammten Zurakpriester müssen ihn mit einem Fluch belegt haben!«
Unar: »Bruder Utyferus, geht in den Tempel. Unsere Wichtelpriesterin Freya soll sich um den Barbaren kümmern!«

Mittwoch, 2. August 2017

Des Henkers Braut - Kapitel 7: Der Herr des Hasses

Ich war gerade im Traum in den Wäldern meiner Heimat angekommen, als ich wachgerüttelt wurde. Maluna hatte ganz aufgeregt alle wieder aufgeweckt:

»Da hat sich eine vermummte Gestalt durch die Hintertür hereingeschlichen – und es war nicht eure Jujin-Freundin!«

Widun rieb sich die Augen: »Das könnte noch wichtig sein!«

Wir schlichen die Treppe zum Gastraum hinunter. »Da muss es zur Hintertür gehen!« - Urota schnippte – so leise wie es einem Troll eben möglich war – die Tür auf. Dahinter blickten wir in einen Korridor mit zwei Türen. Anneliese schlug vor, Tarkin und Vivana zu holen und verließ das Gasthaus durch die Hintertür.

Wir warteten, bis wir wieder vollzählig waren.

Vivana: »Wir haben draußen nichts Verdächtiges beobachtet.«

Vorsichtig öffneten wir die erste Tür und lugten hinein: im Bett lag ein beleibter Mann, der laut schnarchte und seinen Bart dabei mit seinem Sabber tränkte. Behutsam schlossen wir die Tür wieder. Wir lauschten an der zweiten Tür – eine Frauenstimme, ein knarzendes Geräusch, dann wieder Stille. Rasch öffneten wir die Tür. Als Urota hineinblickte, ertönte ein lauter Schrei des Entsetzens.

Widun sprang ins Zimmer und beruhigte die mollige Frau: »Entschuldigt die späte Störung, holdes Fräulein. Habt Ihr vielleicht etwas Verdächtiges gesehen?«

Die mollige Frau schien von Widun sehr angetan zu sein: »Mein Name ist Hulda, mein Süßer. Ich habe leider nichts gesehen. Ich kann so schlecht alleine einschlafen, willst du nicht heute Nacht bei mir bleiben?« - mit diesen Worten strich sie ihm durch seinen buschigen Vollbart.

Saradar unterbrach sie barsch: »Du lügst doch, Dirne! Mit wem hast du da eben noch gesprochen? Raus mit der Sprache!«

Huldas Stimme klang plötzlich eingeschüchtert: »Mit gar keinem! Ich rede manchmal mit mir selbst, um besser einschlafen zu können, weißt du!«

Als Antwort auf unsere Blicke, die ihr wohl klarmachten, dass wir ihr nicht glaubten, versuchte die Beschuldigte wegzulaufen, doch Maluna stellte ihr ein Bein und sie stürzte auf den Boden, wo sie hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken liegenblieb.

Wir untersuchten das Zimmer. Unter dem Bett wurden wir fündig: »Eine Klappe!«

Urota rückte das Bett beiseite und öffnete die Klappe. Eine Treppe führte hinab in die Finsternis. Maluna bot an vorauszugehen, da sie über ein scharfes Gehör und eine Art Nachtsicht verfügte, sodass sie auch im Dunkeln die Wärmeausstrahlung von Lebewesen wahrnehmen konnte.

Maluna flüsterte uns zu: »Ich höre seltsame Stimmen, ich kenne die Sprache nicht. Es sind mehrere Personen, aber weniger als wir!«

Am Ende des dunklen Ganges sahen wir einen Lichtschein. Beim Blick in die sich anschließende Kammer, die nur spärlich von flackerndem Kerzenlicht beleuchtet wurde, bot sich uns ein schauriges Bild. Zwischen vier hohen Säulen standen sechs vermummte Gestalten. Sie trugen Masken und Roben, die auf einer Seite braun und auf der anderen scharlachrot gefärbt waren. Sie hatten einen rituellen Gesang intoniert und führten mit ihren Händen beschwörende Gesten aus. Eine der Gestalten sah deutlich fülliger aus und stand mit einem Ritualdolch in der Hand vor einem erleuchteten Altar in der Mitte der Säulenhalle. Und auf diesem Altar lag – der Novize Luth. Seine Augen waren geschlossen, er schien noch am Leben zu sein, doch sein Brustkorb lag offen wie ein aufgeschlagenes Buch vor uns, sein schlagendes Herz war zu sehen und Blut tropfte vom Altar. Wir waren wie erstarrt vor Schrecken.

Ein Kultist nach dem anderen trat vor und ließ etwas von seinem dunklen Blut aus einer Schnittwunde an der Hand auf das Herz des Novizen tropfen. Mit einem Schlurfen schien das Herz das fremde Blut förmlich aufzusaugen. Währenddessen wurde ihr Singen immer ekstatischer und die Bewegungen immer ausladender.

Saradar gewann als erster die Fassung zurück: »Ihr Schweine! Das werdet ihr büßen!« - und rannte schnurstracks auf den Anführer zu. Unter meinem Lederwams ertönte ein angsterfülltes Gackern.

Der Anführer wandte sich Saradar zu. Nach einer abwehrenden Geste und einem kurzen Gesang in einer fremden, grässlichen Sprache, brach der Barbar wie vom Blitz getroffen in sich zusammen und blieb leblos auf dem Steinboden liegen. Der beleibte Kultist ließ ein höhnisches Lachen erschallen und entgegnete uns:

»Wer seid ihr, dass ihr dem Herrn des Hasses selbst entgegenzutreten wagt? Wie konntet ihr unsere Pläne aufdecken? Der vergifteten Quelle widerstehen? Dem tollwütigen Hund entkommen? Aber das ist jetzt alles nebensächlich. Wie ich sehe, seid ihr ohne Waffen gekommen, habt sie brav bei der Stadtwache abgegeben – wie sich das gehört! Ha, ha! Nun denn, meine Brüder des Hasses! Lasst sie uns niedermachen!«

»Unsere Waffen! Was machen wir jetzt?«, sprach Tarkin laut aus, was uns allen gerade durch den Kopf ging. »Am besten, erst einmal wieder hier raus!«, schlug Anneliese vor.

Vivana wendete ein: »Aber wir können Saradar doch nicht zurücklassen!«

Tarquan entgegnete ihr etwas gefühllos: »Warum nicht? Für mich sieht er mausetot aus.«

Von hinten näherten sich uns Stimmen, eine stark nuschelnde Stimme stach heraus: »Jetzt können wir endlich unsere Schmach wettmachen, Hulda sei Dank!« Die Stimme kam mir seltsam vertraut vor: das konnte nur der geflohene Räuberhauptmann sein!

Als wäre die Situation noch nicht aussichtslos genug gewesen, trat eine riesige Gestalt aus einer Nische am Eingang der Kammer. Der Hüne trug eine Kapuze und war bis auf einen Schurz, dessen Zipfel bis auf den Boden reichte, nackt. Seine Haut wirkte im Fackelschein blassgrau und war über und über mit Spinnensymbolen des Zurak übersät. Unter der Kapuze leuchteten zwei rote Augen hervor und sein Mund schien mit einem dicken Faden zugenäht worden zu sein. In seiner rechten Hand blitzte ein langes Bastardschwert auf, mit dem er sich auch schon ein Opfer ausgesucht hatte: Saradar!
Ein Zurakkrieger.
Jetzt ging alles ganz schnell. Da wir uns nicht in die Säulenhalle trauten, warf Vivana ein Seil als Lasso nach Saradar. Sie hatte Glück, das Bein des Barbaren hing fest in der Schlinge. Für Urota war es ein Leichtes, den Gjölnar zu uns heranzuziehen. Er lebte noch, war aber bewusstlos und im Augenblick nicht wach zu kriegen.

Der Hüne hatte seinen Blick jetzt auf uns gerichtet – tiefer Hass sprach aus seinen blutunterlaufenen Augen.

Ich betete an Ianna, um mich ihrer Gunst zu versichern und warf die Wunderbohne auf den Boden. Aus ihr flocht sich wieder ein Bohnenmann. Diesmal hatte ich eine Idee, wie ich ihn im Kampf einsetzen könnte: er brauchte eine Seele! Also beschwor ich einen Waldgeist, der auch tatsächlich – auf mehrfaches Bitten, Betteln und Beten hin - in den Bohnenmann fuhr und ihm Leben einhauchte. Seine pulsierenden grünen Augen suchten die roten Augen des Zurakdieners. Seine Arme schossen als Ranken hervor und legten sich wie Fesseln um den Hünen – zumindest eine Gefahr, die vorerst gebannt war.

Die Räuber waren inzwischen um die Ecke gebogen und musterten uns aus einigem Abstand – sie wussten wohl nicht, dass wir unbewaffnet waren – gut so!

Tarkin hatte wieder einen seiner aberwitzigen Koboldpläne: er kramte einen halben Speer hervor, den er wohl vor der Stadtwache versteckt hatte, und bat Urota, sich zu bücken. Er kletterte ihm auf die Schultern.

Tarkin feuerte ihn an: »Los, mein Trollbruder, wir rennen diese Räuberbande über den Haufen!«

Das ließ sich Urota nicht zweimal sagen. Er rannte los und ließ ein markerschütterndes Gebrüll ertönen, dass sich selbst mir die Fellhaare im Nacken aufstellten. Wie Kegel wurden die Räuber gegen die Wand des dunklen Ganges geschleudert. Tarkin versuchte wie ein Turnierritter, einen der Räuber mit seinem kurzen Speer zu erwischen, der sich jedoch dafür als zu kurz erwies.

Vivana hatte unterdessen die Priester nicht aus den Augen gelassen. Sie waren noch nicht zum Angriff übergegangen – vielleicht durften sie ihr dunkles Ritual nicht unterbrechen.

Mit den Worten »Wohl bekomm's!« schleuderte die Giftprinzessin eine Phiole zwischen sie. Zwei der Zurakanbeter sanken besinnungslos zu Boden.

Ich lief zusammen mit Edwen dem Kobold-Troll-Duo hinterher. Maluna hatte einem der übertölpelten Räuber einen Tritt verpasst, sodass er am Boden liegenblieb. Im Umblicken sah ich noch, dass Widun ins Gebet vertieft war, doch wurde er unsanft unterbrochen, als ihm etwas zwischen den Beinen hindurchschlüpfte. Dann wurde auch noch Tarquan getunnelt. Es war Anneliese, die es auf die Zurakdiener abgesehen hatte. Sie richtete ihre Arme aus und brüllte einen Zauberspruch in die Säulenhalle: »Singi Sidar Dublon!«.

Flammen ließen die Halle für einen Moment in hellem Licht erstrahlen.

Die Priester hielten abwehrend die Arme vor ihre Masken. Sie hatte einen der Priester und den tätowierten Zurakwächter getroffen, auch mein Bohnenmann wurde angefackelt. Der Wächter nutzte die Gelegenheit und durchschlug die Ranken des Bohnenmannes mit seinem langen Schwert. Wütend stürzte er sich auf Tarquan, der sich nur durch einen Seitwärtssprung vor einem tödlichen Hieb retten konnte, die Klinge fuhr ihm jedoch in den Oberschenkel und ließ ihn verwundet zurück. Einer der Priester stieß einen Fluch aus, der aus dem tiefsten Abgrund hätte stammen können. Tarquan stand plötzlich auf, als sei gar nichts gewesen und drehte sich zu uns um – seine Augen leuchteten rot und sein Blick war hasserfüllt.

Der von Annelieses Flammenstrahl getroffene Zurakdiener hatte sich über den Boden gewälzt und dadurch seine brennende Robe wieder gelöscht.

Die Räuber hatten sich inzwischen von der Überrumplungsaktion erholt. Urota musste gerade einen Schwertstreich mit seiner Armschiene parieren. Ich bat Ianna um eine Stachelhaut, um mich vor den Angriffen der Räuber zu schützen. Edwen boxte nach Räuberhauptmann Faulzahn, der gerade noch unter dem Schlag wegtauchen konnte. Der wuselige Tarkin war von Urotas Rücken gesprungen, einem Räuber zwischen die Beine getaucht und ihm im Hindurchgleiten einen kräftigen Schlag in den Schritt verpasst – der ihn als Häufchen männlichen Elends zurückließ. Räuber Rührei ließ sein Schwert fallen und sackte erst einmal kampfunfähig auf die Knie. Maluna nutzte die Gelegenheit, schnappte sich mit einer Rolle die Klinge und stach einem weiteren Räuber nach vollendetem Purzelbaum in die Seite.

Widun hatte es erneut mit einem Gebet an Mnamn versucht – scheinbar ohne Erfolg. Anneliese ließ einen Flammenstrahl auflodern – sie hatte den Kultisten im Visier, der gerade erst seine Robe gelöscht hatte.

Der Zurakwächter hatte es jetzt auf Vivana abgesehen – sein Schlag ging fehl – Vivana rettete sich mit einem gekonnten Salto rückwärts. Anneliese hatte bei ihrer arkanen Aktion jedoch Tarquan ignoriert, der ihr unvermittelt mit seiner Faust auf die Zipfelmütze schlug.

Vom Ende des Ganges ertönte ein zornerfüllter Urschrei unseres grünhäutigen Freundes – der allen durch Mark und Bein ging. Mit einem gewaltigen Fausthieb hatte er den Kopf des vierten Räubers zum Platzen gebracht.

Der Bohnenmann hatte sich von Annelieses freundlichem Feuer wieder erholt, seine Arme nachwachsen lassen und diese sofort wieder eingesetzt, um dem Zurakkrieger von hinten Fesseln anzulegen.

Ich bat Ianna um einen Dornenstich, um Edwen zu unterstützen, der in Bedrängnis geraten war – mein Stoßgebet wurde aber nicht erhört. Faulzahn war erneut einem Schwinger Edwens ausgewichen und wollte ihn im Gegenzug erstechen. Tarkin hatte sich jedoch unterdessen das Schwert von Räuber Platzkopf geschnappt und trennte dem Räuberhauptmann von hinten die Wadensehnen durch – was ihn rückwärts zu Boden stürzen ließ. Maluna war sofort über ihm und gab ihm den Gnadenstoß.

In der Säulenhalle begann der Felsenaltar plötzlich zu vibrieren. Die Kultisten wirkten selbst durch ihre Masken hindurch erschrocken, als der Altar mit einer tiefen, dröhnenden Stimme zu sprechen begann: »Flieht, ihr Narren!« - mein Blick wanderte rüber zu Widun, der soeben die gleichen Worte geflüstert hatte.

Zumindest einer der Priester wurde von Panik erfüllt und verschwand in der Dunkelheit auf der gegenüberliegenden Seite des Altars. Auch die zwei überlebenden Räuber humpelten davon.

Anneliese war Hass-Tarquan zwischen den Beinen durchgekrochen und hatte im Knien einen weiteren Flammenstrahl abgeschossen.

Der Zurakkrieger hatte den Ringkampf mit dem Bohnenmann in der Zwischenzeit für sich entschieden – er warf die ausgerissenen Rankenarme beiseite. Auch diesmal klappte mein Dornenstich-Gebet nicht. O Ianna!

Edwen hielt das Schwert des toten Hauptmanns fest umklammert und stürmte in die Halle – Tarkin hinterher, das erbeutete Schwert, das größer war als er selbst, nach oben gereckt: »Gekreuzte Schwerter! Auf sie mit Gebrüll!«

Vivana hatte eine weitere Phiole auf die Priester geschleudert, die jedoch leider am Altar abprallte und wirkungslos auf dem Boden zerplatzte. Maluna folgte uns in die Säulenhalle, mit ihrem Schlachtruf »Blut und Feuer!« auf den Lippen.

Widun war weiter ins Gebet vertieft, ich konnte im Vorbeirennen nur »Schratenhorde« verstehen.


Anneliese hatte vor Tarquan Reißaus genommen, der ihr mit seinen rotleuchtenden Augen nachschaute – aber nichts weiter unternahm – scheinbar gewann sein Verstand langsam wieder die Oberhand.

Der Oberpriester war offensichtlich erzürnt darüber und ließ Tarquan mit einem weiteren Fluch in die Knie sinken und dann vornüber auf den Boden stürzen. Er kam genau neben unserem bewusstlosen Barden zu liegen.
Ein Zurakkultist beim blutigen Ritual.
Fünf Zurakpriester - mit ihrem Anführer in der Mitte - stellten sich uns jetzt geschlossen entgegen. Alle hatten ihre Ritualdolche gezückt und die freie Hand wie zur Abwehr erhoben. Der stumme Wächter hatte seine Klinge drohend über den Kopf gereckt.

Als auch noch Urota in die Halle gestürmt kam – unbändig vor Zorn – wurde die Sache unübersichtlich. Vivana schleuderte eine Phiole und betäubte einen der Priester – im gleichen Atemzug musste sie dem Stich eines anderen Kultisten mit einem Salto ausweichen. Urota drosch blind auf die Priester ein. Diesmal hatte ich Erfolg mit dem Dornenstich - aus einem Spalt im Boden trat ein riesiger Dorn hervor, der einen der Kultisten von unten aufspießte. Vivana hatte dem betäubten Priester die Maske vom Gesicht gerissen: »Der hier sieht übel aus, habe ihn aber noch nie vorher gesehen!«

Der Bohnenmann hatte es geschafft, den Stummen zu Fall zu bringen und ihn auf dem Rücken liegend so verwurzelt, dass es für den Kapuzenträger kein Entkommen mehr gab.

Widun betete an Mnamn und der Oberkultist begann plötzlich herzhaft zu lachen. Sein Lachen steigerte sich zum Wahnsinn, als Anneliese ihn auch noch in Brand steckte. Er stieg auf den Altar und riss beim Versuch, das Feuer zu löschen, seine Maske herunter. Ein roter Bart und blau leuchtende Augen kamen zum Vorschein – der Stadtherr Rotbart war also der Anführer der Kultisten!

Mit einem ins Unerträgliche gesteigerten Lachen brüllte er uns entgegen: »Am Ende wird der Herr des Hasses zurückkehren und seinen rechtmäßigen Platz in Ion einnehmen! Ha! Ha! Ha!«

Dann sanken plötzlich alle eben noch aufrecht stehenden Kultisten in sich zusammen, wie Spielpuppen, denen die Fäden gekappt wurden.

Eine beunruhigende Stille herrschte plötzlich im Kultistenkeller. Rhovan lag rauchend neben dem toten Novizen auf dem Altar, vier weitere Priester wie leblos am Boden – waren es nicht sechs gewesen?

Hinter dem Altar öffnete sich plötzlich eine Tür. Der vermisste Zurakpriester stolperte heraus und sackte vor uns zu Boden. Vivana und Urota durchsuchten neugierig die angrenzende, winzige Kammer. »Kommt rein, hier steht eine Truhe mit interessanten Sachen drin, da ist bestimmt für jeden etwas dabei!«, rief Vivana entzückt und winkte uns schon mit einem Dolch, der die Form eines Kobrakopfes hatte - die doppelte Klinge sollte wohl die Schlangenzähne darstellen.

Wir folgten ihr hinein – es war viel zu eng für uns alle. Mir fiel eine geschnitzte Holzfigur in die Hände, Edwen ergriff ein Kriegsschild, Tarkin ein leicht rostiges Kurzschwert und Anneliese nahm sich eine Priesterrobe mit. Urota hatte nichts in der Truhe gefunden – er griff sich einen Holzbalken, der an der Wand lehnte. Achselzuckend verließ er die Kammer und schaute sich das Bastardschwert des stummen – verzweifelt in seiner Fesselung zappelnden - Zurakkriegers an. »Verflucht«, brummte er und warf es beiseite.

Plötzlich hörten wir ein Knarren und dann einen lauten Knall – die Eingangstür zur Säulenhalle war wie von alleine zugefallen. Es handelte sich um eine schwere Tür aus Bluteiche, die auch Urota nicht so einfach aufbrechen konnte. Als er gerade mit seinem Holzbalken ausholte, ertönte hinter uns ein lautes, von Irrsinn durchtränktes Lachen.

Rotbart stand drohend über uns auf dem Altar, er hatte seine Kapuze zurückgeschlagen und seine roten Haare flackerten im Fackelschein wie Höllenfeuer des tiefsten Abgrunds, seine Augen hatten die Farbe gewechselt und funkelten uns glühend rot entgegen.

»Brüder des Hasses, erhebt euch!« - Auf diese Worte hin standen vier der vorhin in sich zusammengesunkenen Priester wieder auf. »Durch unser gemeinsames Opfer wollen wir dem Herrn des Hasses den Weg bahnen!« - Alle erhoben ihre Dolche quer zu ihren Hälsen und mit einer raschen Handbewegung schlitzten sie sich die Kehlen auf. Das Blut sprudelte und spritzte hervor, bis sie vor Schwäche in die Knie gingen und schließlich tot zu Boden fielen. Der Stadtherr lag quer auf dem Altar über dem toten Novizen ausgestreckt, von seinem roten Bart tropfte das dunkelrote Blut auf den Boden, es bildete sich rasch eine riesige Lache.

Der Zugenähte begann plötzlich zu zucken, als ob er zu ersticken drohte und wand sich vor Schmerzen. Wir entschieden, ihm die Fäden am Mund durchzuschneiden, vielleicht konnte er uns Rede und Antwort stehen. Vivana durchtrennte ihm mit ihrem Schlangendolch die Fäden am Mund. Er hustete, blutiger Schaum trat aus seinem Mund und seine Zuckungen endeten in einem Krampfanfall, der den gesamten Körper erfasste. Ein kalter Hauch wehte durch die Luft – ich bekam eine Gänsehaut – als ob eine unsichtbare, kalte Präsenz den Leib des Tätowierten soeben verlassen hätte. Er wurde ohnmächtig und entspannte sich wieder – an seinem schwachen Puls erkannte Widun, dass er noch am Leben war.

»Jetzt müssen wir bloß noch sehen, wie wir hier wieder rauskommen!«, meinte Edwen, der sich in der Halle umschaute. Im Eingangsbereich lagen Saradar und Pferd bewusstlos nebeneinander. Tarkin stützte sich am Bein seines Trollbegleiters Urota ab, Anneliese und Maluna waren noch sichtlich schockiert vom Erlebten. Vivana hingegen war schon wieder auf der Suche nach einem Ausweg.

Plötzlich öffnete sich – wie von Geisterhand – die schwere Eichentür und eine Gestalt trat herein. Nein, kein weiterer Kultist – es war diesmal ein Mann in einer weißen Robe, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.

Als er uns passierte hatte, entblößte er seinen nur noch spärlich bedeckten Schädel. Es war Inotius, der Hohepriester des Lichts. Sein Gesicht spiegelte Erschütterung und Entsetzen wieder. Er hatte noch kein Wort gesprochen, als ob er unter Schock stünde. Er ging zum Altar und blickte zuerst auf die Leiche des Stadtherrn, die er, nachdem er den Ritualdolch den steifen Fingern entrissen hatte, verächtlich vom Altar warf.

Dann nahm er den geöffneten Leib des armen Novizen in Augenschein. Aus seinem Blick sprach tiefes Bedauern, als er uns endlich wahrnahm: »Ein Jammer, da liegt er, der Novize, sein Werk noch unvollendet – doch wartet, sein Herz schlägt noch – noch ist nicht alle Hoffnung verloren!«

Mir ging gerade durch den Kopf, wie wir den armen Luth noch retten könnten, als Inotius plötzlich einen Seufzer von sich gab. Beim Hantieren mit dem Dolch musste er sich aus Versehen geschnitten haben. Blut tropfte von seiner Hand. Wieder dieses schlurfende Geräusch – das Herz hatte sein Blut aufgenommen.

Plötzlich begann die Erde zu beben, der Boden riss auf, eine Steinplatte fiel von der Decke in eine Kluft am Boden. Dämpfe stiegen auf, die uns fast den Atem raubten. »Puh, hier riecht's nach faulen Eiern!«, schimpfte Tarkin mit einer Fellhand vor der Nase. Auch die Eingangstür war wieder verriegelt.

Als sich das Zittern wieder beruhigt hatte, sahen wir, wie sich Inotius am Altar hochzog.

Er lachte – ein wahnsinniges Lachen, das immer lauter wurde. Sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert, seine Züge hatten eine Bösartigkeit angenommen, die ich im gar nicht zugetraut hätte. Seine Augen hatten so ein gewisses roten Leuchten erhalten, das mich unsicher machte, ob es vom Fackelschein rührte.

Dann wurde sein Gesicht zu einer Fratze verzerrt, seine Augen glühten rot: »Es ist vollendet!«

Luths Leib hatte sich auf dem Altar in eine sitzende Haltung aufgerichtet. Der Kopf hing leblos zur Seite, die Arme und Beine baumelten schlaff herunter. Das Herz hatte sich verändert, es sah jetzt eher aus wie – es öffnete sich. Tatsächlich, das Herz war zu einem riesigen, roten Auge geworden, dass jeden von uns – einen nach dem anderen – durchdringend anblickte. Luths Körper drehte sich dabei auf dem Altar – ein makaberes Schauspiel. Inotius stand lachend daneben.

Als ob das Ganze noch nicht schaurig genug gewesen wäre, platzten die Leiber der toten Zurakpriester auf und riesige Spinnen sprangen aus ihnen hervor. Aus dem Körper des Stadtherrn kamen acht Beine zum Vorschein, die selbst Urota an Größe überragten. Nachdem die Riesenspinne vollständig geschlüpft war, ließ sie Inotius aufsteigen und sprang mit ihm auf dem Rücken auf einen Vorsprung über dem Altar. Zusammen kletterten sie in eine Öffnung, die von der heruntergefallenen Steinplatte freigelegt worden war.
Den Leibern der Kultisten entspringen Zurakspinnen.
Lachend verabschiedete er sich: »Mögen euer Fleisch und eure Seelen dem Herrn des Hasses als Nahrung dienen auf seinem Weg nach Ion!«

Vivana hatte kurzentschlossen die Kluft zum Altar übersprungen und rammte ihren Kobradolch in das riesige Auge: »Falls er ihn jetzt noch findet!«, schrie sie lauthals, als das Auge explodierte und ihr seine glibbrigen Bestandteile um die Ohren flogen. Von der Decke fiel ein riesiges Knäuel herunter - Vivana brachte sich neben dem Altar in Sicherheit: es war die Riesenspinne, die Beine um den toten Leib gelegt. Beim Aufprall auf den Altar zerplatzte ihr Hinterleib und die austretenden schleimigen Sekrete bedeckten den gesamten Boden der Kammer - von Inotius jedoch keine Spur.

Leider waren die anderen - nur unwesentlich kleineren - haarigen Spinnenbiester noch quicklebendig und griffen an. Der Bohnenmann hatte vom ohnmächtigen Krieger abgelassen und bereits einer der Spinnen sämtliche Beine ausgerissen. Ich bat Ianna um einen Dornenstich, der einer Spinne in den Thorax rammte. Edwen und Tarkin schlugen an den flinken Spinnen vorbei - Maluna hatte mehr Erfolg. Widun hatte eine seiner Bierflaschen zerbrochen und wehrte eine der Spinnen damit ab. Anneliese hatte sich zurückgezogen und nahm einen Auratrank zu sich. Urota und Vivana wichen den Spinnenbissen aus. Der Bohnenmann gab seiner gerupften Spinne den Rest. Mit einem weiteren Dornenstich schickte ich eine Spinne zurück zu Zurak. Mit einem schmatzenden Geräusch platzte der Hinterleib der dritten Spinne – nach einem gezielten Stich von Edwen. Die große, verbliebene Spinne wich geschickt Vivanas, Malunas und Widuns Attacken aus.

Anneliese verlor die Fassung: »Mir reicht's jetzt mit dir!« - Ein Flammenstrahl ließ die Spinne brennend mit einem Zischen und Fauchen durch die Kammer springen, bis sie schließlich zu einem kleinen Paket verschmort liegenblieb.

Während Vivana eine Probe vom Spinnengift nahm, ging plötzlich die Eichentür wieder auf. Herein kam ein dicker Mann mit einer Fackel in der Hand – es war der Wirt des Fasanenrufs: »Was ist denn hier los? Ich dachte immer, ich kenne jeden Winkel meines Kartoffelkellers!« Als er die Spinnenkadaver und die aufgeplatzten Leiber sah, fiel ihm die Fackel aus der Hand und er kippte nach hinten. Urota fing ihn auf und wir legten ihm die Beine hoch. Langsam kam er wieder zu sich. Wir verließen die Kammer des Schreckens. Urota zog Saradar hinter sich her, der immer noch bewusstlos war. Vivana hatte Pferd mit einem Küsschen ins Reich der Lebenden zurückgeholt und half ihm auf die Beine. Durch die Klappe kamen wir zurück ins Wirtshaus. Hulda war verschwunden. Der Wirt beteuerte: »Ich hätte nie gedacht, dass sie mit dem Zurakkult unter einer Decke steckt!«

Wir legten Saradar in ein Bett und der Wirt versprach, sich um ihn zu kümmern.

Tarkin traute ihm scheinbar nicht wirklich: »Ich bleibe besser auch bei ihm! Damit er ein bekanntes Gesicht sieht, wenn er aufwacht.«

Als wir das Wirtshaus durch die Hintertür verließen, sahen wir Flammen in die Höhe lodern – sie kamen aus der Richtung des Marktplatzes.

Nichts Gutes ahnend zogen wir los ...

Freitag, 30. Juni 2017

Des Henkers Braut - Kapitel 6: Im Zwielicht

Ein Pfeil zischte an mir vorüber. Ein Stöhnen aus einem der Sträucher folgte. Edwen hatte wohl einen der Räuber getroffen. Schnell schoss ich einen Pfeil hinterher, doch er blieb in den Zweigen hängen. Urota hatte den Leichnam des Novizen abgelegt und setzte seinen Bogen ein, blieb aber auch erfolglos.
Saradar, der sich waghalsig – oder sollte ich lieber sagen kopflos – in den Kampf gestürzt hatte, wurde von zwei Räubern in die Zange genommen. Einer der beiden hatte ihn mit dem Schwert am Arm verletzt.
Neben mir heulte plötzlich Urota auf. Ein Pfeil steckte in seinem Oberschenkel. Tarquan wurde ebenfalls von zwei Räubern angegriffen, einer hatte ihn an der Hand verletzt.
»Wo ist Vivana?«, ging es mir durch den Kopf. Sie hatte sich im Schatten versteckt.
Edwen brüllte Saradar hinterher: »Du Hitzkopf! Wo hast du uns da wieder reingeritten? Das sind zu viele!«
Saradar hatte gerade einen der Räuber mit seiner Zweililie niedergerungen und war zum Dichten aufgelegt: »Der Mut wächst mit der Gefahr; die Kraft erhebt sich im Drang.«

Wir waren umringt – mit den Nahkämpfern vor uns und den Bogenschützen im Rücken würden wir wohl hier nicht mehr lebendig rauskommen. Doch da – ein Funken Hoffnung - nein, das war untertrieben - das Buschwerk brannte.

»Pass beim nächsten Mal gefälligst besser auf und steck keine Büsche neben mir an! Mein Fell brennt!“, ertönte plötzlich eine wohlbekannte Koboldstimme – Tarkin?
»Aus dem Weg, du Fellknäuel!«, hörte ich Anneliese in ihrem Kommandoton – gefolgt von einem weiteren Aufflackern. Ein brennender Räuber sprang aus dem Gebüsch und wälzte sich am Boden – gefolgt von unseren Gefährten Anneliese, Tarkin und Widun. Doch wer war das? Eine schlanke, rothäutige Frau folgte ihnen – mit den lodernenden Flammen im Rücken – ein imposanter Anblick. Sie erhob die Hände und schien an eine fremde Gottheit zu beten.

Auch Saradar hatte sie erblickt: »O holde Maid, mir wird ganz warm ums Herz!«
Tarkin sah irgendwie traurig aus, als er sein angekokeltes Fell betrachtete: »Muss mich wohl mal rasieren …«
Doch die Traurigkeit war sofort wieder verflogen, als er sich auf den brennenden Räuber stürzte. Edwen spickte einen weiteren Räuber mit Pfeilem. Auch ich hatte den Bogen angelegt und landete einen Glückstreffer. Mein Pfeil traf den Räuber genau zwischen die Augen. Er ging danieder wie ein nasser Sack. Vom Räuberhauptmann hörten wir ein lautes »Rückzug!«, doch so einfach wollten wir sie nicht entkommen lassen. Widun und Saradar bemühten sich vergebens, mit zwei der Halunken fertig zu werden. Auf ein lautes »Ducken! --- SINGI SIDAR DUBLON« folgte Annelieses neuester Zaubertrick, ein doppelter Flammenstrahl, dem einer der beiden Opponenten zum Opfer fiel.
»So macht man das!«

Einer der Bogenschützen fiel mit einem Röcheln aus den Büschen. Vivanas Dolch steckte in seinem Rücken. Die noch unbewaffnete Rothäutige holte sich das Kurzschwert eines Gefallenen.

Edwen und ich verfolgten weiter unsere Taktik und garnierten den nächsten Räuber mit scharfem Federschmuck.
Tarquan hatte sich für seine Handverletzung gerade revanchiert, als die verbliebenen Banditen schließlich dem Beispiel ihres Hauptmannes folgten, ihre Beine in die Hand nahmen und – teils noch brennend – das Schlachtfeld verließen.


Der Kampf war vorbei. Ich sammelte rasch ein paar Pfeile ein, während sich die schöne Rothäutige ein Lederwams über ihr Seidengewand streifte. Neugierig hatten wir unbewusst einen Kreis um sie herum gebildet. Sie stellte sich etwas schüchtern in gebrochener Sprache vor: »Mein Name ist Maluna, ich bin eine Feueralwe.«
Während Widun von ihrer Rettung vor einem feisten Händler aus Hon berichtete, überreichte Tarkin Edwen ein Schriftstück: »Von der Bruderschaft! Die Tekk greifen an! Toran und Benesch sind verschollen! Wir müssen los zum Rösserpass!«
Edwens Gesichtsausdruck wurde ernst, er rieb sich über den stoppligen Bart.

Der Blick der Alwe hatte die ganze Zeit auf Saradar geruht – sie schien sehr angetan vom muskelgestählten Körper unseres »Vollkriegers« zu sein – zumindest bis er seinen Mund aufmachte: »Tarkin, mit Dir an der Seite werde ich als stolzer Krieger zu Ehren Osirs in jede Schlacht ziehen! Aber wir haben hier noch eine Aufgabe zu erledigen! Wir haben die Novizen ins Dorf gebracht, dann hat die Hexe einen umgebracht, und sie hat auch die Quelle vergiftet.«

Urota hatte sich Zedricks Leiche wieder über die Schulter gelegt. Erst jetzt schienen die anderen zu realisieren, was passiert war.
Widun: »Das stimmt mich sehr traurig.« Wir unterrichteten unsere Gefährten über die weiteren Vorkommnisse, begannen bei der Hinrichtung, über Bruder Inotius, die ausgeweideten Novizen und den Zurkakkult bis hin zur Begegnung mit der Hexe.
Vivana: »Ich bin nicht überzeugt, dass die Hexe an allem schuld ist! Vielleicht sind die Heilkräuter ja als Gegenmittel gegen das Pilzgift aus der Quelle gedacht!«

Im Zwielicht des Mondes gingen wir weiter bis zur Quelle, die leise vor sich hin plätscherte. Die Kobolde führten zwei Rappen am Zügel, die sie von Tarso für die Reise erhalten hatten.
Vivana: »Seltsam, hier wirkt alles wieder ganz normal.«
Tarquan wies uns auf die Schleifspuren nach Nordwesten hin, die er heute Mittag schon gesehen hatte, wir waren ja Zedricks Schreien nach Nordosten gefolgt und schließlich auf die Höhle mit der Hexe getroffen. Nach etwa hundert Schritten endete die Schleifspur abrupt. Instinktiv schauten wir nach oben – da hing etwas im Baum, im Zwielicht war es kaum zu erkennen. Ich verwandelte mich in meine Eichhörnchengestalt und kletterte hoch. Es war eine Gestalt in einem weißen Gewand, die mit einem Seil festgebunden worden war. Als ich mich dem Toten im Geäst näherte, scheuchte ich eine Armee Fliegen auf und ein süßlicher Geruch drang an meine Nase. Schnell zerbiss ich das Seil und der Körper fiel zu Boden.
Beim Aufprall verursachte er ein ekelhaft platschendes Geräusch. Meine Gefährten sprangen erschrocken beiseite. Aufgrund des fortgeschrittenen Stadiums der Verwesung, oder wie Saradar es ausdrückte: »Ist der vergammelt, der Priester!« - war es schwer zu sagen, um wen es sich handelte.

Wir beschlossen, die Leichen des Novizen und des Priesters hier zu begraben. Ich sprach ein Gebet an Ianna und Widun ließ einen Obstbrand herumgehen.
»Dieser heilige Tropfen soll euch ein Segen sein«, stellte Widun fest und fuhr etwas pietätlos fort: »Aber jetzt freue mich auf ein herzhaftes Essen!«

Tarkin warf ein: »Dein Magen muss erst einmal warten! Wir haben keine Zeit! Wir müssen diese Hexe finden, damit wir rasch zum Rösserpass aufbrechen können! Vielleicht ist sie in dieser alten Ruine?«
Mit einer unglaublichen Flinkheit hatte er einen Baum erklommen und berichtete uns: »Ich sehe eine Höhle und da hinten die Stadt. Ich muss wohl noch ein bisschen höher!«
Als er die Baumkrone erreicht hatte, rief er erfreut: »Im Südwesten, da ist ein Kreis aus Steinen, das könnte die Ruine sein!«

In einem Ring aus Felsbrocken stand die Ruine einer Steinhalle, deren dunkle Mauerreste fast gänzlich von Moos überwachsen waren. Dieser düstere Ort ließ mir kalte Schauder über den Rücken laufen. Überall krabbelten Käfer, Würmer und Spinnen herum. Saradar kramte sein Schoßtier hervor: »Sehr gut! Was zum Futtern für mein Wiesel!« - Na dann, guten Appetit. Ich tastete nach meinem Huhn, es schien in eine Art Dauerschockstarre verfallen zu sein.
In der Halle stand ein Altar, der von dunklen Flecken überzogen war. Bei genauerem Hinsehen entpuppten sich diese als eingetrocknete Blutflecken.
»Nicht auszudenken, was sich hier früher abgespielt haben muss!“, warf Tarquan ein. Edwen hatte in einer Ritze einen alten Ritualdolch entdeckt: »Der hat dabei sicher eine Hauptrolle gespielt!«
Am Rand des Altars war ein Spinnensymbol eingraviert: das Zeichen Zuraks.
Beim Heraustreten sah ich den dunklen Mond Lor im Firmament stehen; es schien mir kurz so, als ob der Abstand zwischen ihm und dem hellen Mond kleiner wäre als sonst, aber das war vielleicht nur eine optische Täuschung.
Die Pferde wieherten plötzlich angsterfüllt.
»Keine Spur von der Hexe! Wir sollten diesen unheimlichen Ort so schnell wie möglich wieder verlassen!«, schlug Tarkin vor, der sich in der Umgebung umgesehen hatte. Wir beschlossen uns aufzuteilen, Vivana sollte der Stadtwache über die Vorkommnisse berichten, während der Rest der Gruppe auf Saradars Vorschlag hin in die Weinberge ging, um am Grabe Di'Vars nach weiteren Hinweisen zu suchen.

Zama strahlte heute Nacht so hell, dass wir in seinem Lichte tatsächlich im östlichen Weinberg das frische Grab unter einem abgebrochenen Alunsymbol fanden. Ohne längere Diskussionen hatte sich Urota bereit erklärt, die Leiche auszugraben. Auf der Brust des kopflosen Leibs fanden wir das eingeritzte Symbol der Zurakspinne.
Finn: »Seltsam, diese Spinne muss ihm erst kurz vor oder nach dem Tod eingeritzt worden sein! Wenn er der Anführer des Zurakkults gewesen sein soll, dann macht das doch keinen Sinn! Da ist etwas so faul, dass es zum Himmel stinkt!«

Wir waren alle hundemüde und Widuns Magenknurren hat mittlerweile eine besorgniserregende Lautstärke erreicht, sodass wir zur Stadt zurückkehrten. Die Stadtwachen waren mürrisch, mussten sie doch zu dieser späten Stunde noch unsere Waffen und die beiden Rappen verstauen. Auf eine Begleitung Urotas verzichteten sie diesmal.
Vivana hatte uns ausrichten lassen, dass wir sie im Fasanenruf finden könnten. Nachdem wir Hunger und Durst gestillt hatten, bezogen wir zwei Zimmer der Gaststätte. Nach dem Vorfall der letzten Nacht mit dem Bullbeißer beschlossen wir, auch in der Gaststätte Wachen einzuteilen. Tarkin und Vivana wollten draußen die Augen offen halten, da wir keine Lust hatten, auch die beiden anderen Novizen am nächsten Morgen ohne Herz aufzufinden. Maluna hielt vom Zimmer aus die Straße im Blick, während mir so langsam die Augen zufielen...

Samstag, 15. April 2017

Des Henkers Braut - Kapitel 5: Die Sklavin und die Bruderschaft

Unterdessen auf dem Nordmarkt …

Während es Widun und Anneliese mit Wehmut füllte, den Nordmarkt bald wieder verlassen zu müssen - was nicht nur am Angebot an magischen Artefakten und Biersorten lag - freute sich Tarkin dagegen, dieses »stinkende Lager«, wie er es gern nannte, gegen frische Luft und Schwertgefechte eintauschen zu können. Er brannte darauf, sich auf den Weg nach Süden zu machen und hatte sich bereits bei Tarso informiert: Die nächsten Ziele würden Agilis und Parapolis sein, wo die Händler dann ihre Waren aus dem hohen Norden feilbieten würden. Tarso hatte seine Besorgnis geäußert, dass sie nicht auf dem gewohnten Weg zurückkehren könnten, wenn sie noch lange warteten. Täglich trafen Tauben und Herolde ein, die vom Vormarsch der Tekk auf Askalon berichteten. An einigen Stellen sei der Verteidigungswall schon eingebrochen. Heute war dann auch noch die Nachricht von der Belagerung Taraxhalls eingetroffen, was Tarsos Sorgenfalten nur noch tiefer machte. Diese Stadt galt nicht nur als Bastion der Menschen und Schutzstadt für das ganze thalische Imperium, sie war auch ein wichtiger Wegpunkt für Karawanen auf der Reise nach Süden.

Sie hörten Tarso schimpfen: »Diese verdammten Tekk! Jetzt bricht durch sie auch noch der Pfefferweg zusammen!«

Die drei Gefährten hatten für Reparaturen an den Wagen mehrere Seile und Zeltplanen besorgt und betraten gerade das »offene Feld«, einen größeren Platz innerhalb des Nordmarktes, der für die Pferde vorgesehen war. Hier standen auch die Wagen, die repariert werden mussten.
Ein Reiter kam angeprescht, und Widun musste einen Satz zur Seite machen. Von hinten sah er bloß dessen langen, dunklen Kapuzenumhang. Der Reiter hielt abrupt inne und machte kehrt. Er war vermummt; Widun fielen mehrere versiegelte Schriftrollentaschen auf. Der dunkle Bote lenkte sein Ross genau auf Widun und seine beiden Koboldbegleiter zu: »Seid ihr die Söldner, die für Tarso Payn arbeiten?« - Sie antworteten ehrlich und erhielten ein versiegeltes Pergament. Er verlangte drei Silberlinge für seine Dienste.

Als Tarkin das Wachssiegel bemerkte, riss er Widun die Schriftrolle aus der Hand: »Das Zeichen der gekreuzten Schwerter, das ist für mich!«

Eilig entrollte er das Pergament und begann, laut vorzulesen:

An die Ehrenwerten Krieger Syr Edwen und Tarkin, genannt »Der Krähenfresser«
Allen Guten Göttern zum Gruße, Ihr edlen Mitstreiter der Bruderschaft der Gekreuzten Schwerter, Liebe Freunde,
Ihr seid nun schon einige Zeit mit der skilischen Karawane unterwegs, um die Wehrlosen zu schützen und den Gerechten beizustehen. Ich hoffe, es ist Euch wohl ergangen und ihr konntet weitere Kämpfer für die gerechte Sache auf Eurer Reise finden. Toran und der kleine Rest unseres Bundes haben hier in Askalon weiter gegen die Tekk gekämpft und konnten viele Flüchtlinge vor dem sicheren Tod bewahren. Seit Taraxhall von den Ul’Hukk belagert wird, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Pfefferweg zusammenbricht und damit auch unsere Wegburg über dem Rösserpass zu Fall gebracht wird. Was das für den Kampf gegen die Invasoren bedeutet, könnt ihr euch sicherlich ausmalen. Neben diesen schlechten Nachrichten, muss ich euch noch eine weitere, viel schlimmere Mitteilung machen: Torans heldenhafter Bruder Benesch, der als Lichtbringer einen großen Teil des askalonischen Heeres gegen die Tekk angeführt hat, ist verschwunden. Toran ist nun auf eigene Faust aufgebrochen, ihn zu finden und vor der Rache der Ul’Hukk zu bewahren. Stellt Euch vor: ganz allein, nur mit Ross und Schwert, in feindliches Gebiet jenseits des Walls. Ich hoffe, dass Euch dieses Schreiben noch rechtzeitig erreicht. Kommt bitte schnell zur Wegburg über dem Rösserpass, damit wir einen Plan entwickeln können, wie wir Toran und seinen Bruder retten können. Ich harre Eurer! Beeilt Euch!
Euer Freund und Bruder, Notor Gulim, genannt »Der Ehrliche«. Tarkin sah verwirrt und überwältigt aus, geistesabwesend schob der das Pergament in seinen Gürtel. Dann sprang er plötzlich auf und rannte in Richtung Karawanenlager: »Folgt mir, wir haben keine Zeit zu verlieren!«

Als Widun und Anneliese bei Tarsos Zelt anlangten, sahen sie, wie Tarkin und Tarso bereits heftig miteinander diskutierten. »Ich verstehe!«, gab Tarso gerade zu, »aber ihr müsst doch auch meine Position verstehen! Ich kann hier nicht ewig warten! Ich gebe euch zwei meiner älteren Pferde, dafür erhaltet ihr zunächst keinen Ausstand! Holt eure Gefährten in Medea ab und brecht dann direkt nach Taraxhall auf. Wenn ihr verhindern könnt, dass der Pfefferweg unterbrochen wird, dann ist das auch in meinem Interesse! Ich hoffe mit euch!« Ohne weitere Abschiedsworte holten sie zwei alte Rappen beim Tiermeister und brachen auf. Sie hatten eiligst das Nötigste zusammengepackt.

Da es in den engen Gassen und dem Gedränge des Nordmarktes oft zu Fuß schneller voran ging, führten Widun und Tarkin die Rappen am Zügel, Anneliese hatte es sich hoch zu Ross bereits bequem gemacht. Sie durchquerten gerade den berüchtigten östlichen Teil des Marktes, vor dem sie Tarso immer wieder gewarnt hatte, als bei einem Zelt in der Nähe die Eingangsplane mit einem Schrei hochgerissen wurde. Mit großen, geschmeidigen Sprüngen stürmte eine rötliche Gestalt aus dem Zelt und versteckte sich im Schatten eines Nachbarzeltes. Sie bedeutete den drei Gefährten mit einem Finger vor dem Mund, sie nicht zu verraten. Einen Augenblick später stürzte eine schwerbewaffnete Gestalt mit exotischer Rüstung und pockennarbiger goldgelber Haut aus dem Zelt hervor: ein Krieger aus Hon. Er musterte die Umgebung. Schließlich trat ein Ausdruck der Verzweiflung in seine mandelförmigen Augen. Danach trat ein weiterer Mann aus dem Zelt. Er stammte seiner Hautfarbe nach ebenfalls aus Hon und trug sein Hemd unten halb aufgeknöpft, sodass sein fetter Wamst genug Platz zur Entfaltung hatte. Der Dicke schien zornig zu sein und brüllte den Hon-Krieger an, der daraufhin kopflos in irgendeine Richtung davonstürzte. Jetzt hatte »Hängebauch«, wie ihn Tarkin schon im Geiste benannt hatte - immerhin reichte ihm der Bauch bis über die Knie - auch Widun und die Kobolde erblickt und schwabbelte mit Mühsal auf sie zu. Blut tropfte von seinen wulstigen Lippen und hinterließ Flecken auf seinem feinen Seidengewand.

Der dicke Jujin fragte sie mit einem fremdländlichen Dialekt: »Habt ihr eine Alwenfrau gesehen? Wohin ist sie gelaufen?«

Tarkin zögerte nicht lange - und zeigte in die falsche Richtung. Schnaubend - ob vor Wut oder Anstrengung war nicht ganz klar - entfernte sich der Jujin. Er zog einen kleinen Säbel aus seinem Gürtel und rief unablässig nach der Frau: »Komm zurück! Du gehörst mir, du Elende! Ich habe viel Gold für dich bezahlt!«

Als er endlich außer Sicht war, wandten sich die drei der roten Gestalt zu. Sie war tatsächlich eine Alwe, eine Feueralwe um genau zu sein. Ihre rötliche Haut leuchtete durch ihr dünnes Seidenhemd, an ihrem Hals und ihren Wangen Adern wie Lavaflüsse ihrer feurigen Heimat Pyr Dragis. Widun und die Kobolde waren von ihrem Äußeren fasziniert, so selten war ihr Anblick in den thalischen Reichen.

Die Alwe ergriff schließlich das Wort: »Möge Feuer eure Herzen wärmen, und Flamme eure Feinde tilgen!«

Sie sprach nur gebrochen die Gemeine Sprache, doch ihre Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Hatte sie eben noch verletzlich gewirkt, wie sie vor ihnen kauerte, nahm sie jetzt Haltung an und ein wiedererlangter Stolz sprach aus ihren goldgelb glühenden Augen. Widun - immer noch geblendet von ihrem Anblick - bot ihr etwas unbeholfen an, ihr bei der Flucht zu helfen. Sie willigte dankbar ein.

Zu viert verließen sie den Nordmarkt in Richtung Medea. Sie hatten sich jeweils zu zweit auf ein Pferd gesetzt, Tarkin ritt mit Widun, Anneliese saß bei der Feueralwe. Auch Widun und Anneliese waren jetzt erleichtert, den Nordmarkt hinter sich zu lassen. Hoch zu Ross genossen sie die fantastischen Wolkenbilder, die das Wetter an den Himmel zauberte. Als die Sonne unter den Horizont tauchte, wurde es Zeit ein Nachtlager aufzuschlagen. Hinter drei moosbewachsenen Felsen suchten sie Zuflucht vor den aufkommenden Winden. Die Feueralwe begann zu schlottern, als Kind des Feuers war sie die Hitze ihrer vulkanischen Heimat gewohnt. Widun reichte ihr die Pferdedecke. »Wie aufmerksam«, bedankte sich die exotisch-schöne Alwe, »ich heiße übrigens Maluna.« Anneliese verfolgte das Ganze mit einem missmutigen Blick. Tarkin sah seine Chance gekommen, sich an die kleine Koboldmagierin zu kuscheln, erhielt aber einen Korb, woraufhin er sich schmollend unter den schrägen Felsen rollte.
Anneliese verspürte den Drang, sich auf die moosigen Felsen zu legen, den Blick aufs Sternenzelt gerichtet. Sie merkte, wie sich langsam ihre Aura wieder auflud.

Widun hatte die erste Wache übernommen. Als diese ereignislos zu Ende gegangen war, weckte er Anneliese auf. Diese schreckte er aus tiefer, arkaner Kontemplation hoch; albtraumhafte Bilder huschten noch an ihrem inneren Auge vorüber, die sie jedoch nicht deuten konnte. Sie wischte sich über die großen Augen, setzte sich auf und ließ ihren Blick über die ruhig-düstere Welt um sich herum schweifen.
Widun hatte sich hingelegt, nachdem er sich durch einen Schubs versichert hatte, dass Anneliese auch wirklich wach war.
Die kleine Magierin lauschte der absoluten Stille, dann war es ihr, als ob sie ein Flüstern aus großer Ferne vernahm; seltsame Laute in einer alten, vergessenen Sprache - und dann - Schreie des Wahnsinns. Sie blickte sich um - war da jemand? Was war das? Ein Glitzern? Sie beschloss nachzusehen und rutschte den moosigen Felsen hinunter - kein Grund die anderen zu wecken.
Sie passierte einen hohlen Baum und sah dann, wo das Glitzern wohl hergekommen war. Sie stand an einem kleinen Teich, auf dessen ruhiger Oberfläche sich das Sternenlicht spiegelte. Komisch - kein Quaken eines Froschs war zu hören, kein Fisch unterbrach die glatte Wasserfläche. Sie drehte sich zum Gehen, da sah sie es: ein seltsames Funkeln, nicht richtig grün, nicht richtig blau - aber eindringlich. Es schien aus dem hohlen Baumstumpf zu kommen. Als sie gerade hineinblicken wollte, kam ein kleines, leuchtendes Wesen herausgeschossen. Es schlug mit winzigen Flügeln und hinterließ eine Spur aus Glitter, als es sich spiralig in die Luft schlängelte. Dann war es weg - nur noch Sternfunkeln. Anneliese versuchte die letzten Leuchtpartikel zu fangen. Als sie jedoch ihre Finger öffnete, waren sie verschwunden.

Die Morgensonne küsste die vier Reisenden wach. Tarkin hatte bereits die Pferde gefüttert und die Sachen gepackt. Anneliese hatte gar keine Zeit, den anderen von ihrem nächtlichen Erlebnis zu erzählen - andererseits hätten sie ihr wahrscheinlich auch gar nicht geglaubt: »Das hast du alles nur geträumt!«, hätten sie ihr weißmachen wollen.
Der Koboldsöldner hatte es augenscheinlich sehr eilig. Nach kurzem Frühstück brachen sie auf. Das Wetter meinte es heute gut mit ihnen - sie hatten Rückenwind und kamen schnell voran.

»Was ist das?«, fragte sich Tarkin, als er zwei dunkle Umrisse auf einem Hügel wahrnahm, die sich gegen die Abendröte abhoben. Beim Näherkommen konnten sie erkennen, dass es sich um zwei Galgen handelte, an denen stark verweste Leichen mit fehlenden Händen und Augen baumelten. Sie versuchten, das schaurige Bild schnell hinter sich zu lassen. Nachdem sie den Hügel überquert hatten, konnten sie bereits die Lichter Medeas sehen. Sie beschlossen, in Medea zu übernachten und gaben ihren Pferden die Sporen. Die Straße wurde holpriger, am Wegesrand verdichteten sich die Sträucher und Büsche zu einem tiefen Wald.
Am Horizont tauchten die ersten Sterne auf, der helle Mond erleuchtete bereits die Baumwipfel. Von einem weiteren Hügel aus hatten sie einen Blick auf die im Lichte Zamas erstrahlenden Weinberge und sahen das Spiegelbild des Mondes im Flussbett. Plötzlich zischte etwas Leuchtendes an den Gefährten vorbei - es bog nach rechts in den Wald ab. Reflexartig sprang Anneliese von ihrem Ross und rannte hinterher. Die anderen drei folgten ihr verdutzt ein paar Schritte in den Wald hinein.
Nach einer Weile kehrte die Koboldin gesenkten Hauptes zurück: »Schon wieder entwischt …«

Sie folgten dem Weg noch einige hundert Schritt und stellten dann fest, dass sie sich wohl an der letzten Abzweigung geirrt haben mussten, eigentlich hätten sie schon längst vor dem Stadttor stehen müssen.

»Was war das?«, erschrak Maluna. Aus einiger Entfernung hörten sie eine Mischung aus Rufen und Waffengeklirre. Sie folgten dem Lärm und konnten schließlich Stimmen hören, einige davon kamen ihnen bekannt vor, zumindest Widun und den Kobolden …

Samstag, 25. März 2017

Des Henkers Braut - Kapitel 4: Gesegnete Ermittlungen

»Der hatte bestimmt Tollwut«, entschied einer der hinzugerufenen Wächter, nachdem er sich den großen Hund und sein Herrchen, das ihm mutmaßlich zum Opfer gefallen war, angeschaut hatte.

»Hier sind Kratzspuren an der Tür«, stellte Vivana fest.

Einer der Wächter schien Inotius benachrichtigt zu haben, denn er stand plötzlich in der Tür. Ich berichtete ihm von den nächtlichen Ereignissen. Der Priester wirkte auf einmal sehr nachdenklich: »Ich vermute, dass der Hund vergiftet wurde. Bruder Rotbert hat herausgefunden, dass im Quellwasser ein Pilz für den seltsamen Geruch verantwortlich ist.«

Saradar wollte es genauer wissen: »Also eine natürliche Ursache?«

Inotius wägte ab: »Ja und nein. Ich habe einen Verdacht, wer dahinterstecken könnte …« - Er schwieg und wandte sich ab.

Vivana bohrte weiter: »Aber mit uns könnt Ihr doch reden!«

Inotius gab sich geschlagen: »Also gut, ich vermute, dass die Waldhexe verantwortlich ist. Das ist aber kein Auftrag für die Stadtwachen, diese Hexe ist unberechenbar.«

Urota meldete sich zu Wort: »Wo wir Hexe finden?« - Den anwesenden Stadtwachen fiel erst jetzt auf, dass der Troll gar nicht mehr angekettet war - die Kette suchten sie jedoch vergeblich.

Inotius erklärte uns: »Sie lebt im Wald, versteckt sich dort in Höhlen. Sie soll früher eine Kräuterfrau gewesen sein und Kranke geheilt haben. Seit dieser Zurakkult in der Stadt ist, hat sie sich verändert.«

Saradar verhandelte: »Wenn wir für Euch in den Wald gehen, wie sieht es da aus mit einem Schutz gegen Hexenzauber?«

Inotius lud ihn ein: »Sohn Osirs, kommt morgen in den Tempel des Lichts und euch soll ein Segen zuteilwerden.« - Er wies die Wachen an, die Leichen in den Aluntempel zu bringen, sie sollten dort genauer untersucht werden.

Saradar gähnte: »Wenn die Hexe wirklich das Problem ist …«

Inotius verließ uns, nachdem die Stadtwachen die Leichen Derks und Uggus aus der Herberge geschafft hatten. Trotz der dramatischen Ereignisse mussten wir etwas Schlaf finden, um für die Suche nach der Waldhexe in Form zu sein.

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Am nächsten Morgen empfing uns der Wirt mit einem reichhaltigen Frühstück, es gab unter anderem Eier und Dünnbier. Nach dieser Stärkung verließen wir die Herberge und machten uns auf den Weg in Richtung Tempel. Auf der Schmuckstraße drang uns eine sakrale Musik an die Ohren. Am Straßenrand stand ein junger Alunpriester, der Harfe spielte. Er hatte eine Zinkschale vor sich stehen und lächelte die Passanten an; er sah aber nicht wirklich fröhlich dabei aus. Vivana warf ihm einen Silberling in die Schale. Er nickte ihr freundlich zu.

Vivana trat näher: »Seid gegrüßt, wisst Ihr vielleicht etwas über die Hexe im Wald?«

Der Priester begrüßte sie: »Das heilige Licht segne euch! Ich weiß auch nur, dass sie im Wald lebt und wohl mit dem Zurakkult in Verbindung steht.«

Vivana erklärte ihm: „Wir versuchen herauszufinden, was mit Derk, dem Jäger, geschehen ist.«

Der Priester gab ihr zur Antwort: »Ich weiß bereits, dass er tot ist. Ich musste noch in der Nacht bei der Untersuchung seiner Leiche helfen. So wie es aussieht, wurde auch er vergiftet. Sein Hund muss ihm dann im Schlaf die Kehle durchgebissen haben. Schlimm. Mein Name ist übrigens Bruder Utyferus.«

Vivana hakte nach: »Bruder Utyferus, kanntet Ihr den Jäger gut?«

Utyferus beteuerte: »Nein, aber ich habe ihn gestern Abend noch lebendig gesehen. Er lief eilig zum Tempel hinüber.«

Vivana forschte weiter: »Was wollte er dort?«

Utyferus berichtete: »Er sagte mir nur, dass er wichtige Neuigkeiten habe. Geht am besten zum Tempel und fragt dort Bruder Unar.«

Saradar wollte auch etwas wissen: »Wer ist zu dieser Zeit noch im Tempel?«

Utyferus stellte fest: »Außer Unar sicher Inotius, er ist zu dieser Zeit immer ins Gebet vertieft.«

Wir bedankten uns bei Utyferus für die Auskunft und betraten den Tempel.
Unar hatte uns jetzt schon früher bemerkt, Schweißperlen erschienen auf seiner Stirn, als er Urota näherkommen sah. Er wirkte etwas beruhigter, als er merkte, dass Urota wieder zwei Wachen im Schlepptau hatte.

Vivana grüßte ihn: »Seid gegrüßt, Bruder Unar. Wir wollen herausfinden, was dem Jäger widerfahren ist. Es heißt, er wollte gestern Abend noch mit Inotius sprechen.«

Unar berichtete: »Äh, ja. Er war hier, er sagte mir nur, dass er etwas im Wald entdeckt habe und es unbedingt Inotius erzählen müsse. Unser Hohepriester, der werte Bruder Inotius, ist zu dieser Zeit in seiner Kammer und ins Gebet vertieft. Er darf unter keinen Umständen gestört werden. Ich verwies ihn des Tempels und sagte ihm, er solle heute früh wiederkommen. Dann ist er mit seinem riesigen Hund wieder abgezogen. Mir ist nur aufgefallen, dass er furchtbar geschwitzt hat, der Kerl.«

Saradar verlangte: »Ruft Inotius. Wir haben Fragen.«

Als ob er es gehört hätte, tauchte Inotius im Lichte des Durchgangs zum Haupttempel auf. Er trug eine Maske über dem Mund - die er sich jedoch ruckartig vom Gesicht riss und hinter seinem Rücken verbarg - mir entging nichts.
Mit einem abwesenden Blick begrüßte er uns: »Seid gegrüßt im Lichte. Tretet ein in den Tempel, ihr kommt sicherlich wegen des Segens.«

Saradar, der gestern noch nach dem Segen gefragt hatte, war plötzlich misstrauisch und trat zur Seite. Wir anderen folgten Inotius zu einem Wasserbecken, wo wir niederknien mussten. Mit den Worten »Möge das Licht euch leiten« erteilte er uns einen »Segen des Lichts« und besprenkelte uns dabei mit Wasser, dessen Tropfen auf unserer Haut in den Farben des Spektrums glitzerten. Er hatte ein schiefes Grinsen auf den Lippen, als er uns aus dem Tempel entließ.

Wir beschlossen, in den Wald zu gehen, um nach der Hexe Ausschau zu halten. Auf dem Weg zum Stadttor fiel uns eine ganz in schwarz gekleidete Frau auf, die betrübt auf einer breiten Holzbank vor einem kleinen Häuschen saß. Das war wohl einmal eine Schreinerei gewesen, wie ich am Schild über der Straße mit der Abbildung eines Hobels erkennen konnte, jetzt war die Werkstatt aber mit einem großen Schloss verriegelt. Als wir näher traten, sahen wir, dass sie etwas in ein weißes Tuch stickte. Sie hob den Blick, wir erkannten Tränen, die in ihren Augen glitzerten - sie sah uns fragend an: »Alun zum Gruße! Verzeiht meine Tränen. Wie kann ich euch behilflich sein?«

Vivana fragte sie: »Warum weint Ihr?«

Die trauernde Frau antwortete: »Ich trauere um meine beiden Söhne. Sie gingen als Novizen zum Tempel. Sie mussten eine Nacht zum Gebet außerhalb der Mauern verbringen, am nächsten Morgen waren sie verschwunden. Zwei Tage später fand man sie: Olyf wurde an der Mühleninsel angeschwemmt und Randolf lag im Wald, in einem Holzschuppen von Di’Var, diesem Dämon.« - Sie machte das Zeichen des Sonnenrades und begann laut zu schluchzen.
»Der Jäger Derk hat Randolf entdeckt, und jetzt ist auch er tot. Beiden fehlte …«, sie wird wieder von ihrer Trauer überwältigt, »… das Herz!« - Ihr Blick wandelte sich plötzlich, aus ihren Augen sprach der pure Hass: »Ich hoffe, dass Mortarax diesen Di’Var in den tiefsten Abgrund schickt, damit er seine gerechte Strafe erhält! Sein Bruder hat wohl den kopflosen Leichnam am Osthang des Weinbergs vergraben, aber dadurch findet er auch keine Erlösung bei Alun!«

Vivana fragte dazwischen: »Wisst Ihr, wo dieser Bruder ist?«

Die traurige Frau gab zurück: »Er hat bestimmt die Stadt verlassen. Möge der Fluch auch auf ihn fallen!«

Wir verabschiedeten uns von ihr und gingen weiter Richtung Stadttor. Dort kam es plötzlich zu einem Tumult. Die Stadtwachen drängten die Bürger zur Seite. Ein stämmiger Mann schrie: »Lasst uns durch! Wir müssen zum Hohepriester Inotius!« - Eine schluchzende Frau begleitete ihn.

Wir fragten die Leute: »Die beiden haben beim Pilzesammeln einen toten Priester gefunden, in der Nähe der heiligen Quelle!« - »Er hatte ein Loch in der Brust!« - »Sie haben ihn nicht gekannt, muss ein Fremder sein!«

Wir holten umgehend unsere Waffen und eilten zur Quelle. Wir konnten keine Leiche finden, aber Tarquan hat Spuren entdeckt, die in Richtung Nordwesten wiesen. Dann hörten wir plötzlich einen durchdringenden Schrei - aus nordöstlicher Richtung!

Wir rannten also weiter nach Nordosten und gelangten so zum Eingang einer Höhle, der gut versteckt hinter moosigen Felsen lag. Wir hörten ein unheimliches Ächzen.

Vivana meinte voller Ernst: »Vielleicht sollten wir erst einmal das Huhn vorschicken.«
Ich blickte sie ungläubig an - und mein Huhn verfiel wieder in seine Schockstarre.

Saradar lachte: »Quatsch, wenn wir schon einen Kundschafter vorschicken, dann mein Wiesel!« - Als ob es alles verstanden hätte, sprang Besagtes aus seiner Tasche und lief direkt auf den Höhleneingang zu.

Saradar verging das Lachen: »So war das nicht gemeint!« - und rannte ihm hinterher. Wir schlossen uns an.

Als wir in die Höhle kamen, bot sich uns ein schreckliches Bild: Zedrick, der blondgelockte Novize, lag am Boden. Er hatte eine klaffende Wunde unterhalb des Brustkorbs, aus der pulsierend Blut trat, das sein weißes Gewand fast vollständig scharlachrot verfärbt hatte. Über ihm hockte, in ein seltsames Gesäusel versunken, eine dunkle Gestalt: das musste die Hexe sein! Was machte sie da an seiner Brust? Blut tropfte von ihren Händen. Ihre langen Haare verbargen ihr Gesicht. Als sie uns bemerkte, stopfte sie sich rasch irgendwelche Kräuter in ihre Umhängetasche und sprang erschrocken in eine dunkle Ecke der Höhle. Plötzlich erklang ein Klappgeräusch.

Tarquan vermutete: »Das hat sich wie eine Falltür angehört!« - Vivana entzündete rasch eine Fackel: und tatsächlich - die Hexe war verschwunden. Am Boden tasteten wir die Umrisse einer Falltür. Wir kriegten sie nicht auf, sie musste von unten verschlossen sein.

Ich beugte mich über Zedrick. Ihm war leider nicht mehr zu helfen: Tränen glitzerten auf seinen Wangen; aus seinen Augen sprach die Angst, dann entwich alles Leben aus ihnen, bevor er uns noch etwas hätte sagen können.

Nachdem sich jeder an der Falltür versucht hatte, war Urota an der Reihe. Er machte kurzen Prozess und riss sie aus ihrer Verankerung. Vivana leuchtete in das entstandene Loch im Boden: »Da unten ist ein Gang. Wer steigt zuerst da runter?«

Ich betete an Ianna und bat sie um die Gabe, die sie mir durch den Traum letzte Nacht verliehen hatte. Mit den Worten: »Edwen, kümmere dich bitte um meine Sachen - und das Huhn!«, verwandelte ich mich zum Erstaunen meiner Gefährten in einen Wolf.

Saradar war verblüfft: »Dieser Faun steckt voller Überraschungen.«

Ich sprang nach unten und nahm dort eine Fährte auf: ich konnte die Kräuter riechen, die die Hexe bei sich trug. Ich folgte dem Gang. Mit meiner Nachtsicht brauchte ich keine Lichtquelle. Ja, da war sie. Ich näherte mich vorsichtig, doch bevor ich sie stellen konnte - ein Lichtblitz - Rauch - sie war verschwunden! Auch die Duftspur war weg! Die anderen folgten mir mit etwas Abstand. An einer Stelle tropfte es von der Decke, der Boden wurde matschig. Nach weiteren fünfhundert Schritt endete der Gang: ich konnte eine Treppe erkennen, die bis zu einer Holztür führte. Wo blieb der Rest der Gruppe? Ich ließ ein Heulen ertönen.
Die Holztür war verriegelt. Kein Problem für Vivana, im Fackelschein hatte sie das Schloss schnell geknackt. Hinter der Tür lag ein leerer Kellerraum. Am Ende einer Treppe wieder eine Falltür. Als wir sie öffneten, wurden wir von Sonnenlicht geblendet.

»Das ist doch der alte Wehrturm!«, erkannte Vivana überrascht, als wir nach draußen traten. Wir hatten also einen Geheimgang in die Stadt entdeckt.

Saradar fluchte: »Verdammt nochmal! Wo ist diese Hexe hin? Wir müssen uns die Höhle noch einmal genauer ansehen!« Er rannte die Treppe wieder runter, ohne unsere gemeinschaftliche Entscheidung abzuwarten, wie wir weiter vorgehen sollten - und kam nach kurzer Zeit mit einer Beule am Kopf zurück, was von Vivana natürlich nicht unkommentiert bleiben konnte: »Na, dunkel da unten?«

Edwen pflichtete dem Barbaren jedoch bei: »Saradar, du hast Recht, wir müssen zurück. Wir können ja auch Zedricks Körper nicht den wilden Tieren überlassen!«

Wir nahmen wieder den Geheimgang und fanden auf dem Rückweg nichts Auffälliges. Mir war es immer noch ein Rätsel, wie die Hexe entkommen konnte. Ich hatte mich mittlerweile zurückverwandelt und meine Sachen - inklusive meines erstarrten Huhns - wieder an mich genommen.

Im Bereich des Höhleneingangs sah sich Vivana die Leiche des jungen Novizen noch einmal ganz genau an: »Die Wunde sieht aus, als ob sie ihm mit einem sehr scharfen Dolch beigebracht wurde - da wollte ihm jemand das Herz rausschneiden!«

Wir schauten uns in der Höhle um. In der Dunkelheit verborgen fanden wir ein paar Säcke. Sie enthielten Kräuter, die so aussahen wie diejenigen, die sich die Hexe in die Tasche gesteckt hatte. Vivana untersuchte sie: »Das sind Heilkräuter!« - Wir nahmen uns ein paar davon mit. Vielleicht war die Hexe doch nicht für den Tod des Novizen verantwortlich?
Urota schulterte den Leichnam, und wir verließen die Höhle.
Die Spurensuche in der Umgebung der Höhle brachte uns nicht weiter - die Sonne näherte sich bereits dem Horizont.

Saradar meinte frustriert: »Das ist Zeitverschwendung. Wir sollten zur Quelle zurück! Da waren doch noch andere Spuren!«

Zama zeigte sich bereits am Abendhimmel, als wir uns entschlossen, Saradars Vorschlag zu folgen.

Auf dem Weg zur Quelle hörten wir plötzlich schallendes Gelächter aus dem Geäst. Dann raschelte es. Mehrere Männer in schmutzigen Lederrüstungen bauten sich vor uns auf. Sie trugen Schilde und Schwerter und sahen kampfbereit aus. Der Älteste von ihnen, erkennbar an seinem grauen, verfilzten Bart, trat einen Schritt auf uns zu. Als er den Mund öffnete, zeigte er uns seine zwei letzten, fauligen Zähne. Was dann rauskam, war mehr ein Spucken als ein Sprechen: »Hallo ihr späten Wanderer! Ihr seid in unserem Wald, deshalb schuldet ihr uns einen Wegzoll! Gebt uns all euer Gold und Silber, dann kommt ihr mit dem Leben davon!« - Auf ein Zeichen von ihm traten hinter uns einige Bogenschützen aus dem Unterholz. Sie sollten uns wohl klarmachen, dass es kein Entrinnen gab. »Die Leiche könnt ihr übrigens behalten!«, stellte Räuber Faulzahn klar und spuckte aus.

Ich wollte gerade meinen Sack mit Kräutern hochhalten und ihm glaubhaft machen, dass wir diese bloß im Wald gesammelt und sonst nichts bei uns hätten, als - »O Skia!“ - Saradar den Mund aufmachte: »Das einzige Silber, dass ihr heute von mir bekommt, ist das Silber meiner Klinge!« - und sich auf Räuber Faulzahn stürzte.

Samstag, 25. Februar 2017

Des Henkers Braut - Kapitel 3: Die Quelle allen Übels

Wir verließen die Stadt zusammen mit den drei Jünglingen, natürlich nicht ohne unsere Waffen, Urota war auch seine lästigen Ketten wieder los. Da die Quelle nicht weit von der Stadt entfernt sein sollte, hatten wir uns zu Fuß auf den Weg gemacht. Nach kurzer Wegstrecke betraten wir den Wald, in dem sie sich befinden sollte. An einer Wegkreuzung waren wir uns unschlüssig, in welche Richtung wir weiter gehen sollten.

„Sie hätten ja auch mal Hinweisschilder anbringen können, wo es zur Quelle geht!“, beschwerte ich mich.

Edwen grinste: „So einfach können sie es den Novizen nun auch nicht machen, außerdem könnten Räuber solche Schilder missbrauchen, um kleine Faune in die Falle zu locken.“

Wir entschieden uns für die östliche Abzweigung. Nach einer Biegung raschelte es im Unterholz - und plötzlich stand ein riesiger Hund vor uns, der seine Zähne fletschte und uns anknurrte. Wir standen wie erstarrt - noch machte er keine Anstalten, uns zu attackieren - Sabber tropfte ihm in großen Portionen aus dem Maul.
Dann ein erneutes Rascheln - und ein Mann mittleren Alters im Gewand eines Jägers trat aus dem Gestrüpp: „Uggu, ruhig mein Braver!"

Er schaute uns etwas ungläubig an und begann dann: "Nivië zum Gruße! Ich bin Derk der Jäger. Entschuldigt meinen Bullbeißer, aber im Moment kann man in den Wäldern nicht vorsichtig genug sein, da bin ich froh, so einen aufmerksamen Jagdhund an meiner Seite zu haben. Ihr seht so aus, also ob ihr euch verlaufen hättet. Kann ich euch helfen?“

Der Mann hatte graue Schläfen und ein Spitzbärtchen, für einen Menschen machte er einen sehr sympathischen - und - attraktiven Eindruck. Das hatte auch Vivana mitbekommen: „Hallo, Nivië zum Gruße. Ich heiße Vivana - und das sind meine Gefährten. Wir sollen diese drei Novizen zur heiligen Quelle begleiten. Könnt Ihr uns da vielleicht weiterhelfen?“, säuselte sie ihm zu.

Tarquan hatte sich im Hintergrund gehalten, ich merkte aber, dass ihm gar nicht gefiel, was er da sah.

Vivana fragte mit Blick auf den gewaltigen Hund: „Uggu ist ein lustiger Name. Hat er eine Bedeutung?“

Derk antwortete lächelnd: „Wisst ihr, ich habe meinen Hund nach meinem Großvater benannt, der hat auch immer so gesabbert… - Spaß beiseite, das ist Trollgar und steht für ‚fleißig‘. Folgt mir, ich führe euch zur Quelle, es ist nicht weit!“

Er ging mit uns den Weg zurück zur Kreuzung und nahm die westliche Abzweigung. Nach einer kurzen Strecke tat sich vor uns eine große Lichtung auf, in deren Zentrum ein kleiner Hain aus alten Eichen stand. Als wir den Hain betraten, konnten wir schon das Plätschern hören. Unscheinbar sprudelte hier klares Gebirgswasser aus einer Öffnung im Boden und bildete ein kleines Rinnsal.

Saradar: „Ich habe vielleicht einen Durst!“ - Er hatte sich bereits auf den Boden geworfen und den Mund geöffnet, als er völlig unerwartet vom Bullbeißer weggestoßen wurde. Uggu bellte, begann zu knurren und dann mit seinen Pfoten zu scharren.

Derk: „Das ist seltsam, so etwas macht er nur, wenn er etwas Verdächtiges gewittert hat.“

Auch Vivana warmisstrauisch. Sie kramte zwei Phiolen hervor, nahm Proben vom Quellwasser und schnupperte daran.
„Das Wasser riecht wirklich komisch, vielleicht ist es verseucht. Also, ich würde erst einmal nicht davon trinken!“

Tolar: „Aber was ist mit unserer Aufgabe? Vielleicht ist das ja die Prüfung des Glaubens!“

Derk: „Das glaube ich nicht! Ich war schon oft hier. Da ist wirklich etwas faul. Trinkt lieber nicht davon!“

Unverrichteter Dinge kehrten wir um. Vor der Stadt verabschiedete sich Derk von uns.
„Wenn ich euch einen Tipp geben darf: Wenn ihr eine Herberge für die Nacht sucht, übernachtet im Gasthof Zur gesegneten Aussicht, da ist das Essen zwar teuer, dafür schmeckt es aber auch, und die Zimmer sind ihren Preis wert! Ich verweile auch öfters dort, wenn ich in der Stadt bin.“

Die Stadtwachen waren sehr ungehalten über unser Kommen und Gehen.
„Entscheidet euch endlich - rein oder raus! Für das Verstauen eurer Waffen kriegen wir keinen Extrasold!“
Damit war wohl vor allem Urotas Riesenknochen gemeint, den ein Mensch alleine gar nicht heben konnte. Mühsam legten sie Urota wieder die Ketten an und zwei Wachen folgten ihm auf Schritt und Tritt.

Die Menschen in der Stadt musterten uns argwöhnisch. Sie sahen wohl selten fremde Völker. Ein Gjölnar, eine Jujin, ein Faun und - ein Troll an der Leine - wir waren ein zusammengewürfelter Haufen. Aber selbst Edwen, den Mensch aus Askalon, betrachteten sie missgünstig. Einzig die Kinder schienen keine Abscheu vor uns zu haben. Sie tanzten um uns herum und lachten. Ein kleines Mädchen stellte sich vor den angeketteten Urota, der zu lächeln versuchte.
„Wo kommst du her? Betest du fremde Götter an? Frisst du kleine Kinder?“, fragte sie ihn rotzfrech. Er schüttelte den Kopf.
Eine alte Frau rief den Kindern zu: „Geht da weg, das sind Fremde!“

Wir beschlossen, es noch einmal mit dem Rathaus zu versuchen. Die Novizen wollten solange auf uns warten. Ihnen war die ganze Aufmerksamkeit scheinbar unangenehm. Diesmal hatten wir Glück. Nachdem Urota angeklopft hatte, öffnete ein Diener des Stadtherrn die schwere Eichentür. Er war ganz entrüstet "ob der Heftigkeit des Schlages", wie er sich ausdrückte. Wir erklärten ihm unseren Begehr und er brachte uns zum Schreibzimmer. Dort saß - zwischen einigen großen Büchern - der rothaarige Mann, der bei der mittäglichen Hinrichtung seine Wut hinaus gebrüllt hatte.

Seelenruhig, unsere Anwesenheit völlig ignorierend, schrieb er eine Urkunde zu Ende und setzte sein Siegel darunter. Dann erst erwies er uns die Gnade seines Blickes, und dieser Blick war weniger überrascht als vielmehr feindselig.

„Seid gegrüßt, Fremde. Ich bin Rhovan Rothbart, rechtmäßiger Stadtherr von Medea, der Stadt des Lichts und der Gottesfürchtigkeit. Was ist euer Begehr?“, fragte er uns abschätzig.
Rhovan Rothbart, der Stadtherr von Medea.
Edwen übergab ihm das Schreiben Gorecks. Rhovan brach das Siegel und las aufmerksam den Brief.
„Fremde, habt Dank für euren Botendienst. Ihr sollt die versprochene Belohnung erhalten!“ Mit diesen Worten holte er aus seinem Schreibtisch einen Beutel hervor und zählte zwanzig Silberlinge ab. Wir waren verblüfft, wegen seines Auftretens hätten wir nicht mehr mit einer Entlohnung gerechnet.

„Aus dem Brief geht hervor, dass ihr zuverlässige Söldner sein sollt. Ich habe auch einen Auftrag für euch. Im angrenzenden Wald gibt es eine Hexe. Ich will, dass ihr sie beobachtet und herausfindet, ob sie etwas mit den Kultisten zu tun hat. Sie soll sich in der Nähe der alten Ruine herumtreiben. Wollt ihr das für mich und den Frieden der Stadt tun?“, fragte er mit einem leichten Verziehen der Mundwinkel.

Saradar ließ seinen ganzen Charme spielen.
„Wie wollt Ihr uns entlohnen, werter Stadtherr Syr Rhovan?“
Ihm war sicher nicht entgangen, dass da kein Ritter vor ihm saß, doch vielleicht war es auch nur seine Verhandlungstaktik. Der Rotbärtige schien tatsächlich geschmeichelt zu sein. „Zwanzig Silberlinge jetzt und vierzig später, wenn ihr euren Auftrag erfüllt und mir Bericht erstattet habt!“

Plötzlich kroch das Wiesel aus Saradars Hose hervor und lief ihm einmal quer über die Brust, um dann wieder in der Hose zu verschwinden.
Mein Huhn schien das auch mitbekommen zu haben. Es streckte seinen Kopf aus seinem Versteck, schaute sich irritiert um und gackerte angsterfüllt.

Angewidert schrie uns Rothbart an.
„Ihr … - ihr seid ja mehr Tiere als Menschen. Raus hier - und lasst euch nicht eher blicken, bis ihr euren Auftrag erfüllt habt!“

Wir befolgten gerne seinen Befehl. Was für ein unsympathischer Mensch - und hässlich noch dazu mit seiner großen Warze im Gesicht.

Wir holten die Novizen ab und gingen mit ihnen zusammen zum Tempel zurück. Dort erwartete uns Inotius bereits.
„Novizen, habt ihr eure erste Aufgabe erfüllt und ist euch die innere Reinigung zuteil geworden?“
Sie blickten verlegen auf ihre Füße.

Vivana ergriff für sie das Wort.
„Nein, wir trafen auf den Jäger Derk und seinen Bullbeißer, der uns vor der Quelle gewarnt hat. Sie scheint vergiftet zu sein. Wir konnten gerade noch so verhindern, dass eure Novizen aus der Quelle tranken. Ich habe eine Probe genommen.“
Sie zeigte Inotius eine der Phiolen.

Inotius: „Das ist … - bedauerlich und … - besorgniserregend. Ihr könnt mir eine der Proben überlassen. Ich werde sie an Bruder Rotbert weiterreichen, der sie in seinem Laboratorium untersuchen soll. Kommt morgen wieder, vielleicht wissen wir bis dahin mehr!“
Wir überließen die Novizen seiner Obhut und verabschiedeten uns von ihnen.

Der Tag neigte sich langsam seinem Ende zu. Bevor wir Derks Rat befolgen und im Gasthaus Zur gesegneten Aussicht einkehrten, machten wir mit Hilfe unseres Plans noch eine kleine Stadtbesichtigung. Uns fiel ein Turm auf, der durch seine Bauweise aus der Umgebung hervorstach. Hier waren viel gröbere und dunklere Steine verbaut worden. Er wirkt dadurch sehr alt - und wollte nicht so recht in die Umgebung passen. An seinem Fuße verlief der Fluss. Über eine schmale Holzbrücke gelangten wir auf eine Insel. Hier stand die Mühle mit einem großen Wasserrad, das sich unablässig drehte. Vor dem Eingang stand der Müller, der uns aber über die Vorkommnisse in Medea nichts Neues berichten konnte und nur mit den Schultern zuckte. Er zeigte auf zwei alte Männer, die auf einer Bank vor dem alten Turm saßen und sich die Zeit mit einem Würfelspiel vertrieben.
„Ich bin zu beschäftigt, um viel mitzukriegen. Aber fragt mal die beiden da, wenn einer was weiß, dann sie!“

„Seid gegrüßt im Namen der guten Götter!“, sprach Edwen die beiden Weißbärtigen an. Der eine war dick, der andere spindeldürr. Sie unterbrachen ihr Würfelspiel für uns.

Der Dicke blickte uns freundlich an: „Seid gegrüßt, Fremde!“

Edwen: „Wisst ihr etwas über die seltsamen Dinge zu berichten, die sich in Medea abspielen?“

Der Dicke setzte sich gerade hin und rückte seinen Bauch zurecht.
„Und ob, wir sitzen immer hier, so kriegt man viel mit, was so vor sich geht. Erst vor drei Tagen haben sie hier an der Mühleninsel eine Leiche aus dem Weißwasser gezogen. Es soll ein Novize gewesen sein - und er ist wohl nicht ertrunken, sondern ermordet worden, denn er hatte ein klaffendes Loch in der Brust!“

Jetzt schaltete sich der Dürre mit ein und berichtete mit blau leuchtenden Augen:
„Aber das war nicht der Einzige. In der Nähe der alten Ruine haben sie auch einen gefunden … - ausgeweidet! Anhänger des Zurak sollen dahinter stecken. Rothbart hat viele erwischt, vielleicht war dieser Di'Var ja wirklich der Anführer und wir haben endlich unseren Frieden. Aber da ist noch diese Waldhexe … - ihr Blick soll tödlich sein!“

Edwen: „Woran kann man diese Zurak-Anhänger eigentlich erkennen?“

Jetzt antwortete wieder der Dicke: „Es heißt, sie tragen eine Tätowierung auf ihrer Brust, das Symbol der Spinne - das Zeichen Zuraks! - Übrigens heißt es, dass die Ruine und der alte Wehrturm die Überbleibsel einer uralten Siedlung sein sollen, aber keiner weiß so genau, welches Volk früher hier gelebt haben soll.“

Die Wachsoldaten waren genervt, sie schwitzten in ihren Metallrüstungen. Wir ließen uns aber nicht davon abbringen, unsere Besichtigung fortzusetzen. Wie zu vermuten, gab es in der Stadt keinen einzigen Waffenhändler, nur Goldschmiede, die Anhänger in Form des Sonnenrades für die Pilger oder andere Schmuckstücke mit Edelsteinen herstellten.
Medea war berühmt für seinen guten Wein, der am Südhang des Mon Alunas wohl prächtig gedieh - daher gab es hier viele Winzer. Saradar ließ jedoch seine Pläne, in der Weinstraße einen guten Tropfen für Widun zu besorgen, schnell wieder fallen, als er die Preise sah.

Da die Sonne tief am Horizont stand und die Stadt bereits in ein leuchtendes Rot tauchte, machten wir uns auf zur Herberge. Ich war für getrennte Zimmer, da mein Huhn Angst vor dem Barbaren und seinem Wiesel hatte. Urota wurde von den Wachen an ein Bett gekettet. "Morgen holen wir dich wieder ab!"
Sichtlich erleichtert trollten sich die beiden Soldaten. Auf den fragenden Blick Urotas, was denn sei, wenn er einmal müsse, deutete Saradar auf den Nachttopf unter dem Bett.
"Da sollen Inhalt Trollblase rein?"

Ich war froh, dass die Herberge dicke Wände hatte und ich so von Urotas Schnarchen verschont blieb. Rasch fiel ich in einen tiefen Schlaf.
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„Ein Erdbeben?“, fragte ich mich, als mein Bett wackelte. Schlaftrunken bekam ich kaum meine Augen auf. Ein gewaltiger Rums! und schon flog ein Teil der Wand durch mein Zimmer. Durch ein riesiges Loch konnte ich ins Nachbarzimmer blicken. Dort schien ein Kampf zu toben. Ich hörte ein tollwütiges Knurren - war das? Uggu!
Der tollwütige Bullbeißer Uggu.
Er hatte Schaum vor dem Maul und schnappte gerade nach Urotas Arm, der immer noch am Bett festgekettet war. Edwen und Tarquan kamen eben durch die Tür herein. Ohne Waffen war es gar nicht so einfach, sich gegen den riesigen Hund zu wehren. Vivana versuchte es mit einer Phiole, die sie auf den Hund schleuderte. Sie prallte ab und entleerte ihren Inhalt auf den Boden. Urota heulte schmerzerfüllt auf. Uggu hatte ihn am Arm erwischt. Er konnte ihn jedoch wieder rasch abschütteln. Dafür war jetzt Saradar dran, ihm biss er in den Oberschenkel. Vivana war als nächste an der Reihe - sie konnte ihn aber abwehren, da sie sich als Schutz ihren Mantel um den Arm gewickelt hatte. Während der Bullbeißer wie besessen an Vivanas Mantel zerrte, konnten ihm Pferd, Edwen und Saradar in die Seiten boxen. Urota landete schließlich den tödlichen Schlag mit dem Bettpfosten, an den er gekettet war und den er soeben abgerissen hatte.

Das Knacken von Uggus Rückgrat ging auch uns durch Mark und Bein. Er lag am Boden und wir mussten uns sein Todesröcheln anhören.

„Was ist bloß in ihn gefahren? Heute Mittag hat er uns noch geholfen und jetzt das!“, stellte Vivana betroffen fest.
Sie hat einen Verdacht und schnüffelte an ihm.
„Seltsam, er riecht genauso wie das Quellwasser. Vielleicht ist er vergiftet worden und deshalb so ausgerastet!“

Dann - ein Schrei - er kam vom anderen Ende des Ganges. Wir stürmten hinaus.

An einer offenen Zimmertür stand eine hysterische Frau. Als wir in das Zimmer blickten, konnten wir unseren Augen kaum trauen. Da lag Derk, mit durchgebissener Kehle.