Samstag, 1. März 2014

Die Plage - Kapitel 4: Das Heilmittel

Im Wagen lag das Mädchen unter dicken Wolldecken - und zitterte. Diesmal untersuchte ich den Arm, der geblutet hatte, genauer: Ich erkannte eindeutig Bissspuren, die aussahen wie bei den toten Welpen. Sie war also auch von einer Ratte gebissen worden. Im Namen Iannas konnte ich ihren Zustand fürs Erste stabilisieren, sie brauchte aber einen richtigen Heiler. Tarso empfahl uns, zum Rathaus zu gehen. Widun und Tarkin machten sich sofort auf den Weg. Ich blieb bei dem kranken Mädchen. Vivana und Anneliese wollten das Wolfsfleisch braten, damit es nicht verderben würde. Das Mädchen hatte inzwischen aufgehört zu zittern, dafür fühlte sich ihre Stirn jetzt glühend heiß an. Ihr Vater und ich umwickelten ihre Waden mit nassen Leinenlappen. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, bis endlich Widun mit einem alten buckligen Mann zurückkam, der sich uns als Notor vorstellte. Widun berichtete kurz, wie er dank seines Charmes die Wachen vor dem Rathaus dazu gebracht hatte, ihn einzulassen. Tarkin hatte sich schon vorher vorbei geschlichen. Sie waren auf den Kämmerer getroffen, der sie aber habe abweisen wollen, weil sich der Ratsherr schon zu Bett begeben hätte. Er hatte ihn aber überzeugen können, dass es sich um eine sehr dringliche Angelegenheit handelte. Der gutmütige Ratsherr hatte dann sofort nach dem Notor schicken lassen. Leider gab es keinen richtigen Heiler mehr in der Stadt. Der letzte hatte wegen der Rattenplage fluchtartig die Stadt verlassen.

Widun lässt seinen Charme spielen...

Der Notor stellte sich vor: "Ich bin Fugan Tayn. Ich bin kein ausgebildeter Heiler, die Leute rufen mich aber, weil sie mich für weise halten … Nun ja, ich sehe ja tatsächlich aus wie eine alte Eule".
Der Vater des kranken Mädchens bettelt ihn um Hilfe an: "Weiser Notor, bitte helft meinem armen Mädchen. Sie wurde scheinbar von einer Ratte gebissen. Dieser Faun da hat versucht, sie zu heilen, aber jetzt ist sie im Fieberwahn."
Der Notor schaut sich die Bissstelle an: "Ja, tatsächlich, ein Rattenbiss. Das sehe ich hier in letzter Zeit öfters … Es gibt ein Heilmittel, aber es wird schwierig, das Mädchen zu retten - ich brauche dazu viele Zutaten! Leider hat mein Gedächtnis in letzter Zeit sehr nachgelassen … Ich muss in die Bücher schauen."
Mit diesen Worten verließ er unbeholfen den Wagen.

Nach einer Weile kehrte er zurück und überreichte uns einen Zettel und eine Karte: "Hier ist eine Liste mit den Zutaten, die ich für das Heilmittel benötige. Bei einigen Kräutern weiß ich, wo sie zu finden sind, ich habe sie für euch auf diesem Stadtplan markiert. Einzig für die Essigwurz müsst ihr die Stadt verlassen. Ich gebe euch ein Siegel mit, damit ihr ohne Schwierigkeiten an den Wachen vorbeikommt."

Wir teilten uns auf, um die Kräuter zu holen. Ich wollte mich um die Essigwurz kümmern und verwandelte mich dazu in meine Eichhörnchengestalt. Es war stockfinster geworden. Tarkin entzündete eine Fackel, Vivana bevorzugte dagegen die Dunkelheit. Unheimlich war so eine Menschenstadt im Dunkeln. Die Laternen wogten quietschend im Wind wie Gehängte. Manchmal dachte ich, dass sich die Wände der Fachwerkhäuser bewegen würden: überall huschende Schatten - oder war das alles nur Einbildung?

Ich eilte über die Stadtmauer - keine Wachen weit und breit. Rasch hatte ich die gesuchte Essigwurz gefunden und konnte mich auf den Rückweg machen. Vor dem Planwagen verwandelte ich mich zurück. Wir hatten alle Zutaten beisammen: Essigwurz, Ginsterbeeren, Tarinlapp, Brennnesseln und Löwenzahn. Auch meine Gefährten berichteten von unheimlichen Geräuschen: trippelnde Schritte und quietschende Schreie. Der Notor hatte einen Mörser und weitere Zutaten dabei, aus denen er mit Hilfe der Kräuter eine Arznei herstellte. Das Mädchen hustete, als ihr der Trank eingeflößt wurde. Schon nach kurzer Zeit sank das Fieber und unsere Patientin fiel in einen tiefen Schlaf. Wir waren erleichtert, verließen den noch immer sehr bekümmerten Vater und nutzten den Rest der Nacht zum Schlafen.

Am nächsten Morgen kam uns der Vater schluchzend entgegen: "Ihr habt meine Tochter gerettet! Wie soll ich euch nur danken? Bitte nehmt diese 30 Silberlinge als kleines Zeichen meiner Dankbarkeit!"

Wir waren zum Ratsherrn eingeladen worden, der uns freundlich begrüßte und dann von seinen Sorgen berichtete: "Unsere einst so stolze Stadt liegt seit dem großen Beben in Trümmern. Meine fleißigen Bürger hatten einen Teil der Stadt schon wieder aufgebaut und alle waren in Aufbruchstimmung, besonders nachdem die Ul‘Hukk erfolgreich zurückgeschlagen werden konnten. Vor drei Monden ist aber ein großes Unglück über unsere Stadt hereingebrochen: Ratten, überall Ratten! Sie haben sich rasant in den Ruinen vermehren können, jetzt findet man sie überall. Sie haben keine Angst mehr vor den Menschen - es wurde schon von zahlreichen nächtlichen Angriffen berichtet, so dass ich eine Ausgangssperre verhängen musste. Die Menschen bleiben in ihren Häusern, nur wenn die Sonne hoch am Himmel steht, trauen sie sich noch auf die Straße. Das kranke Mädchen hatte Glück - viele sind schon an der Rattenpest gestorben! Wir haben zwei Rattenfänger gerufen, die beide aber nach kurzer Zeit mit unseren Silberlingen das Weite gesucht haben!"

Der stämmige Mann räusperte sich kurz und seine Backenhaare zitterten dabei: "Es gibt noch ein weiteres Problem, das mir noch viel mehr am Herzen liegt. Verzweifelte Eltern kommen zu mir. Sie berichten, dass ihre Kinder verschwunden seien. Die Leute flüstern, dass ein Dämon sie hole und verspeise. Andere berichten von einer hässlichen alten Frau, die sie nachts in den Gassen gesehen hätten - sie bezeichnen sie als die Rattenkönigin. Wir wissen aber nicht, ob das alles in einem Zusammenhang steht…"

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