Sonntag, 12. Oktober 2025

Frostreich-Kampagne - Akt 3: Die Gunuthherde

Ich gelangte mit dem Tross nach Laquariel: an die Front des Krieges zwischen der Primarenarmee und den Mystikern. Ich hatte selbst noch Wunden zu lecken, doch ich vermisste die Gesellschaft meiner Freunde des Bundes aus Blut und Feuer. Als ich dort anlangte, war die Schlacht an den Gemmentürmen vorbei. Draugen lagen neben Draken, Alwonai der Primaren und Mystiker in tödlicher Umarmung.

Von Illarion, unserem alwonaischen Übersetzer, erfuhr ich, dass Halorcon, der entkommene Magier, sich als grauer Drache aufgeschwungen hatte und mit dem Bottich, der mit destillierter Feenmagie gefüllt war, in nördliche Richtung davongeflogen war. Er wurde dabei wohl von den Abtrünnigen unterstützt. Die Primarenarmee hatte verlustreich gegen die Mystiker gekämpft, die sich nicht hatten ergeben wollen. Die Primaren hatten am Ende aber doch den Sieg davongetragen.

Unser Bund war nicht vollzählig. Ich traf auf Widun, der jammerte, schon drei Tage keinen Tropfen geistreicher Getränke mehr zu sich genommen zu haben und fürchterlich fror, auf Anneliese und Tarkin, die dank ihres Koboldfells weniger Probleme mit der Eiseskälte hatten sowie Vivana, die sich ihre Kapuze tief uns Gesicht gezogen hatte. Sie erzählten mir, dass sie Saradar unterwegs aus den Augen verloren hatten, sein Gunuth Knut kehrte zurück, doch der Barbar stapfte vermutlich verwirrt irgendwo durch die Eiswüste. Urota und Freya hatten sich eine schwere Erkältung zugezogen und lagen in der Hauptstadt in ihren Betten. Maluna, die Feueralwe lag schockgefroren im Lazarett und musste langsam wieder aufgewärmt werden.

Emtriyon, der General der Primarenarmee, führte uns einen Gefangenen vor. Es war Yermercalon, einer der Mystiker. Emtriyon schlug vor, dass wir in die Hauptstadt zurückkehren sollten, um dort mehr über die Hintergründe in Erfahrung zu bringen, Illarion dagegen drängte zur Eile, wir müssten doch dem Drachen hinterher. In nördlicher Richtung lag das Tal der Eisriesen, die hier auch Eisthursen genannt wurden. Wir zweifelten, ob wir etwas gegen einen Drachen und die Abtrünnigen ausrichten könnten. Wir entschieden uns schließlich, den gefangenen Mystiker zu befragen. Doch dieser hatte nichts als Verachtung für uns übrig – Illarion weigerte sich, seine Beschimpfungen zu übersetzen. Selbst mein Charme konnte nichts bei ihm ausrichten. Er spuckte mich an, doch sein Speichel gefror bereits in der Luft. Emtriyon konnte dieses Verhalten nicht dulden und schlug ihm solange in den Bauch, bis der Mystiker gesprächiger wurde. Er lachte uns aus, dass wir ja nicht wüssten, womit wir es zu tun hätten. Ein Tropfen der destillierten Feenmagie hatte bereits einen Turm zerstört und ein Erdbeben ausgelöst, was würde da ein ganzer Bottich bewirken! Er könnte den gesamten Eiskontinent auseinanderreißen!

Wir wollten natürlich wissen, wie wir die gefährliche Substanz neutralisieren könnten – doch auch hier verweigerte Yermercalon jegliche Auskunft, erst nach weiteren Schlägen von Emtriyon deutete er an, dass die Substanz in Gemmen gegossen werden müsste, um einen sicheren Transport zu gewährleisten. Er wisse, dass die Krone des legendären Frostkönigs aus Udunith bestand, ein Mineral, das das Feendestillat aufnehmen könnte. Wir fragten Illarion, der von der Legende wusste, dass der Träger der Krone alle Drachen Korilions kontrollieren könnte. Doch die Vorväter hätten vorgesorgt: kein lebender Alwe kann die Hallen des Frostkönigs betreten.

Wir baten Emtriyon, einen Brief in die Hauptstadt zu schicken, mit der Bitte um Verstärkung und weitere Informationen zu Mineralien, die die Feensubstanz unschädlich machen könnten. Er schickte eine Eule los. Er teilte uns für die gefährliche Mission zwei Begleiter zu: Illarion und eine Schlittenlenkerin namens Solvariel, die auch eine hervorragende Bogenschützin sei. Mit sechs vor den Schlitten gespannten Frostwölfen machten wir uns auf den Weg in den Norden. Tarkin und Vivana zogen es vor, auf dem Gunuth zu reiten – was bei der bitteren Kälte einen herzerwärmenden Anblick bot.

Je weiter wir nach Nordwesten kamen, desto kälter wurde es. Dann begann es auch noch zu schneien! Wir hatten mit Erfrierungen zu kämpfen und unsere Sicht wurde durch den Schnee stark beeinträchtigt, überall bildeten sich Schneewehen. Vor uns tauchten plötzlich drei schemenhafte Gestalten auf, die in gebücktem gingen und Waffen hinter sich herzogen. Das mussten diese untoten Draugen sein! Tarkin zückte sein neues Schwert Draugentod, doch es musste nicht zum Einsatz kommen: Solvariel lenkte den großen Schlitten geschickt um die traurigen Gestalten herum. Ich unterließ es, aufgrund der Kälte, ihnen Grimassen zu schneiden - und die Untoten verschwanden im Schneegestöber hinter uns.

Dann eine Bodenwelle, unser Schlitten kippte – und wir purzelten in den Schnee. Die Schneedecke riss auf und was sich da aus dem Schnee erhob, sollte mir noch lange im Gedächtnis bleiben: ein schwarzes Ungetüm, das aussah wie ein gewöhnliches Walross, aber gigantische Ausmaße besaß. Es war um die 25 Schritt lang und vielleicht 7 Schritt hoch – unglaublich! Zwei riesige weiße Zähne ragten aus seinem Maul, das uns locker in einem Haps verschlucken könnte. Mit der Unterstützung des Gunuths gelang es uns, den Schlitten wieder aufzurichten. Das Riesenwalross beobachtete uns dabei aufmerksam. Wir hatten es aufgeweckt, doch anscheinend zögerte es noch, uns anzugreifen. Wir kletterten auf den Schlitten und beeilten zu, möglichst viel Schnee zwischen uns und das Ungetüm zu bringen. Ich sah noch, wie es sich davon schleppte und in einem riesigen Wasserloch verschwand.

Der Schneefall ließ endlich nach und wir suchten einen Lagerplatz für die Nacht. Anneliese hatte die glorreiche Idee, getrocknete Gunuthkacke als Brennmaterial zu verwenden. Es stank fürchterlich, spendete uns aber bitter nötige Wärme. Das ganze kam aber zu einem Preis. Ein Alwe mit gelb leuchtenden Augen näherte sich dem Lager. Er hatte eine Glatze und sein Oberkörper war entblößt – doch die Kälte schien ihm nicht das Geringste auszumachen.

Illarion erkannte ihn: „Das ist Ferylion Frostwandler, der Eremit, der einsam durch die Eiswüste wandert.“

Wir boten ihm Brot an, das er gerne entgegennahm. Wir fragten den Schweigsamen, ob er etwas Ungewöhnliches gesehen hätte. Er nickte: „Ja, etwas ist nach Norden geflogen.“

Widun blickte ihm tief in die Augen. „Auch ich bin auch ein Priester, ein Wanderprediger des Schratenherrn. Sagt, ihr steht doch ihn enger Verbindung zur Frosthirtin, habt ihr eine Unruhe gespürt?“

Widun hatte das Eis gebrochen und der Frostwandler wurde gesprächiger. „So ist es, etwas hat sie aufgewühlt! Ich habe seltsame Geschöpfe gesehen, von denen ich dachte, sie seien schon lange ausgestorben: Eisthursen, das sind Frostriesen mit mehreren Köpfen – doch sie hatten untote Augen!“

„Wisst Ihr etwas über den Frostkönig?“, fragte Widun weiter.

Die Augen des Frostwandlers blitzen auf. „Sein Grabmal liegt im Norden, gar nicht weit von hier. Er brachte damals Unheil und Tod über ganz Korilion. Er erschuf die Draugen, diese Plage, die uns bis zum heutigen Tage heimsucht!“

Der Frostwandler stand auf. „Ich muss weiterziehen, Nivie ist in Aufruhr, sie ruft nach mir!“ Doch bevor er ging, faltete er die Hände und segnete uns. „Nivie möge euch auf eurer gefährlichen Reise vor Frostschäden schützen!“

Am Morgen rissen die Wolken auf und Alun schenkte uns ein Lächeln. Widun tat Buße, er fiel auf die Knie und betete an Mnamn: „Ich habe mehrere Tage keinen Tropfen Geistreiches zu mir genommen – und ich bereue dies zutiefst. Schenke mir weiter deine Gunst, auf dass ich deinen Auftrag erfüllen kann!“ Er trat daraufhin zu mir. „Finn, ich sehe, dass du immer noch unter deinen Verletzungen leidest.“ Er legte mir die Hand auf, und ich spürte, wie mich göttliche Macht durchströmte.

Ich dankte ihm und folgte seinem Beispiel: „Ianna, in dieser Eiswüste habe ich schon lange nichts mehr Grünes und Wachsendes gesehen. Ich werde vereiste Samen aus dieser Ödnis in wärmere Gefilde bringen, sie dort einpflanzen und zum Erblühen bringen.“ Ianna akzeptierte meine Buße und ich, spürte, dass sie mir auch hier – fernab grüner Wälder – beistehen würde.

Ich trat zu Tarkin, der zwar nicht fror, aber immer noch unter alten Verletzungen litt. Ich legte ihm die Hand auf und Iannas Gunst heilte ihn.

Die Sonne schien auf uns herab, als wir mit dem Schlitten über die schimmernde Schneekruste glitten. Alles schien wunderbar zu flutschen, doch da: ein Krachen und der Schlitten musste Halt machen. Solvariel stieg ab und musterte die Kufen. Eine davon war durchgebrochen. Sie schaute uns fragend an, wo sollten wir hier Ersatzteile herbekommen? Wir durchsuchten unsere Taschen und Rucksäcke, doch wir hatten nichts Passendes dabei. Irgendwann musste es hier doch auch einmal Pflanzen oder Bäume gegeben haben. Ich folgte meinem Instinkt und Ianna führte mich zu einer Stelle, wo ich ein ganz schwaches Signal pflanzlichen Lebens verspürte. Ich grub im weichen Schnee – und tatsächlich: hier lagen Zweige! Wir gruben weiter und fanden schließlich einen Ast, der dick genug war, die gebrochene Kufe zu verstärken. Solvariel befestigte ihn mit Sehnen und Birkenpech, das sie kurz über einem Feuer erwärmen musste. „Das hält hoffentlich eine Weile!“, übersetzte Illarion ihren von einem Seufzer begleiteten Kommentar.

Tatsächlich kamen wir ein gutes Stück weiter nach Norden, bis es dämmerte und wir uns einen Rastplatz suchen mussten. Wir hofften auf die Eule und wichtige Informationen zu unserer Mission, doch sie ließ auf sich warten.

Am nächsten Tag kamen wir durch ein Tal mit spitzen Bergen, die wohl auch die Eisnadelspitzen genannt wurden, so zumindest übersetzte uns Illarion den Namen. Hier gab es viele dunkelschattige Bereiche, ich hatte immer das Gefühl, dass dort etwas oder jemand aufs uns lauerte. Und ja, es gab hier Abscheulichkeiten, Kreuzungen von Alwonai und Norgar, auf deren Herkunft und Geschichte Illarion aber nicht weiter eingehen wollte. Ich sah nur Schatten und Schemen, einmal meinte ich, ich hätte ein haariges Wesen mit spitzen Ohren zwischen zwei Eisnadeln gesehen – doch vielleicht war es nur eine Einbildung, hervorgerufen von der klirrenden Kälte, die unser dauerhafter Begleiter und eisiger Prüfer war.

Wir gelangten an den Fuß eines breiten Berges und vernahmen ein Flattern und schließlich die Rufe einer Eule. Sie hatte uns tatsächlich gefunden und sie trug eine Nachricht bei sich. Illarion übersetzte: „Sie bestätigen, dass Halorcon mit den Geächteten zusammenarbeitet, er hat wohl die Absicht den Frostkönig wiederzuerwecken! Sie wissen auch nur, dass die Feenenergie in Gemmen gebunden werden kann. Noch die Information, dass sich Halorcon hervorragend mit Nekromantie auskenne. Sie schicken Verstärkung los, jedoch keine große Armee sondern kleine Gruppen, um die Abtrünnigen zu verwirren. Auch Berdaw Dunn, der valoreanische Thronfolger, sowie Lorik und Hasabi sind unterwegs mit einem Schlitten.“

Hier wechselte das Wetter schnell: erste Flocken fielen, der Schneefall wurde immer dichter und verstärkte sich schließlich zu einem richtigen Schneesturm. Wir beeilten uns, einen Unterschlupf zu finden. Tatsächlich fanden wir eine Berghöhle, von einem Bewohner keine Spur. Vivana traute sich etwas tiefer in die Höhle hinein und fand einen Fellhandschuh. Ein alter Alwenhelm lag hier auch herum, sie schenkten ihn mir.

Am nächsten Morgen mussten wir uns aus der Höhle ausgraben. Es schneite immer noch und es würde schwierig werden, voranzukommen. Wir gelangten an unser Ziel: das Tal der Eisriesen. Hier waren mehrere Stellen vom Schnee befreit worden und zeigten sich aus der Ferne als braune Flecken. Weiße Krähen kreisten krächzend darüber. Als wir näherkamen, entdeckten wir in der Umgebung Fußspuren, einige davon waren riesig. Aus der Nähe konnten wir sehen, dass jemand an den schneebefreiten Stellen tiefe Erdlöcher ausgehoben hatte. Vivana konnte nicht anders: sie schlang sich ein Seil um die Taille, band es am Gunuth fest und ließ sich hinab. Am Boden glitzerte ein Anhänger im Sonnenlicht, der aber eine so negative und unheilvolle Energie ausstrahlte, dass selbst Vivana ihre Finger davon ließ. Sie hatte aber ein paar Getreidesamen mit an die Oberfläche gebracht, die ich gerne an mich nahm – ich würde die gefrorenen Samen irgendwo im Süden einpflanzen und sie zu neuem Leben gedeihen lassen.

Vivana wischte sich die erdigen Hände am Gunuth ab. „Diese Medaillons waren aus Messing, also nicht wirklich wertvoll, aber da waren Riesen mit vielen Köpfen eingraviert“, berichtete sie.

Illarion erschauderte und wirkte noch blasser als sonst. „Thursen! Das müssen ihre Gräber gewesen sein - und jemand hat sie aufgeweckt!“

Wir überlegten, wie wir weiter vorgehen sollten. Es gab jetzt also auch noch riesige Zombies, die Halorcon unterstützten. Der Magier war geschwächt und verwundet, konnte außerdem auf einem Fuß nicht richtig laufen. Wahrscheinlich schleppten jetzt diese Thursenzombies den gefährlichen Bottich mit Feendestillat! Es blieb uns nichts anderes übrig, wir mussten hinterher. Der Schneesturm hatte leider weitere Spuren verweht, doch Illarion ließ den Leitwolf die Fährte aufnehmen. Die Krähen begleiteten uns krächzend. Tarkin sabberte bei ihrem Anblick, doch sein Speichel gefror, sobald er aus seinem Mund trat. Jetzt sah er selber aus wie ein Walross. Vivana und ich schossen nach ihnen – erfolglos. Aber zumindest schienen sie begriffen zu haben, dass sie unerwünscht waren.

„Aber wir haben kaum noch etwas zu essen!“, jammerte Tarkin – und er hatte Recht. Bei der Begegnung mit dem Riesenwalross hatten wir wohl unbemerkt einen großen Sack mit Proviant verloren. Illarion wusste, wo das Grab des Frostkönigs lag und die Fährte führte in diese Richtung. Wir brauchten also noch Verpflegung für mehr als eine Woche.

„Wenn man vom Mammut spricht!“, rief da Anneliese aus. Illarion und Solvariel griffen sich an den Kopf, sie konnten nicht glauben, dass wir unter diesen Umständen jetzt auf Mammut-Jagd gehen wollten. Tarkin ließ einen Schlachtruf erklingen, der unsere Moral stärken sollte, doch das Mammut wurde dadurch auf uns aufmerksam und trabte auf uns zu. Tarkin versteckte sich schnell hinter einem Felsen. Vivana gab Solvariel und mir etwas von ihrem Pfeilspitzengift ab, damit würde das Mammut nur gelähmt werden, das Fleisch würde dadurch aber nicht vergiftet. Anneliese zauberte mehrfach „Dünne Luft“ und nahm dem Mammut damit Schnelligkeit und Kraft, von ein paar vergifteten Pfeilen gespickt, sank es direkt vor uns zu Boden. Wir nahmen uns Stoßzähne, Felle und zehn Rationen Mammutfleisch – das sollte für die weitere Reise mehr als ausreichend sein!

Wir fuhren weiter und wären in der Abenddämmerung beinahe in einen Abgrund gestürzt, hätten Solvariel und die Insassen nicht so vortrefflich reagiert und durch Gewichtsverlagerung den Absturz in die Gletscherspalte im letzten Moment verhindert. Schnee spritzte auf und fiel in die Tiefe, Solvariel hielt den Schlitten an, so dass wir durchatmen konnten. Knut trabte mit unbekümmerten Reitern an uns vorbei. Um nicht doch noch im Dunkeln in eine Spalte zu stürzen, machten wir Halt in der Nähe einiger Hügel. Die Nacht war sternenklar, was aber mit klirrender Eiseskälte einherging. Da wir kein Feuer entfachen wollten, kuschelten wir uns an die friedlichen Gunuths.

Am nächsten Tag stießen wir auf Trampelspuren einer Gunthherde. Es war keine große Herde, doch Knut konnte nicht anders, als in seiner Rüstung den Leitbullen herauszufordern. Nach einem kurzen Ramm- und Kopfstoßduell war Knut der neue Leitbulle und wurde von zehn Gunuths verfolgt, davon vier Kühe und sechs Jungtiere. Wer wusste schon, wofür wir diese noch brauchen konnten – immerhin erwartete uns ein übermächtiger Feind. Wir folgten der Gletscherspalte vom Vorabend, die uns beinahe zum Verhängnis geworden wäre, und kamen an eine Stelle, an der Schmelzwasser in Form eines Wasserfalles in die Tiefe stürzte. Ein Gletscherfluss schnitt uns den direkten Weg zum Grab des Frostkönigs ab, sodass wir einen Umweg machen mussten. Der Fluss erweiterte sich zu einem See, auf Eisschollen trieben Walrosse, diesmal allerdings mit normalen Ausmaßen – eine Überquerung schien hier unmöglich.

Wieder schlug das Wetter um – ein Schneesturm zog auf, diesmal so heftig, dass ich kaum drei Schritt weit sehen konnte. Wir ließen uns in einem Notlager einschneien, doch am nächsten Morgen mussten wir feststellen, dass die Gunuths - einschließlich Knut - weg waren: sie hatten sich wohl irgendwo vor dem Sturm in Sicherheit gebracht.

Die Alwen sahen uns ungläubig dabei zu, wie wir darüber diskutierten, ob wir die Gunthherde wieder einfangen oder doch lieber schnell zum Frostkönig weiterziehen sollten. Wir einigten uns darauf, die Gunuths zu suchen. Die Frostwölfe nahmen deren Fährte auf und wir fuhren nach Nordosten, den Gletscherfluss entlang. Plötzlich rumpelte es hinter mir. Ein großer Schneeball hatte den Schlitten getroffen. Ich schaute mich um: Auf einem Hügel standen haarige Wesen und bewarfen uns weiter mit Schneebällen.

„Schneetrolle!“, erklärte Illarion. „Wir lassen sie besser in Ruhe.“

Die Dämmerung brach herein. Auf einer Anhöhe erstrahlte fahlblaues Licht, das von einer Ruine ausging. Doch wir waren nicht in der Stimmung, irgendeinem blauen Leuchten nachzugehen, wir wollten unsere Herde zurück! Wir fanden sie an einem Berghang weidend, an dem die Schneedecke dünn war und tatsächlich ein paar grüne Halme hervorstanden. Das Nachtlager war schnell aufgeschlagen und die Wachen verteilt. Leider wollte uns jemand um den verdienten Nachtschlaf bringen. Vivanas wachsame Augen hatten sie zum Glück rechtzeitig entdeckt - lästige Schneetrolle, drei von ihnen kamen frontal aufs Lager zu. Ich hörte die Schreie eines Gunuth-Jungtieres, dass sie wohl gerissen hatten. Tarkin schwang sich auf Knut und fegte direkt einen von ihnen über den Haufen. Ich schnappte mir meinen Kurzbogen und spickte einen von ihnen mit einem Pfeil. Die Schneetrolle drängten auf Tarkin ein und verletzten Knut – wir mussten ihnen zu Hilfe kommen! Widun legte seine Hände auf einen Fels und ließ Mnamn durch ihn sprechen – das versetzte die dummen Schneeballwerfer in solche Panik, dass sie sich umgehend trollten. Von Vivana mehrfach motiviert, betete ich an Ianna und heilte den armen Gunuthbullen.

Unausgeschlafen ging es weiter auf Schlitten und Knut mit Gunuthherde im Anhang. Im Norden wölbte sich uns eine unüberwindbare Bergkette entgegen, davor lag ein Tal und darin eine stattliche Festung, die von einem tiefen Graben umgeben war.

„Die Festung und Ruhestätte des Frostkönigs“, erklärte Illarion. Im Tal entdeckten wir Schlittenspuren, die aus südlicher Richtung kamen. Als wir den Graben umrundet und ein Tor im Osten entdeckt hatten, hörten wir Kampfgeräusche. Ich zählte elf Geächtete, die sich durch ihre dunklen, zerfetzten Umhänge leicht von den vier Primarenkriegern unterscheiden ließen. Illarion zückte sein Schwert, Solvariel spannte ihren Bogen - und wir stürzten uns in den Kampf an der Ostpforte. Die Primarenkämpfer waren unterlegen und zogen sich zurück, nachdem wir für sie einen Fluchtkorridor geöffnet hatten. Die Fernkämpfer schossen Pfeile, Widun sprach durch den Stein, und brachte dadurch zumindest einen der Geächteten dazu, zu fliehen. Ich betete an Ianna und konnte einen der Gegner mit einem Dornenstich verletzen. Den größten Anteil an unserem Sieg hatten jedoch Knut und seine Gunuthherde. Die gewaltigen Gunuthkühe trieben die Abtrünnigen zurück. Ich schiebe es auf Kälte und Erschöpfung, dass ich mich nicht an viele Einzelheiten dieses Kampfes erinnern kann – doch die Flamme des Sieges lodert hell.

[Runde vom 11.10.25 mit Anneliese, Finn, Tarkin, Vivana, Widun]

Freitag, 29. August 2025

Die Göttin von Qanat - Kapitel 3: Die Auswahl


Die Sonne versank lila hinter dem Hilamatgebirge wie ein Auge, das sich müde schließt. Jetzt kehrten die Bauern, Handwerker und Händler nach Hause zurück, um dort mit ihrer Sippe das Nachtmahl einzunehmen. Einige Gestalten, auf die niemand wartete, oder aber gerade weil die Familie zuhause wartete, kehrten an Orten wie dem Schwankenden Kamuhli ein, das dadurch zu einem Sammelbecken für einsame Karawanenhändler, frustierte Männer und auch von der Wüste angespülten Abschaum wurde.

Der Riese, eine gebeugte, in mehrere Schichten überlappender Lumpen gehüllte Gestalt, blickte von der Galerie der Taverne auf den Schankraum hinab. Unter dem rußgeschwärzten Dach hingen die Gerüche der ranzig schwitzenden Leiber und der süßliche Rauch der Wasserpfeifen. Suchend wanderten seine Augen zwischen den Zechenden und Schmockenden hin und her: Wo, wenn nicht hier, würde er fündig werden?
An einem der Tische brandete Frohsinn auf. Ein speckiger Mahudi hatte gerade eine Runde vergorene Fantenmilch ausgegeben. Mit seiner tiefen Stimme gab er Witze zum Besten.
"Ich war beim Medizinmann. Er sagte: 'Du bist zu dick!' Da hab ich gesagt: 'Ich will da zweite Meinung!' Da sagte er: 'Hässlich bist du auch!'"
Einer der Männer am Tisch, ein dürrer, schrumpeliger Mahudi mit wallend weißem Haar und einem letzten Zahn im Mund, war vor Lachen kaum einzukriegen. Er schlug mit seinem Humpen auf den Tisch -- bis er schließlich mit dem Stuhl umkippte.
Abseits des lustigen Treibens, in einer Ecke des Schankraums, erkannte die Gestalt zwei Scharalemm, die sich Kaktusgeist genehmigten. Auch sie schienen etwas zu feiern, allerdings deutlich verhaltener als der Speckbäuchige. Sie blieben für sich und kümmerten sich nicht um die anderen Gäste. In dieser Mördergrube scheute es keiner, seine Waffen offen zu tragen: Der bronzehäutige Mann jonglierte mit einem eleganten Dolch in Form einer Kobra. Eine Narbe, die sich schräg über seinen Schädel zog, entstellte das sonst ebenmäßige Gesicht. Im Gegensatz zu vielen Männern seines Volkes trug er die pechschwarzen Haare kurz. Die Frau neben ihm war gertenschlank und trug ihr langes schwarzlila schimmerndes Haar in zahlreiche Zöpfe geflochten. Ihre von der Sonne der Blutwüste gebräunte Haut schien makellos und glänzte vom Arganiaöl im flackernden Licht der Talgkerzen.

Schirin strich ihrem Trinkgenossen über das Gesicht und berührte seine Brandnarbe. "Jasir Elnoor, was bist du doch für ein gut aussehender Kerl!"
"Schirin, lass das!", protestierte Jasir. "Du hattest zu viel von dem Kaktusgesöff!"
"Und du noch nicht genug!" Sie winkte der Schankmaid zu. "He, Mädchen, nochmal zwei!" Dann griff sie unter den Tisch -- und holte einen Sack hervor. Dieser hatte die Größe einer Melone.
Jasir starrte sie ungläubig an, da sie begann, ihn hochzuschleudern und wieder aufzufangen.
"Pack den wieder weg!", sagte er mit gedämpfter Stimme. "Ich möchte hier keine unnötige Aufmerksamkeit erregen!"
 "Pah, die sind doch alle gebannt von meinem dicken Retter da drüben." Jasir warf ihr einen fragenden Blick zu, doch Schirin beachtete ihn nicht und spielte weiter mit dem Sack.
"Leg ihn sofort wieder unter den Tisch!", fuhr Jasir sie jetzt erbost an.
"Rafiq, was regst du dich denn so auf?" Schirin gehorchte widerwillig. "Du hast ihn doch abgeschnitten!"
"Ja, weil du es nicht konntest, Makib!", konterte Jasir.
"Aber --" Schirin schlug auf den Tisch. "Du hast mich im Stich gelassen! Ich hätte tot sein können -- mein Kopf dröhnt immer noch!"
"Hab ich das?", Jasir stand auf. "Du hast doch die Ratte entwischen lassen, wenn ich ihm nicht gefolgt wäre, wäre der Ring längst in der Wüste!"
"Wäre, wäre ... und wenn ich nicht gewesen wäre, hättest du das Versteck nie gefunden!" Schirin stemmte sich am Tisch hoch. "Muffrat konnten wir ja nicht mehr befragen, ich meine --" Sie bückte sich schwankend und hielt noch einmal den Beutel hoch.
"Ja, das Ghaffra hast du entdeckt, ich gebs ja zu!" Jasir setzte sich wieder. "Wo ist überhaupt der Ring?"
Sie zeigte ihm ihre linke Hand: Am Ringfinger blitzte ein Ring, der über und über mit schwarzen Edelsteinen in Form einer Mondsichel besetzt war.
"Du sollst ihn doch nicht am Finger tragen!", schimpfte Jasir. "Wenn Zarazar das wüsste!"
"Wenn du mich nicht verrätst --", sagte Schirin.
"Das ist kein Spaß!", sagte Jasir mit ausdrucklosem Gesicht. "Du weißt doch wie aufgebracht der Amir war, als er uns losgeschickt hat!"
"Ich wollte mich wenigstens einmal wie ein Gildenmeister fühlen, lang genug bin ich nur die Sklavin gewesen und musste stumpfsinnige Befehle befolgen." Schirin betrachtete ihre Hand mit feuchten Augen. "Am liebsten würde ich den Ring für mich behalten!" 
"Dann wärst du nicht besser als Muffrat, dieser Keffar!"
"Wie kann jemand auch so blöd sein und denken, damit ungeschoren davonzukommen?"
"Ich glaube er war verzweifelt, wollte den Ring einem Einäugigen verkaufen, bei dem er Kaffra hatte", vermutete Jasir.
"Kaffra?" Schirin schielte ihn an.
"Bin ich dein Wörterbuch?" Jasir griff sich an die Stirn.
"Kaffra: das sind Ehrenschulden. Lern endlich Gildenwelsch!"
"Aber warum den weiten Weg bis hierher, Qanat ist doch total abgelegen."
"Ja, und deshalb natürlich ein gutes Versteck für Verräter wie ihn!"

Der Riese war sich sicher: er hatte neue Werkzeuge gefunden. Er erhob sich aus seiner vornübergebeugten Haltung. Aufgerichtet erreichte sein Kopf die zweieinhalb Schritt hohe Decke. Er stapfte schwerfällig die Treppe zum Schankraum hinab. Dort drängte er mit seinen dicken Armen die Zechenden zur Seite und suchte sich einen Platz im Schatten der Treppe. Dann winkte er mit seiner Pranke von einer Hand die Schankmaid herbei. Die blonde Halbschratin war geradezu starr vor Schreck, als der Riese sie ansprach. "Mädchen, ich habe einen Auftrag für dich. Siehst du die beiden Scharalemm da hinten? Bevor du ihnen ihren Kaktusgeist bringst, tropf das hier in ihre Gläser!"
Seine heisere Stimme, die nie so recht zu seiner riesenhaften Gestalt passen wollte, flößte der Schankmaid offenbar so große Angst ein, dass sie am ganzen Leib zitterte -- zwei Humpen fielen ihr klirrend zu Boden. Das Bier bildete eine Lache, die jeden Mnamnprediger um den Verstand gebracht hätte.
Der Lärm im Kamuhli übertönte alles: keiner hatte das Missgeschick bemerkt. Der Riese holte ein kleines Fläschchen aus seinem Lumpenmantel hervor und streckte es ihr entgegen.
"Wenn du mir gehorchst, soll es dir nicht schlecht ergehen!"
Schlotternd ergriff die Schankmaid die Phiole. Dann legte der sitzende Riese ihr seine schwere Hand auf die Schulter. Erstaunlicherweise beruhigte sich dadurch ihr Zittern. Der Riese griff erneut in seinen Mantel und holte diesmal einen Beutel hervor. Er schüttelte ihn -- trotz des Lärms klimperte es der Schankmaid in den Ohren und sie nickte.
"Wenn sie es getrunken haben, schick sie hoch ins achte Zimmer. Sag ihnen, dass dort ein Auftrag auf sie wartet, einen den sie nicht ablehnen können..."

Auch wenn Schirins Blick etwas verschwommen war,  hatte sie sehr wohl  den Riesen bemerkt, der da von der Galerie herunter hatte und sich jetzt an einem der Tische niederließ. Dieser Riese passte nicht hierher -- und wie ging er mit der armen Halbschratin um? Diese Lumpen? Sie kamen ihr seltsam bekannt vor, aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein, schließlich hatte sie einen heftigen Schlag auf den Kopf bekommen -- und diesen auch noch ordentlich betäubt. Auf jeden Fall hatte er die kleine Schankmaid ganz schön erschreckt.
Jene verschwand gerade hinter dem Tresen und kehrte mit zwei Schnapsgläsern zurück. Schirin fiel auf, dass sie zitterte, als sie den beiden den Kaktusgeist reichte. Sie verschüttete etwas davon auf dem Tisch. Schirin bemerkte Jasirs bösen Blick und grinste.
"Mädel, du musst vor ihm keine Angst haben, er ist eigentlich ganz harmlos -- außer, jemand hat ein Kopfgeld auf dich ausgesetzt!"
Die Halbschratin schluckte, drehte sich schnell weg und verschwand im Gedränge.
"So, und jetzt trink deinen Schnaps, damit das heute noch was wird mit uns beiden", forderte Schirin.
Jasir schüttelte den Kopf -- und schob den Schnaps ans andere Ende des Tisches, sodass ein Teil davon auf den Tisch schwappte "Ich bin dein Rafiq. Und ich rate dir: schütte den Schnaps weg, er vernebelt deine Sinne!"

Schirin zuckte zusammen als die Tavernentür aufflog und die Talgkerzen aufflackerten. Das Gelächter und der Frohsinn wurden augenblicklich erstickt; es war totenstill im Schwankenden Kamuhli. Ein dutzend Fackelträger marschierte in die Taverne ein und drängte den Pulk zur Seite. Sie rissen die Fenster auf, doch der beißende Rauch wollte nicht weichen.
Ein Tempeldiener schwang ein goldenes Gefäß in Form eines Wüstenfanten und verbreitete damit einen durchdringenden Rosenduft, der sich noch dazumischte. Mit Dornenspeeren und langen Stangenäxten ausgerüstete Tempelwächter folgten ihm. Zuletzt betrat ein hochgewachsener Priester die Taverne. Er trug eine rote Robe, die mit goldenen Wüstenfanten bestickt war. Da sie vorne offen war, lag seine Brust frei, und diese war mit einer Tätowierung Fantalons geschmückt: Amras Lieblingsfant mit den tausend Rüsseln. Für den würde ich auch die Zimmertür auflassen, dachte Schirin.
Der Priester hüstelte: "So kann ich meiner Aufgabe nicht nachkommen!" Er bewegte seine Hände in Schnörkeln und flüsterte: "Utnef hucti icon" -- ein kräftiger Windstoß pustete Gestank und Weihrauch zu den Fenstern hinaus. Die meisten Umstehenden standen da mit offenem Mund, einige begannen zu tuscheln. Magie? Hexerei?, überlegte Schirin. Keiner wagte, etwas laut zu sagen, bis auf den Wirt: "Na, das nenne ich mal einen Durchzug, so gut war hier die Luft schon lang nicht mehr!"
Der rotnasige Schrat kam eilig hinter seinem Tresen hervor und verbeugte sich vor dem Priester. "Es ist mir eine große Ehre, Euch in meiner bescheidenen Taverne zu empfangen. Womit kann ich Euch dienen, Eure Erlauchtigkeit?"
Der Priester entgegnete ihm spöttisch: "Bierbart, ihr Schrate seid viel zu hässlich, als dass Amra je eines eurer Kinder in ihren Schoß aufnähme!"
Mit einem Handzeig ließ er den säuerlich dreinblickenden Schrat entfernen.
Schirin wisperte: "Was ist hier los?"
Als Antwort erhielt sie nur ein einseitiges Schulterzucken von Jasir.

Altahir sah sich die Gesichter der umstehenden Männer an. Er hatte befürchtet, dass er in einer Mördergrube wie dieser keinen Auserwählten für Amras Fruchtbarkeitsfest finden würde. Und tatsächlich blickte er in so manch verstümmelte und vernarbte Fratze, die das Verbrecherleben und der übermäßige Konsum geistreicher Getränke und das Schmocken von Wasserpfeifen gezeichnet hatte. Die Sonne der Blutwüste hatte ihr Übriges getan und vielen die Haut verdorrt und tiefe Falten hinterlassen. Er traf eine grobe Vorauswahl und bedeutete den Wächtern durch Fingerzeig, wen sie nach vorne bringen sollten. Die Auserwählten mussten sich in Reih und Glied aufstellen. Auch eine Brandnarbe und ein speckiger Mahudi waren darunter. Der Amrapriester trat näher und wies nach kurzer Musterung alle bis auf vier wieder zurück.
"Gnade dir große Göttin. Ich bin Altahir, Amras Beschauer und hoher Diener. Einem von euch soll bald eine große Ehre zuteilwerden. Damit die Göttin ihre Wahl treffen kann, legt ab!"
Der Scharalemm hatte endlich aufgehört zu grinsen. "Meint er das ernst?"
"Wenn du es nicht mit der ganzen Tempelgarde aufnehmen willst, tu lieber was er sagt!", flüsterte ihm eine junge Frau zu. "Ich bin übrigens auch neugierig!"
Nach einem strengen Blick der Wächter legte der Scharalemm seinen Kobradolch auf den Boden.

Hoda trug ein Wurbeil mit aufwändiger Maserung in der Hose, das er nur mit Widerwillen hervorholte.
"Die Peitsche auch!", verlangte ein Tempelwächter.
"Sie ist doch keine Waffe -- sie ist mein verlängerter Arm!", protestierte er. Er fügte sich jedoch, als ihn die Spitzen von drei Dornenspeeren anfunkelten.
"Ich meinte nicht nur die Waffen. Legt weiter ab, damit Amra euch beschauen und ihre Auswahl treffen kann!"
Schließlich standen die Männer in ihrer Unterbekleidung vor ihm. Hoda hatte sich den Weiberrock angezogen, den ihm die Scharalemm nach ihrer Rettung zugeworfen hatte. Damit hatte er seine Freunde heute Abend noch überraschen wollen. Er hatte so viel zu feiern, dass es unbedingt ein lustiger Abend werden sollte. Als der einzahnige Jassut, sein alter Freund, den er schon aus Kindertagen kannte, seiner ansichtig wurde, musste sich dieser den Mund zuhalten, drohte dabei aber am unterdrückten Lachen zu ersticken.
"Alles!", forderte der Priester mit Nachdruck. "Nichts darf vor Amras Augen verborgen bleiben!"
"Nicht, dass sie blind wird!" Hoda konnte es sich einfach nicht verkneifen. Sein Freund Jassut war auch nicht mehr zu halten, er bekam Schluckauf und wälzte sich dabei vor Lachen über den Boden.
Der Amrapriester verstand offenbar nicht so viel Humor und ließ Hoda von zwei Gefolgsleuten die Hose runterziehen.
Äußerlich war Hoda die Ruhe selbst, doch innerlich brodelte es in ihm: vor seinem geistigen Auge schlug er einem der Wächter die Nase blutig und trat dem anderen in die Weichteile.
"Wie heißt du?", fragte ihn der Priester.
Er musste mit sich ringen, dann dachte er aber an seine Kinder zu Hause und blickte ins todernste Gesicht des Amrapriesters.
"Ich bin Hoda Dawuhd, Händler der berühmten iskarischen Fantenkarawane!"

Altahir sah sich seine Auswahl noch einmal ganz genau an.
"Zeigt eure Zähne!", forderte er die Männer auf.
Er ging die Reihe durch und prüfte jeden noch einmal von Kopf bis Fuß. Von diesem Hoda schlug ihm ein fantenbeinweißes Lächeln entgegen, während das Gebiss seines Nebenmannes vom täglichen Schmocken eine deutliche Gelbfärbung zeigte. Der Mahudi hatte eine Glatze und einen runden Kopf, der Scharalemm hingegen kurze schwarze Haare und ein langes Gesicht. Aus ihren Augen konnte Altahir herauslesen, dass Hoda bereits viele Kinder hatte und der Scharalemm ein Einzelgänger war, außerdem trug er die Tätowierung einer Dunkelsichel auf dem Arm -- so jemanden konnte er bei der Opferung nicht gebrauchen. 
"Das genügt! Zieht euch wieder an! Amra hat ihre Wahl getroffen!"
Altahir ging auf Hoda zu und übergab ihm eine kleine Amphore in Form eines Wüstenfanten: ein Henkel war der Rüssel, der andere der Schwanz. Ein weiterer Diener gab ihm einen roten Seidenmantel.
"Du wirst ab jetzt keine geistreichen Getränke mehr zu dir nehmen und dir nicht mehr die Sinne mit Pfeifenrauch vernebeln. Spare deine Samen auf. Du wirst dich grob rasieren -- und damit meine ich auch die Haare unten! Die Feinheiten werden die Tempeldienerinnen übernehmen. Anschließend reibst du dein Gesicht mit dem heiligen Öl der Amra ein! Zieh diesen Mantel an und erscheine morgen zur ersten Abendstunde völlig nüchtern vor dem Tempeleingang!
Dir und den anderen sieben Auserwählten werden weltliche Genüsse und Freuden zuteilwerden, wie ihr sie euch nicht erträumen könnt!"
Der Mahudi wirkte plötzlich nachdenklich. "Wo ist der Haken?"
"Es gibt keinen Haken!", versicherte ihm Altahir, obwohl er genau wusste, dass das gelogen war. "Du spendest deine Samen der Göttin der Liebe und gehst danach deiner Wege."
Nach diesen Worten verließ der Priester mit seiner Prozession die Taverne.

Die Gelage im Schwankenden Kamuhli konnten weitergehen. Um seine Kränkung vergessen zu machen, verteilte der Schratenwirt Freibier. Jasir hatte sich mittlerweile wieder angezogen. Schirin beobachtete ihn von hinten.
"Hast einen strammen Hintern!", konnte sie sich nicht verkneifen. Was ihr aber viel mehr ins Auge gestochen war, war die Dunkelsichel, die auf Jasirs linkem Oberarm prangte. Wie sehr ich ihn dafür beneide. Ich will auch dazugehören, um jeden Preis! -- Oder?
"Auch wenn du heute den Schönheitswettbewerb verloren hast, meine Tür steht dir jederzeit offen." Sie zwinkerte ihm zu. Das hatte sie zwar jetzt so leichtfertig unter dem Einfluss der Schnäpse gesagt, als sie aber an ihre Narben dachte, entschied sie, die Tür doch abzuschließen.
Jasir schüttelte den Kopf und wollte wohl etwas Schlagfertiges erwidern, als plötzlich die Schankmaid vor ihnen stand.
Die Halbschratin räusperte sich: "Ähm, ich soll euch sagen, dass im achten Zimmer jemand auf euch wartet, jemand der einen Auftrag für euch hat und gut bezahlt."
Sie folgten der Schankmaid bis zum oberen Treppenabsatz. 
"Da hinten links, es ist das letzte Zimmer." Sie verabschiedete sich und wäre um ein Haar die Treppe hinuntergestürzt, wenn Schirin sie nicht noch rechtzeitig abgefangen hätte.
"Danke", plärrte die Schankmaid.
Schirin ließ sie wieder los. "Trink auch mal einen Schnaps, du bist ein ganz schönes Nervenbündel!"

Die Göttin von Qanat - Kapitel 2: Die Mutter

Zama war gerade aufgegangen, seine Sichelform tauchte den Turm des Amratempels in silbernes Mondlicht. Der Turm war fantenbeinweiß, nur die goldene Kuppel setzte sich ab. Sie war verkrustet mit dem Reichtum tausender Juwelen und blitzte in allen erdenklichen Farben. Ein Balkon umrundete das oberste Geschoss mit seinen runden Fenstern, aus denen Kerzenschein drang und mit dessen blütenweißen Vorhängen der erkaltende Wüstenwind spielte.

Hinter den Fenstern langweilte sich Talamrah, die Hohepriesterin von Qanat. Sie blätterte in einem alten Buch, bis sie auf etwas stieß, dass ihr ein grimmiges Lächeln ins Gesicht trieb. Ihr Herz war durstig, ihre Aura geschwächt, doch bald würde sie wieder zu neuer Kraft erblühen. Sie wusste bereits, was sie als erstes ausprobieren würde. Sie strich sich durch ihre verdrehten weißen Haare und ging dann rüber zu einem kleinen Beistelltisch. Dort öffnete sie eine Schublade und betrachtete deren Inhalt. Zwei Spiegel lagen darin: ein juwelenbesetzter Handspiegel und ein zersprungener Taschenspiegel. Warum habe ich den eigentlich noch? Dieser kaputte Spiegel erinnerte sie nur an ihre Vergangenheit, eine Vergangenheit, in der sie entstellt und hässlich gewesen war. Sie nahm den goldenen Spiegel und betrachtete sich lange darin: ihre weiße, unbefleckte Haut, ihre lila leuchtenden Augen.

Als die Tür aufging, ließ sie den Spiegel schnell wieder in der Schublade verschwinden. Altahir, ihr treuer Gefolgsmann, betrat das geheime Obergeschoss des Turmes. Er war ihre Verbindung nach draußen, was würde sie ohne ihn tun?

"Gnade Euch, große Göttin" Er verbeugte sich und bemerkte dabei das aufgeschlagene Magiebuch.

"Ich wünschte, ich hätte Zeit für eine weitere Lektion, doch ich fürchte, ich muss Euch über ein kleines ... eine Nichtigkeit eigentlich ... in Kenntnis setzen."

"Altahir, du weißt, dass du offen sprechen darfst!" Sie berührte sein Kinn und zog ihn daran sanft in die Höhe.

"Die Bevölkerung wird immer aufsässiger. Gute Worte haben nicht mehr ausgereicht, die Leute zu bewegen, Qanat auf das Fruchtbarkeitsfest vorzubereiten. Teils kam es zu Handgreiflichkeiten, ein Gardist wurde dabei verletzt."

Talamrah blickte ihn mit ihren leuchtenden Augen an -- und seufzte. "Diese Menschlein, sie wissen gar nicht, wie gut sie es eigentlich haben. Du weißt, wie du mit Aufässigen zu verfahren hast?"

Altahir nickte, konnte dabei aber Talamrahs stechendem Blick nicht länger standhalten und wich in eine der Ecken des Gemachs aus. Dort hockte eine Fantenstatue, die anklagend mit ihrem Rüssel auf ihn zeigte.

"Wie steht es aus, mein Beschauer, hast du acht freiwillige Spender gefunden?", fragte Talamrah.

Altahir senkte den Kopf. "Das ist die andere Kleinigkeit ... ein Spender fehlt noch!"

"Du weißt genau, es müssen acht sein -- immer acht!", polterte Talamrah. "Kümmer dich darum, am besten sofort! Das Ritual kann nicht stattfinden, wenn die Zahl nicht stimmt!"

Altahir, der die Insignien eines Amrapriesters trug, sich aber nicht mehr sicher war,  wem er wirklich diente, verbeugte sich erneut. "So soll es sein, meine Göttin!"

Er verließ ihr Gemach.

Talamrah sortierte ihre Haare und flegelte sich dann auf ihren Diwan.

"Bringt mir ein Kind!", wies sie die Kammerdiener an, die hinter den Wandteppichen auf ihre Befehle warteten. "Ich langweile mich zu Tode!"

"Tu es nicht, ich flehe dich an! -- Was können die Kinder für deine Langeweile?" Talamrah war klar, dass sich die Stimme melden würde. Immer wenn sie sich aufregte, konnte sie ihr Bewusstsein nicht länger abschirmen und die Stimme fand eine Lücke, in ihren Kopf zu dringen.


Die Leibwächter kamen in die Kinderstube und verbanden ihr die Augen. Jemina wusste, was das bedeutete. Sie war schon mehrfach bei der Mutter gewesen, um ihr eine Geschichte vorzutragen. Aber diesmal kam das völlig unerwartet, sonst hatte sie immer Zeit bekommen, sich vorzubereiten. Als sie die Dunkelheit umhüllte, begann ihr Herz wie wild zu bubbern. Es ging die Treppen hinauf, durch die Bibliothek, das konnte sie riechen. Sie liebte den Geruch des alten Papiers und der Ledereinbände. Wie viele Stunden hatte sie schon schmökernd hier zugebracht. Wenn jemand zur Mutter wollte, mussten alle die Bibliothek verlassen. Jemina wusste, dass niemand den geheimen Schalter sehen sollte, der den Weg hinauf zum Gemach der Mutter freigab. Nur ihre Leibwächter und engsten Vertrauten wussten um die Vorrichtung. Sie hörte ein Klicken, dann ein Rattern. Dann ging es noch eine kleine Treppe hinauf. Jemina erschnupperte den Duft von Wüstenrosen. Nach einem erneuten Rattern und Klicken wurde ihr die Augenbinde abgenommen. Sie blinzelte. Die Mutter erhob sich von ihrem Diwan, sie zog ihre verdrillten Haare wie eine Schleppe hinter sich her. Jemina kniete sich nieder und faltete ihre Hände. Sie spürte, wie ihr Mund austrocknete, ihr Hals sich zuzog und ihr kleines Herz Saltos machte. Sie musste sich räuspern.

Die Mutter strich ihr durch die dunklen Haare. Ein kalter Schauder jagte ihr den Rücken hinunter, so dass sich die feinen Härchen in ihrem Nacken aufrichteten. Das Mädchen blickte zum Springbrunnen: das Plätschern des Wassers ließ Jemina ihre trockene Kehle nur um so schmerzlicher spüren. Die Mutter ließ sie los und kehrte zu ihrem Diwan zurück. Dabei rollte sie ihre langen Haare auf und bettete diese dann auf ein goldenes Kissen am Boden.

"Trage vor, mein Kind!", forderte die Mutter.

Jemina war schon lange klar, dass die sich auf dem Diwan rekelnde Frau nicht wirklich ihre Mutter war, dennoch musste sie von allen Amrakindern so genannt werden.

"Mein Kind, du wolltest mich doch mit einer deiner Geschichten beglücken. Warte nicht zu lange! Unsere Göttin verzehrt sich danach."

"Mutter, kennt Ihr die Geschichte...", fragte Jemina zögerlich. "Kennt Ihr die Geschichte vom Kamuhli und dem Dieb? Sie ist sehr alt und kommt aus Beschim." 

"Lass sie mich hören!", befahl die Mutter.

Jemina holte tief Luft. Der Wind spielte mit den bunten Deckenlampen, er ließ sie hin- und herschwanken. Bunte Lichtpunkte tanzten durch den großen Raum, glitten über den mosaikverzierten Boden, den angespannten Nacken des Kindes und über den weißen Vorhang, hinter dem die Mutter lag. Das Kind fühlte sich beobachtet. Da hockten sie in ihren Ecken: Die Wüstenfantenstatuen mit ihren Stoßzähnen und Rüsseln -- diese waren alle auf sie gerichtet. Ihre Stimme bebte, als sie begann, die Worte auszusprechen, die sie neulich in einem alten Buch gelesen hatte. Sie hoffte, dass die Mutter diese Geschichte noch nicht kannte -- ansonsten würde sie ihre Schwestern nicht wiedersehen. So waren die Regeln im Tempel der Amra.

"Ein Kamuhliführer aus Beschim ging einst auf dem großen Karawanenweg und hatte den Zaum seines Kamuhlis in der Hand. Er zog es mühsam hinter sich her. Zwei Diebe aus Irem bemerkten dies.

Da sagte der Jüngere zum Älteren: Ich will diesem Mann sein Kamuhli wegnehmen!

Wie willst du es anfangen?, fragte der Ältere.

Folge mir nur, sagte der Jüngere und ging vorsichtig auf das Lasttier zu.

Er hielt jenem eine Sandmöhre hin - die essen die Kamuhlis am liebsten! - daraufhin senkte es seinen langen Hals. Da nahm der Dieb dem Kamuhli das Zaumzeug ab und übergab es seinem Freund.

Verschwinde mit dem Tier hinter der nächsten Düne!, wisperte er dem Älteren zu.

Dann legte er sich den Zaum selbst über den Kopf und lief dem nichtsahnenden Mann solange hinterher, bis sein Freund und das Kamuhli außer Sicht waren. Der Dieb blieb stehen. Der Kamuhliführer zog am Zaum, aber der Dieb rührte sich nicht. Da drehte sich der Mann um und war erstaunt, als der den Zaum über dem Kopf eines Menschen sah.

Bei Alhun dem Großen, wer bist du?

Der Dieb antwortete: Ich bin dein Kamuhli und muss dir eine wunderbare Geschichte erzählen. Du musst wissen, dass ich eine sehr fromme Mutter habe. Als ich eines Tages betrunken von zu viel Kaktusgeist nach Hause kam, tadelte sie mich:

Mein Sohn! Du musst dich zu Alhun bekehren und nicht den falschen Göttern huldigen.

Da wurde ich zornig und verprügelte sie mit einem Stock. Sie sprach einen Fluch, der mich in ein Kamuhli verwandelte, auf dass ich ewig dürstend durch die Wüste wandeln sollte.

Doch du hast mich einst erworben und seither diene ich dir. Heute hat meine Mutter an mich gedacht und hatte wohl Mitleid mit mir. Deshalb hat Alhun mir meinen Verstand und meine menschliche Gestalt zurückgegeben.

Der Kamuhliführer warf sich auf die Knie und bat den Verwandelten um Verzeihung: Es gibt keine Gerechtigkeit außer Alhun, der ewigen Sonne. Ich beschwöre dich, erlasse mir meine ..."

Jemina konnte das Kratzen im Hals nicht mehr unterdrücken. Ein heftiger Hustenanfall schüttelte sie und erst einige hundert Sandkörner später konnte sie den Satz vollenden: "... meine Schuld!"

Die Mutter schloss kurz die Augen -- dann machte sie eine rasche Handbewegung. Zu beiden Seiten des großen Saales traten Diener hinter den Wandteppichen hervor, nahmen goldene Seile in die Hand und zogen gleichmäßig daran. Die Fontäne erstarb und das Wasser des Brunnens verschwand glucksend zusammen mit der Bodenplatte aus Marmor in der Tiefe. Das Mädchen wagte nicht, sich umzublicken.

Die weißen Vorhänge schlugen Wellen, als eine Windbö durch den Raum blies. Jemina bemerkte tanzende Schatten an den Wänden, die wie Schlangen dem Spiel eines Beschwörers folgten. Ein Windspiel ließ eine seltsame Melodie erklingen. Sie bekam Gänsehaut. Wieder dieser kalte Schauder, der ihr das Rückgrat hinunterlief. Diesmal war sie sich sicher, dass etwas ihren Nacken berührt hatte. Die Luft veränderte sich, etwas Fauliges mischte sich unter den Rosenduft. Das Mädchen wagte es, leicht den Kopf zu drehen: keine Schlangen weit und breit.

Die Mutter blickte sie aus kalt leuchtenden Augen an. Ihre Gesichtszüge verrieten nicht, ob sie erwartungsfroh -- oder enttäuscht war.

"Soll ich dir sagen, wie die Geschichte weitergeht?", krächzte die Mutter.

"Der Dieb will von dem Alten Silberlinge, weil der ihn als Kamuhli geschlagen hat und ihm zu wenig Wasser gab. Der Alte ist natürlich so dumm und gibt es ihm. Dann geht der Alte nach Hause und heult seinem Weib etwas vor. Die Alte ist genauso bestürzt und verteilt Almosen an die Armen, damit ihnen vergeben wird. Weil der Alte nur noch zu Hause rumhängt und vor sich hin heult, schickt ihn sein Weib auf den Markt, ein neues Kamuhli zu kaufen. Da entdeckt er sein eigenes und beschimpft es: 'Hast du dich wieder gegen deine Mutter versündigt? Diesmal helfe ich dir nicht!'"

Die Mutter gähnte, dann verdrehte sie die Augen, nachdem sie noch einmal einen tiefen Zug aus einer goldverzierten Wasserpfeife genommen hatte.

"Alhun mag deine Geschichte gefallen, aber ich habe sie schon tausendmal gehört! Erst ist es ein Esel, dann ein Wüstenfant -- und jetzt ein Kamuhli! Die Geschichte ist immer noch so langweilig wie beim ersten Mal! Schmerzlich vermisse ich das Wirken unserer Göttin in deinen Worten! Du hast sie sehr enttäuscht, doch auch dir wird sie ihre allumfassende Liebe zuteilwerden lassen!"

Jeminas Leib schüttelte sich. "Aber, aber ... mein Hals war so trocken ..." Jemina hing eine Träne im Augenwinkel, die sich nicht lösen wollte. "Ich habe doch gefragt, ob Ihr die Geschichte schon kennt!" Die Träne kullerte herab. "Bitte, bitte ... ich will zurück zu meinen Schwestern". 

Ihr Hals schnürte sich wieder zu, als sie merkte, dass etwas Fremdes, Grausames auf sie lauerte. Wieder die tanzenden Schatten. Sie sah, wie eine alte Tempeldienerin den Kopf senkte, die Augen schloss -- und sich die Ohren zuhielt. Etwas berührte sie. Sie blickte an sich herunter: ein fleischiger Tentakel schlang sich um ihren Bauch. Ruckartig zog dieser an ihr und schleifte sie in Richtung Brunnen. Sie wollte schreien, brachte aber keinen Laut mehr hervor. Der Boden war glatt poliert, sie rutschte wehrlos über die Fantenmosaike mit ihren verschlungenen Rüsseln. Es wurde dunkel um sie herum, ein süßlicher, fauliger Geruch drang ihr in die Nase, doch dann hüllte sie ein Gefühl von Wärme ein -- und Geborgenheit.

Die Mutter starrte auf das Loch, ihr Blick war leer, nur ein kurzes Zucken ihrer Augenbrauen. "Ein Jammer: Sie war eine meiner Lieblinge! Doch die Göttin entscheidet, wen sie in ihren Schoß aufnimmt."

Es folgte das schabende Kreischen der Marmorplatte. Die Fontäne sprudelte wieder, intensiver als zuvor und spritzte über den Rand des Beckens hinaus. Ein schmatzendes Geräusch drang aus der Tiefe und das laute Plätschern des Springbrunnens übertönte schließlich alles andere. Die alte Dienerin kam herbei, verbeugte sich und begann den Boden zu wischen: zwischen dem Kissen, auf dem gerade noch das Mädchen gesessen hatte, und dem Brunnen, unter dem es verschwunden war.

"Ich hoffe, die Beschauer treffen eine gute Wahl: der Göttin verlangt es nach neuen Kindern...", sagte die Mutter mehr zu sich selbst als zu den Dienern.

Sie saugte an ihrer Pfeife und blies genüsslich einen herzförmigen Ring in die Luft: "... und nach frischen Herzen!"

Der Pfeifenrauch durchwehte den Saal, drang durch die Vorhänge und verließ durch ein großes Fenster den Turm der Mutter.

Samstag, 16. August 2025

Die Göttin von Qanat - Kapitel 1: Die Jagd

Die Sonne schnitt scharfe Schatten durch Qanat, eine Oasenstadt, die es eigentlich gar nicht geben durfte, ein grünes Juwel inmitten der ausgedörrten Blutwüste. Seit langer Zeit diente sie den Karawanen als Raststätte, seit zwei Jahrhunderten einem geheimnisumwitterten Amrakult als Spielfläche -- und seit neuestem einem gewitzten Verbrecher als Zufluchtsort.

*

Zwei in dunkle Kapuzenmäntel gehüllte Gestalten standen an der Kante eines Wehrgangs und spähten auf das Gassengewirr hinab. Der Sand der Blutwüste strahlte gegen die Stadtmauer, er hatte in seiner geduldigen Härte bereits Zinnen geschliffen und den Lehm von den groben Steinen geschmiergelt.

"Woran hast du ihn erkannt?", flüsterte Schirin gegen den Wüstenwind, der ihre Frage am liebsten verweht hätte.

"Makib, Zeit für eine Lektion", sagte Jasir. "Ich kenne Muffrat. Er ist schon ewig bei den Dunkelsicheln --"

"Ich kenne ihn bloß als Widerling", warf Schirin ein. "Einmal hat mich dieser Keffar dumm angemacht, wollte sehen, ob ich Brüste habe -- da habe ich ihm eine verpasst!"

"Willst du jetzt was lernen?", fragte Jasir scharf. "Wenn du mich ständig unterbrichst, kann ich dir nichts beibringen!"

Schirin biss sich auf ihre sandspröden Lippen und senkte dann demütig den Kopf.

"Er hat sich zwar als Bettler verkleidet, doch er bewegt sich nach einem Muster, das für jeden Menschen unverwechselbar ist", erklärte Jasir ruhig. "Er ist beleibt, aber geschmeidig, dabei hat er immer die Hände in den Taschen."

Schirin sah auf den zerlumpten Mann in der Gasse hinab und versuchte, den Beobachtungen ihres Rafiqs zu folgen.

"Siehst du, wie er den Kopf vorstreckt und misstrauisch in jede Seitengasse linst?"

Schirin nickte. "Ja, jetzt verstehe ich, warum sie ihn Die Ratte nennen."

"Jalla!" Jasir stieg die lehmgestampften Stufen hinunter. "Nicht dass uns der fette Nager noch entwischt."

Schirin war froh, dass Jasir sie bei ihrem ersten großen Auftrag begleitete. Er war hartgesotten, manche sagten kaltblütig. Für Schirin war er wie ein großer Bruder, -- den sie nie hatte. Dank seiner Erfahrung würden sie Zarazar, den Amir der Gilde, nicht enttäuschen -- und durften es auch nicht. Jener wollte seinen Meisterring zurück, um jeden Preis. Dieser Muffrat -- Was hat ihn nur dazu getrieben, den Ring zu stehlen? Er musste doch wissen, dass Zarazar ihm einen Nazaschin hinterherschicken würde -- ja, und eine Makib dieser tödlichen Kunst noch dazu!

Sicher, Muffrat war weit weg von Sarga-Tull, dem Hauptquartier der Dunkelsicheln, und es war schwierig gewesen, ihn aufzuspüren. Einmal hatten sie sogar die Dienste einer Skiapriesterin in Anspruch genommen, um zumindest die grobe Himmelsrichtung zu erfahren, in der sie suchen mussten. Auf dem Weg durch die brutale Blutwüste waren dann noch ihre Kamuhlis verreckt, weil jene zu dumm waren, eine Wasserstelle zu finden.

Sie hasste Nalschir: diese Ödnis, Sand und nochmals Sand -- jedoch: es gab hier Orte wie diese Oase, reich an Wasser und Palmen, die Schatten spendeten. Vom Prunk des Amratempels mit seinem goldgekrönten Turm und den funkelnden Juwelen war sie sofort angetan -- sie liebte alles, was glitzerte.

"Was will er hier in Qanat?", flüsterte Schirin.

Jasir zuckte mit einer Schulter. "Ich denke, wir werden es bald erfahren."

*

Muffrat eilte durch die engen Gassen. Schirin und Jasir hatten ihre Kapuzen tief ins Gesicht gezogen und hielten sich auf der Schattenseite der Häuser. Von oben hatte sich Schirin ein grobes Bild der Stadt gemacht. Im Zentrum lag der Marktplatz, die Sonne, von der die Gassen gezackt in alle Richtungen ausstrahlten. Einerseits durften sie diesem Keffar nicht zu nahe kommen, andererseits bestand die Gefahr, wenn der Abstand zu groß wurde, dass er in der wuseligen Stadt abtauchte und hinter der nächsten Abzweigung auf Nimmerwiedersehen verschwand.

In Qanat liefen die Vorbereitungen für ein Fruchtbarkeitsfest, das wohl alljährlich zu Ehren der Liebesgöttin Amra veranstaltet wurde. Überall hatten sie lila Stoffbahnen aufgehängt, die über den Gassen flatterten und wabernde Schatten warfen. In Pluderhosen gewandete und mit Waffen behängte Tempelgardisten gaben den Leuten Anweisungen, wie sie alles zu schmücken hatten. Schirin fand, dass die Menschen bei der ganzen Sache nicht sonderlich glücklich aussahen.

Muffrats Pfad führte am Sammelplatz der Esel vorbei zum großen Marktplatz, auf dem die Bauern ihre Waren feilboten. Auf Matten und Tüchern ausgebreitet lagen Sändmöhren mit ihren roten, buschigen Stängeln, Pommerlinge, Datteln und allerlei anderes Gemüse. Am Rande waren schlachtreife Lämmer eingepfercht, die beim Anblick der Schafsköpfe und der gewetzten Messer gegen ihr Schicksal blökten. Zwei Händler feilschten nur mit Fingerzeig um eine Ziege, deren Geruch Schirin scharf in die Nase biss.

"Halt", gebot ihr Jasir. "Makib, ab jetzt kannst du zeigen, was du gelernt hast. Ich bleibe im Hintergrund und werde nur einschreiten, wenn es gar nicht anders geht!"

"Aber..." Schirin schluckte.

"Willst du nun zu den Sicheln gehören?" Jasir sprach den wunden Punkt an.

Schirin wischte sich die Lippen ab und zog den Schal vors Gesicht, so dass nur ihre feurigen Augen zu sehen waren. "Ja, deswegen bin ich hier!"

"Wir müssen wissen, wo er schwoft --", setzte Jasir an.

Schirin unterbrach ihn wieder. "Schwoft?"

"Makib, verstehst du immer noch kein Gildenwelsch?"

"Keine Ahnung was du meinst!" Schirin ließ die Schultern hängen. "Wo er schläft?"

"Wo er sich versteckt hält!" Jasir seufzte. "Da werden wir bestimmt auch den Ring finden!" Jasir klopfte ihr auf die Schulter und verzog sich hinter eine Marktbude.

*

Schirin brauchte einen Moment, um Muffrat wiederzufinden. Er hatte sich wie ein Bettler auf den Boden gesetzt und den Kopf gesenkt. Eine verschleierte Gestalt trat an ihn heran und warf ihm eine glitzernde Münze vor die Füße. Der Spender lachte dabei spöttisch. Muffrat sprang auf und fuchtelte wild mit seinen Armen herum.

Hat er bemerkt, dass er beschattet wird?

Der Verschleierte machte umgehend kehrt und verschwand im Rummel. Schirin musste näher ran. Eine Windbö schlug ihr die Kapuze vom Kopf und ließ ihre langen Zöpfe im Wind flattern.

"Was für wunderbare Haare!", kreischte ein dürrer Schmuckhändler, der nach Kamuhlipisse stank, diesen Geruch aber mit süßlichem Parfüm überdecken wollte.

"Sieh her, sieh her, dieser wunderbare Kopfschmuck passt wunderbar dazu!" Er klatschte Schirin ein silbrig glitzerndes Diadem an die Stirn, noch bevor jene sich wehren konnte. "Nur zehn Silberlinge!"

Muffrat blickte zu ihr rüber. Er riss die Augen weit auf und wirbelte herum.

Mist! Die Ratte hat mich erkannt!

Muffrat stieß einen Bauchwarenhändler über den Haufen -- Fruchbarkeitskristalle der Liebesgöttin zersplitterten auf den Steinen und warfen lila Lichtfetzen auf die Buden. Der Ringdieb floh mit ausladenden Armbewegungen über den offenen Markt, zertrampelte dabei spritzend Tomaten, sprang über ein Gehege mit erschrockenen Küken und und tauchte dann in das überdachte Labyrinth des Sukhs ab.

Schirin schubste den aufdringlichen Schmuckhändler zur Seite und wetzte Muffrat hinterher. Der Verfolgte schlug Haken wie ein Wüstenläufer, als er durch die schattigen Gassen stürmte.

Wo war Jasir? Sie musste ihn jetzt wohl alleine fangen -- vielleicht ein Teil der Prüfung?


Sie tänzelte um verführerisch duftende Gewürzstände herum, sprang über eine Balkenwaage, blieb mit dem Fuß an einer Wurzel hängen -- und fraß Staub.

Jetzt hatte sie doch tatsächlich den Keffar aus den Augen verloren! Wo steckt die Ratte?

Schirin blickte sich um. Da! Er kletterte eine Leiter hoch, um auf die Dächer zu gelangen. Schlau wie er war, holte er die Leiter ein, doch er hatte nicht mit Schirins Kletterkünsten gerechnet. Sie krallte sich in die Ritzen des Mauerwerks und lief wie eine Katze hinauf.
Muffrat sprang von Dach zu Dach wie ein Kreischling. Er war flink und wendig, das musste sie ihm lassen. Sie folgte ihm leichtfüßig und blickte immer wieder zu ihm hinüber. Er wurde bereits langsamer, seine Schritte wurden schwerer und er begann zu keuchen. Im Augenwinkel sah sie die Umrisse des Palmenhains und des Amraturms an sich vorbeiflitzen. Vor ihnen lag jetzt eine Häuserschlucht, hier ging es zehn Schritt in die Tiefe. Muffrat balancierte über eine morsche Bohle, die unter seinem Gewicht knackte. Auf der anderen Seite angekommen, stieß er diese in die Tiefe und rannte kichernd weiter.

Das ist viel zu weit zum Springen!

Sie spürte plötzlich, wie das Haus unter ihr vibrierte. Dann hörte sie ein Trampeln und Trompeten -- Fanten?

Schirin musterte die Umgebung. Die lila Banner, die sie wegen des Fests zwischen den Häusern aufgespannt hatten, waren sicher zu schwach, um sie zu tragen.

Eine Wäscheleine!

Sie musste es versuchen. Sie schlüpfte aus ihren Schuhen, breitete die Arme aus und tanzte über die Leine, an der die Unterwäsche einer ganzen Großfamilie baumelte. Eine Windbö: sie schwankte, -- erlangte ihr Gleichgewicht wieder. Unter ihr stampfte jetzt eine Karawane aus Wüstenfanten hindurch, massige Körper, von rotem Sand gesprenkelt. Sie schluckte, hielt den Atem an und balancierte weiter. Ein Aufblitzen -- von der goldenen Kuppel des Amratempels, gefolgt von einem Donnergrollen und einem heftigen Windstoß, der den Staub durch die Gassen fegte und die Banner flattern ließ. Schirin kippte, griff nach der Leine und erwischte doch nur einen Unterrock -- dann schloss sie die Augen.

Ein Ruck und das Gefühl, als ob sich eine Schlange um sie winde. Sie hatte eher damit gerechnet, im nächsten Moment zu Pommerlingsmus zertrampelt zu werden, was übrigens ihre Leibspeise war.

Was einem doch alles durch den Kopf geht, bevor man stirbt!

"Yatta, sieh mal da, alles Gute kommt von oben!"

Schirin blinzelte in die Augen eines dicken Mahudi, der sie herzlich anlachte. Yatta musste sein Wüstenfant sein, und jener hatte sie mit seinem Rüssel aufgefangen.

"Danke", stieß Schirin hervor, als der Fant sie auf dem Boden absetzte. Sie warf dem Mahudi die Unterwäsche zu. "Ich muss weiter!"

Während Schirin barfuß auf die andere Straßenseite hetzte, schüttelte der Karawanenhändler nur schmunzelnd den Kopf und rief: "In Iskar gibts ein Sprichwort: Lieber drei Schritte tun als einen Sprung, bei dem du dirs Bein brichst!"

Als Schirin um die Häuserecke bog, sah sie Muffrat seelenruhig eine Ranke hinunterklettern. 

Mit mir hat er wohl noch nicht gerechnet!

Der Dicke ließ sich verschreckt auf einen Teppichstapel plumpsen, rollte sich ab wie ein Hefeklops und zwängte sich dann wie ein vollgefressener Kater durch ein viel zu enges Tor zwischen zwei Lehmbauten.

Schirin stieg geschmeidig hinter ihm her.

Jetzt hab ich dich: Sackgasse!

Muffrat wischte sich schnaufend den Schweiß aus den Augen und zückte einen Krummdolch.

"Zarazar dachte wohl, ich kenne dich nicht! Oder warum schickt er mir sonst eine Anfängerin?" Er spuckte vor ihr aus, was Schirin schon immer richtig eklig fand.

Sie zog ihre gebogenen Dolche und näherte sich ihm auf Zehenspitzen wie eine Tänzerin, allerdings mit einem gehörigen Anteil Raubkatze.

"Heute verdiene ich mir meine Sichel!"

Sie hörte ein Grunzen hinter sich, dann erfüllte beißender Rauch die Gasse. Als sie sich umdrehte, stand sie völlig unvorbereitet vor einem riesigen Lumpenhaufen, daneben der Verschleierte mit einem Knüppel -- und eben dieser war gerade dabei, sie brutal am Kopf zu treffen.

*

Jasir hatte Schirin nicht aus den Augen gelassen-- bis sie hoch auf die Dächer geklettert war. Er wollte natürlich hinterhersteigen, doch da kam ihm leider ein störrischer Esel in die Quere. In der engen Gasse ging es nicht vor und nicht zurück. Eine riesige Lumpengestalt zerrte an ihm halbherzig herum. Jasir gab dem Esel einen Tritt gegen dessen Hinterteil und nach einem jammervollen Ih-ah war der Weg endlich frei.

Er schätzte die Richtung der Verfolgungsjagd ab. Strammen Schrittes, immer darauf achtend, im Schatten zu bleiben, folgte er seinen Instinkten. Ein brennender Schmerz zog ihm durchs Gesicht wie ein stumpfes Messer, das in seine Wange biss. Seine Brandnarbe meldete sich. Jasir drückte sich schnell in eine schattige Ecke.

Muffrat kam aus einer Seitengasse geschlüpft. Die Ratte schwänzelte an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken.

Wo war Schirin?  Hat er sie abgehängt, oder --?

Muffrat stank, als ob er gerade erst aus einer Schmockerhöhle herausgestürzt wäre. Der Keffar ging zügig und wischte sich immer wieder den Schweiß von der Stirn, schien aber nicht zu ahnen, dass ihm noch jemand folgte. Jasir sorgte sich natürlich um seine Makib, doch der Auftrag stand an erster Stelle!

Jasir hielt sich weiter im Schatten, als er Muffrat folgte. Es ging durch den Sukh und anschließend durchs Handwerkerviertel, wo Jasir eine Schlange von Eseltreibern bemerkte, die vergeblich vor einer Schmiede lauerte. Schließlich verließ der Keffar die Stadt durch das Tor zum Palmenhain. Die Zikaden zirpten hier so laut, dass Jasirs Trommelfelle rieben. Er folgte der Ratte einen plätschernden Wasserlauf entlang bis zu einer Lichtung, die von hohen Sträuchern und Fächerpalmen umwachsen war. Streifige Schatten wanderten über den fruchtbaren Boden.

*

Der Ringdieb wurde bereits von einer Gestalt in dunkelblauer Tunika erwartet. Dieser Mann trug einen schwarzen Schal, den er um Kopf und Schultern gewickelt hatte, ein Auge war unter einer Klappe verborgen.
Jasir schlich von Palme zu Palme bis er lauschen konnte. Das Zirpen schwoll immer wieder zu einer solchen Lautstärke an, dass Jasir nur Gesprächsfetzen mitbekam. Er überlegte, zum Kundschaften noch näher heranzukriechen, doch das wachsame Auge des Einäugigen wanderte immer wieder zwischen den Palmen hin und her.

"Wo ist der Ring?", fragte der Einäugige.

"Im Gharra ... aber ...", flüsterte Muffrat. "Dunkelsichel ... mich ..."

"Nein ... das ist deine Sache! ", entgegnete der Andere.

Muffrat ging ächzend in die Knie und flehte sein Gegenüber an. "Lumpat erpresst ... Kristall!"

Der Einäugige schüttelte den Kopf: "Falkner mischen ... nicht ..."

Muffrat raffte sich wieder auf.

Schlagartig verstummten die Zikaden. Ein starker Wind fuhr durch den Hain, ließ die Palmen schwanken, dann folgten Blitz und Donner.

Der Einäugige musste seine Kopfbedeckung festhalten. "In den Tempel ... Wahnsinn!"

Er schaute sich misstrauisch um. "Kallib, so war die Vereinbarung! Wenn du mir den Ring gibst, bist du deine Kaffra los."

Die Zikaden setzten wieder ein.

Der Einäugige wandte sich zum Gehen, blieb dann aber noch einmal stehen. "Morgen hier ... selbe Zeit! Sonst ..." Er schritt zügig in Richtung Stadt davon.

Muffrat blieb mit hängenden Schultern zurück, trat gegen einen Stein - autschte- und verließ hinkend den Palmenhain auf der stadtabgewandten Seite.
Er ging zunächst auf den Tempel zu. Bei dessen Anblick ballte er die Faust, zog Rotz hoch, vermischte ihn mit Schleim in seinem Mund, spuckte einen Teil davon aus und ließ den Rest genüssluch zu Boden tropfen. Er sah sich sein glibbriges Erzeugnis noch einen Moment grübelnd an -- und folgte dann missmutig einem Pfad ins Hilamatgebirge, das Qanat wie Skorpionsscheren umklammerte.

Jasir war, als ob er erneute Blitze unter der Kuppel des Tempels sah, er wunderte sich: Was für seltsame Wetterphänomene! War das Einbildung? Hitzeflimmern? Wieder ein Windstoß, rote Sandkörner wirbelten auf und stachen ihm ins Gesicht.

*

Ein Ksar, ein altes Speichergewölbe für Korn, Öl und andere Waren, die kühl und trocken gelagert werden mussten, schien Muffrats Ziel zu sein. Die Speicherkammern waren in eine Felswand des Gebirges eingelassen und schienen schon lange nicht mehr in Gebrauch zu sein. Der Lehm bröckelte von den Rundbögen, die Mauern hatten Risse und sicher hatten sich dort jede Menge Ratten einquartiert. Wie passend!
Muffrat kletterte eine lehmgestampfte Treppe hinauf, stolperte dabei über die ungleich hohen Stufen und wäre beinahe wieder heruntergestürzt. Dann verschwand er in der Finsternis einer der Kammern.

Jasir zog seinen Kobradolch.

Rattennest gefunden!


***

Mittwoch, 26. Februar 2025

Kalte Brise - Kapitel 5: Im Kerker

Das Stadttor öffnete sich und verschluckte einen müden und dreckigen Haufen aus Blut und Feuer. Die Pikeniere hatten sich an den Seiten und hinter uns postiert, senkten ihre Spieße und trieben uns auf diese Weise vorwärts. Während sich wegen des strömenden Regens kaum jemand auf der Straße blicken ließ, drängten sich im Eingangsbereich der Burg zahlreiche Menschen in prachtvollen Gewändern. Die meisten trugen gefütterte Mäntel mit Pelzkragen. An den Burgmauern hingen dicke Wandteppiche: auf vielen prangte das Wappen der vier Schwerter oder sie zeigten Schlachtszenen, meist mit vier Rittern, die gegen Barbaren und pelzige Monster aus der Kälte ankämpften. Große Fackeln erhellten die prächtigen, hohen Bogengänge des dunklen Gemäuers. Wir wurden in die große Halle geführt, in der der Widerhall unserer Schritte das Gemurmel der anwesenden Menschen verstummen ließ. Der Fackelschein spiegelte sich in den polierten Rüstungen der imbrischen Soldaten und tauchte alles in ein fahles Licht. Am anderen Ende der Halle stiegen ein paar Steinstufen hoch zu einer Estrade, auf der sich ein steinerner Thron erhob. Der Paladin ging uns voraus und brachte einen dicken Mann in brauner Robe durch ein Nicken dazu, ihm Platz zu machen – vermutlich der Notor von Firnhall. Der Gottesritter ließ sich vor der untersten Stufe auf die Knie fallen und senkte das Haupt.
"Erhebt Euch, Syr Noreenus!", sprach der Mann auf dem Thron, der die Ehrwürde eines Königs ausstrahlte, auch wenn er keine Krone trug. Der Paladin erhob sich.
"Eure Boten haben mir berichtet, Ihr hättet die Unruhestifter des Bundes aus Blut und Feuer gefangen, die in Medea und auf Regenfels so viel Chaos angerichtet haben."
"Nicht nur Chaos, werter Ened Kelen, viel Schlimmeres: sie haben den wahren Glauben verraten und zahlreiche grausame Morde begangen. Das werden die Anklagepunkte vor dem heiligen Gericht sein. Der Bewahrer des Lichts, Haegus Malefar, wird sich ihrer höchstpersönlich annehmen wollen. Gewähret mir, sie solange in Euren Kerker zu werfen, bis ihnen hier der Prozess gemacht werden möge."
"Selbstverständlich", stimmte der Herr von Firnhall rasch zu, "mein Kerker freut sich auf alle Feinde von Glaube, Recht und Reich."
Er gab seinen Wachen Zeichen, uns umgehend abzuführen.
"Werft sie ins dunkelste Verlies, und vergesst nicht, ihnen vorher ihre Sachen abzunehmen!", rief Syr Kelen seinen Wachen noch nach.
Während wir hinausgeführt wurden, bekam ich noch mit, wie Speis und Trank in die Halle gebracht wurden. Mir knurrte der Magen beim Anblick der Köstlichkeiten – doch statt am Gelage teilzuhaben, wurden wir in die dunklen Eingeweide der Burg hinabgeführt. Der Fackelschein durchdrang kaum die Finsternis, sodass wir aufpassen mussten, wohin wir traten.
"Dieser Troll passt nicht durch die Öffnung!" rief einer der Wächter, der gerade mühsam versuchte, Urota durch einen engen Durchgang zu stopfen.
"Dann lasst ihn hier, auf dieser Ebene sind auch ein paar schöne Zellen!", entschied der Kerkermeister mit dämonischem Grinsen. Der Rest des Bundes aus Blut und Feuer verschwand dagegen im tiefsten Kerkerloch der Burg von Firnhall. Wir wurden nach Geschlechtern in zwei Zellen aufgeteilt – bei den Kobolden waren sich die Wächter unsicher und entschieden mehr nach Bauchgefühl, in welche der beiden gegenüberliegenden Zellen sie geschubst wurden. Bevor sie uns einschlossen, mussten wir unsere Taschen leeren und sie nahmen uns bis auf die Kleidung, die wir am Leib trugen, alle Habseligkeiten ab.
"Hier stinkt's!", rümpfte Anneliese die Nase. "Würde mich nicht wundern, wenn hier im Dunkeln ein paar vermoderte Leichen rumlägen!"
Widun widersprach: "Das liegt eher daran, dass es hier keinen Abort gibt!"
"Ruhe da!", grunzte einer der Wächter, dessen fetter Bauch einen ebensolchen Schatten warf. Sein Topfhelm saß nur halb auf seinem viel zu dicken Kopf, eine Säufernase wie eine Steckrübe ragte aus seinem Gesicht.
"Genau, sonst gibt’s nix zu futtern!", knurrte der zweite Wächter, der zurückgeblieben war. Er war das genaue Gegenteil: spindeldürr, mit einem Kettenhemd, das ihm über die Knie hing und einer Spitznase, aus der lange Haare wie Tropfsteine hingen.
Sie leuchteten mit ihren Laternen in unsere Zellen.
"Du, Pylak, schau dir die mal an: Kobolde, ein Faun, ein Halbschrat, ein Wichtel, eine Alwe und oben ein Troll – so einen bunten Haufen habe ich noch nie gesehen!", quiekte der Dicke verwundert.
Der Dürre hielt die Laterne in Richtung von Maluna und Vivana und flüsterte mit seinem Kumpanen, ich konnte nur "Harun ... die Jujin-Braut ist aber auch nicht schlecht!" verstehen.
Dann verschwanden sie kurz in einem Seitengang und brachten klappernd ein paar Näpfe mit, die mit irgendetwas, das einem Eintopf ähnelte, gefüllt waren. Außerdem wuchteten sie jeweils einen Wassereimer in jede Zelle: "Wasser: zum Trinken, gluck gluck, nicht zum Waschen!", wollte der Dürre Saradar belehren - dafür erhielt er eine feuchte Antwort: "Spucke: kannst selber entscheiden, was du damit machst!"
Pylak hob drohend sein Schwert – das kürzer als seine Nase war. Der dicke Harun hielt ihn zurück und wischte ihm mit seinem dreckigen Ärmel über das Gesicht.
"Der Abschaum erhält noch seine gerechte Strafe, dann kannst du ihm ins Gesicht spucken. Lass uns lieber würfeln, ich muss meine Verluste wieder wettmachen!"
Sie setzten sich an einen klapprigen Tisch vor dem Treppenabsatz, stellten die Laterne drauf und begannen mit ihrem Würfelspiel. Braune und Silberlinge gingen hin und her, begleitet von kleineren und größeren Wutausbrüchen.
Der verkochte Eintopf war wahrlich kein Genuss, aber seit längerem die erste warme Mahlzeit und daher rasch verschlungen.
"Irgendeine Idee, wie wir hier rauskommen könnten?", fragte Tarkin leise in die Runde.
Saradar strich sich gedankenverloren über die Narbe an seiner Brust und sagte: "Die beiden da sind nicht die Hellsten, die haben die Frauen gierig angestarrt, vielleicht ist da was zu machen!"
Leider hatten wir nicht bemerkt, dass der dürre Wächter plötzlich vor dem Gitter stand.
"So, ihr denkt, wir sind dumm! Ihr seid dumm, wenn ihr denkt, ihr kommt hier raus!"
Er spuckte in die Zelle und ging zurück zu seinem Würfelbruder.
"He, Wichtel, bleib stehen, sonst zertrete ich dich wie eine Assel!", rief plötzlich der dicke Wächter, der bemerkt hatte, dass sich Freya zwischen den Gitterstäben durchgedrückt hatte und im Schatten seines Bauches an den beiden vorbeischleichen wollte.
"Verdammt!", entfuhr es der kleinen Priesterin, als sie mit einem Tritt zurück in der Zelle landete.
"Versuch das nicht noch einmal, sonst kommst du in einen Sack!", drohte ihr der Dicke.
Maluna versuchte natürlich, die beiden abzulenken, doch hatten sie im Moment nur Augen für ihr Würfelspiel.
Von oben drang ein Poltern an unsere Ohren, etwas zwängte sich die enge Treppe herunter. Pylak sprang auf und fuchtelte drohend mit seinem Schwert: "Wer da?"
"Ich bin's nur, ihr Dussel!", erwiderte die dralle Magd ängstlich, als sie mit einem Bierfass zwischen den Brüsten in den Zellengang trat. "Das ist für euch, mit Empfehlung von unserem Herrn, ihr sollt nicht dürsten in der Finsternis während oben geschmaust wird!"
"Nett von dem Herrn!", freute sich der Dicke und zog die Magd mitsamt Fass auf seinen Schoß.
"Nur das Bier!", drückte sich die Magd von ihm herunter und knallte das Fässchen auf den Tisch.
"Schade, hätte gerne mit dem Fass den Platz getauscht!", bedauerte der Dürre mit lüsternem Blick.
"Da würdest du ersticken!", lachte die Magd und wackelte wieder den Gang hoch.
Das Fässchen war schnell angestochen und die ersten Krüge gefüllt. Sie stießen an – der Schaum spritzte über den Rand. Wir mussten Widun die Augen zuhalten, dessen heraushängende Zunge beim Anblick des Gerstensaftes immer länger wurde.
"Eine Wohltat für meine trockene Kehle!", seufzte Harun und rülpste – sodass es im Kerker nur so hallte. Ein paar Krüge später grölte der Dicke: "Schlürfen wir lieber nicht zu viel davon, bei der Arbeit muss man immer einen klaren Kopf behalten, hicks!"
"Gut, mein Dickerchen, aber einer geht noch!", stimmte ihm der Dürre zu.
Mit letzter Kraft prosteten sie sich zu und sackten im Trinken beide mit den Köpfen auf den Tisch, wobei sie den Rest des Bieres verschütteten.
"Was für eine Sünde!", grummelte Widun in seinen Bart.
Die beiden schliefen, der Dicke schnarchte so laut, dass ich an Urota denken musste, den sie ein Geschoss über uns eingepfercht hatten, beim Dürren flatterten die langen Haare im Nasenwind.
"Was jetzt?", fragte der Koboldkrieger in die Runde.
"Freya, meinst du, du kommst an die Zellenschlüssel?"
"Ja, das müsste klappen, jetzt wo die beiden so schön ihren Rausch ausschlafen."
Bevor die Wichtelin zur Tat schreiten konnte, hielt Vivana sie zurück.
"Pst, da kommt jemand!"
Wir hörten eindeutig Schritte: ganz leise und gedämpft. Fackelschein füllte den Durchgang und eine dunkle Gestalt trat in den Kerker. Sie trug ein Tuch vor dem Gesicht, ihre Augen funkelten im flackernden Licht. An der Seite trug sie ein Langschwert, das Wappen von Firnhall schmückte dessen lederne Scheide. Mit einer raschen Handbewegung enthüllte sie ein vom Leben gezeichnetes Gesicht mit tiefen Falten: Tux Kelen, der Herr von Firnhall stand vor uns.
Er blickte auf die schlafenden Wächter und musterte dann jeden Einzelnen des Bundes aus Blut und Feuer.
"Ich bin gekommen, um euch ein Angebot zu machen. Wenn ihr es annehmt, seid ihr frei - noch heute Nacht!"
Wir tauschten überraschte Blicke.
"Lasst es uns erstmal hören, bevor wir zustimmen!", forderte Saradar ihn auf.
"Vor einigen Tagen haben meine Männer eine Gruppe Valoreaner aufgegriffen. Sie überraschten sie an der Grenze zum Wilden Land. Der Ened von Firnmark erteilte mir den Befehl, sie auf unbestimmte Zeit hier in Firnhall festzuhalten. Sie wurden als Gäste aufgenommen, stehen aber unter der ständigen Bewachung durch einige Paladine des Eneds. Ich habe mich mit ihnen unterhalten und weiß, dass sie in einer sehr wichtigen Unternehmung unterwegs sind. Ich würde sie gerne ziehen lassen, bin aber durch meinen Schwur zu absoluter Treue gegenüber meinem Ened verpflichtet."
"Ah, ich verstehe: Ihr braucht jemanden, der sich für euch die Hände schmutzig macht und den Zorn des Ened auf sich zieht!", schloss Saradar.
"Alles ist besser als in dieser stinkenden Zelle zu vermodern!", hörte ich von Anneliese.
Er schaute noch einmal nach den Wachen, die weiter fröhlich vor sich hin schnarchten.
"Die Valoreaner sind im hinteren Teil des Hauptgebäudes untergebracht. Ihr findet es, wenn ihr in die Kanalisation hinabsteigt und dem Kanal gegen die Strömungsrichtung folgt. Im Norden liegt dann das Haupthaus, es gibt zwei patrouillierende Paladine, weitere sind in vier Nebengebäuden untergebracht. Wenn ihr ins Haupthaus gelangen könnt, verschwindet mit den Valoreanern nach Norden in die Gassen der Stadt. Verlasst Firnhall am besten auch durch die Kanalisation. Ein mir getreuer Waldläufer erwartet euch vor der Stadt und wird euch zu einer Hütte führen, in der ihr eure Waffen und Habseligkeiten vorfinden werdet."
Sein durchdringender Blick wanderte von einem zum anderen, während er drohte: "Wenn ihr es vorziehen solltet, ohne die Valoreaner zu verschwinden, dann werde ich euch von meinen Bluthunden jagen lassen und nicht eher ruhen, bis ich jeden einzelnen von euch zur Strecke gebracht habe!"
Ich schluckte.
"Nehmt ihr das Angebot an?"
Wir stimmten zu.
Er nahm dem dicken Wächter den Zellenschlüssel ab und warf diesen vor unsere Zellentür. Dann vermummte er sich wieder und verschwand wie ein Geist im Treppenaufgang.
Wir schlossen rasch die Zellentüren auf.
"Endlich draußen!", atmete Anneliese auf.
"Was machen wir mit denen da?", fragte Saradar und deutete auf die Wächter.
"Wir sollten sie sicherheitshalber fesseln und knebeln", empfahl Vivana.
In einer Ecke des Raums fanden wir ein Seil, das wir benutzen, um die beiden auf ihren Stühlen Rücken an Rücken festzubinden. Selbst die Knebel aus irgendwelchen modrigen Stofffetzen, die wir in der Zelle gefunden hatten, störten die beiden nicht - sie schliefen tief und fest.
Da musste wohl auch ein Schlafmittel im Bier gewesen sein: "Mit besten Empfehlungen vom Herrn von Firnhall!"
"Was ist mit Urota?", fragte Freya.
"Ich denke, das ist ein Auftrag für dich", befand Vivana und überreichte ihr den Zellenschlüssel.
"So klein wie du bist, kommst du ungesehen an der Wache vorbei und kannst den Schlüssel zu Urota schmuggeln. Den Rest erledigt dann unser lieber Hügeltroll."
Die kleine Wichtelpriesterin kämpfte sich tapfer mit dem für sie sehr schweren Zellenschlüssel die steile Treppe hinauf. Keuchend hatte sie schließlich das nächste Stockwerk des Kerkers erreicht. Sie ging vorsichtig in einen der Gänge hinein, in dem sie Urota vermutete. Sie lauschte: Schritte, die auf sie zukamen. Sie legte rasch den Schlüssel in eine dunkle Ecke und verkroch sich in einen Spalt der Kerkermauer. So eilig wie es der Wächter hatte, war er wohl auf dem Weg zum Abort.
Freya nutzte ihre Chance, schnappte sich den Schlüssel und rannte den Gang hinunter. In einer der Zellen erkannte sie die riesigen Umrisse des Hügeltrolls. Sie schlüpfte unter der Zellentür hindurch und winkte ihm. Urota drehte gerade den Kopf in ihre Richtung, dann schrie er: "Maus!" und schlug nach ihr. Freya flog gegen die Wand und blieb erstmal regungslos liegen. Nach einer halben Minute öffnete sie wieder die Augen und schüttelte sich.
Urota sah sie besorgt an, mit einem Grunzen versuchte er, sich für seinen Fauxpas zu entschuldigen.
"Wir müssen hier weg!", wisperte ihm Freya zu. Er nahm sie in die Hand und hielt sie vor das Schloss, sodass sie - mit einiger Mühe - die Zellentür aufschließen konnte.
Vivana schlich sich den Treppenabsatz hinauf und fand den von Kelen beschriebenen Weg in die Kanalisation - sie musste eigentlich nur dem Gestank folgen. Weiter den Gang hinunter schien der Abort zu sein, von dort hörte sie ein Stöhnen und plätschernde Geräusche - da hatte wohl jemand mit einem flotten Otto zu kämpfen. Sie grinste in sich hinein: wahrscheinlich "mit bestem Empfehlungen vom Herrn von Firnhall"!
Vivana holte die anderen ab: "Die Luft ist rein - äh, zumindest was die Wache angeht - und ich habe den Zugang zur Kanalisation entdeckt!"
Tarkin nahm sich eine Fackel von der Wand und schritt mutig voraus in die stinkende Unterwelt. Wir wateten durch die eklige Brühe bis wir an ein Stahlgitter stießen. Ein Blick nach oben offenbarte uns eine Leiter. Vivana stieg voraus, alle anderen folgten. Saradar und Anneliese stellten sich etwas ungeschickt an: Saradar jammerte über Schmerzen beim Klettern, Anneliese tat der Zeh weh.
Wir löschten die Fackel und lugten vorsichtig unter dem Kanaldeckel hervor: Zamas Licht beschien ein großes Gebäude, ich konnte spüren, dass dies das Haupthaus mit den Valoreanern sein musste. Von der Patrouille war gerade nichts zu sehen. Ich schlich mich zusammen mit Tarkin hinüber. Urota trug unterdessen den schmerzgeplagten Saradar in einen nahegelegenen Stall, der ein gutes Versteck bot. Der Rest der Gruppe folgte dorthin. Widun und Anneliese waren die letzten, die Koboldin stolperte und stürzte zu Boden. Das Licht in einem der Nebengebäude veränderte sich plötzlich und dann ging die Tür auf. Ein Paladin mit im Mondschein glänzender Rüstung und Riesenschwert am Gürtel trat heraus und kam schnurstracks auf Widun und Anneliese zu: "Heda!"
Widun tat das einzig Richtige: er knutschte Anneliese ab - dann kicherten beide. Der Paladin hob seine Laterne, schüttelte den Kopf, grummelte, "Ihr habt hier nichts zu suchen - trollt euch, ihr Kobolde!" und verschwand dann wieder im Nebengebäude.
Im Stall wieherte es - "Halt die Klappe, Pferd!" - "Nein! Nicht du, Tarquan", entschuldigte sich Vivana sofort.
Vorsichtig schlichen sich Vivana und Maluna zur Tür des Haupthauses. Als sie eintraten wurden sie von einem Dutzend angenockter Pfeile in Empfang genommen. Die in grüne Kapuzenumhänge gehüllten Gestalten wirkten bedrohlich. Maluna fand als erste ihre Stimme wieder: "Syr Kelen schickt uns, wir sollen mit euch zusammen aus der Stadt fliehen!"
Eine der Gestalten streifte daraufhin ihre Kapuze nach hinten.
"Ich bin Lyadan, Druidin der Ianna. Wer seid ihr?" 
"Wir sind der Bund aus Blut und Feuer. Wegen falscher Anschuldigungen wurden wir in den Kerker geworfen. Syr Kelen hat uns unter der Bedingung freigelassen, dass wir euch zur Flucht verhelfen."
Die Druidin hob ihre Hand, woraufhin die Bogenschützen sich entspannten.
"Dann wisst ihr auch, dass wir einen Auftrag haben, der keinen Aufschub duldet?"
"Ja, Syr Kelen sagte etwas von einer wichtigen Unternehmung", antwortete Maluna.
"Seid ihr allein?", fragte die Druidin.
"Nein, unsere Freunde befinden sich nebenan im Stall", erklärte Maluna.
"Wir müssen aufpassen, dass uns die Paladine nicht sehen!", warnte die Valoreanerin.
"Ich gehe voraus und sehe nach, ob die Luft rein ist", schlug Vivana vor.
Sie kam nach ein paar Minuten zurück.
"Die Patrouille ist gerade vorbeigekommen, wir haben ab jetzt zehn Minuten Zeit, unbemerkt zu verschwinden!"
Wir verließen geduckt in einer Reihe das Hauptgebäude in Richtung Stall. Von dort aus schlichen wir alle nach Norden, wie es uns Syr Kelen empfohlen hatte. Im fahlen Mondlicht suchten wir vergebens nach dem Eingang zur Kanalisation. Anneliese musste einen Flammenhandzauber wirken, um uns mehr Licht zu verschaffen. Endlich fanden wir den Zugang. Wir folgten dem Kanal in Richtung nördlicher Stadtmauer und kamen oberhalb des Burggrabens heraus, den wir ohne Probleme überwanden.
Hinter uns: ein Geräusch. Es war zum Glück nur das Miauen einer Katze, unsere Flucht war bis jetzt unbemerkt geblieben.
Wir liefen weiter in Richtung Waldrand, wo uns eine im Schatten verborgene Gestalt bereits erwartete. Es war Medik, der Waldläufer. "Folgt mir!"
Es ging durch die Dunkelheit und die Stille des Waldes, die nur einmal von einer Eule unterbrochen wurde.
Die Waldhütte war kaum von der Umgebung zu unterscheiden, überwuchert von Moosen und verdeckt vom Unterholz. Der Waldläufer öffnete uns die Tür und entzündete eine Fackel.
Der Schein fiel auf graue Haare und in ein freundliches Gesicht. Die Hütte schien leer zu sein, doch dann bückte er sich lockerte eine Bodendiele: "Hier sind eure Sachen und Proviant für drei Tage. Syr Kelen hat euch auch noch ein paar Rüstungsteile und Felle spendiert."
In meiner Größe war nichts dabei, aber Widun fand einen Topfhelm und Edwen nahm sich eine Halsberge.
Die Druidin hatte uns in die Waldhütte begleitet, während ihre Gefährten ausgeschwärmt waren und draußen Wache hielten. Im Fackelschein schlug sie ihre Kapuze zurück und dankte dem Waldläufer.
"Jetzt können wir uns endlich wieder unserem Auftrag widmen!"
Wir blickten uns an. Saradar ergriff das Wort: "Wie sieht denn euer Auftrag aus? Und was ist drin für uns, wenn" - Maluna stieß ihm in die Rippen.
Lyadan betrachtete uns erst nachdenklich, räusperte sich aber dann und begann zu erzählen.

"Unser König ist krank. Sein Sohn, der Nachfolger auf den Ebenholzthron, ist in Gefangenschaft. Er wurde in Korilion von den Alwonai aufgegriffen und verhaftet. Von einem Geheimboten erfuhren wir, dass er zum Tode verurteilt werden soll - was das Ende der Dynastie der Dhuns bedeuten würde, was zu Chaos und möglicherweise zum Untergang Valors führen würde. Das Imperium würde diese Schwäche sicher ausnutzen, um Valor dem Kaiser gefügig zu machen.
Wir hatten ein Pfand, einen gesuchten alwischen Verbrecher, bereits in Händen. Ihn hätten wir gegen unseren Thronfolger eintauschen können. Doch hat es dieser Magier geschafft zu entkommen und ins Wilde Land zu fliehen. Wir wollten ihn dorthin verfolgen, wurden dann aber durch eine imperiale Truppe aufgehalten und nach Firnhall gebracht. Ich kam mit Syr Kelen ins Gespräch und fand in ihm einen Freund der valoreanischen Sache. Er ist enttäuscht vom Imperium. Sein jetzt todkranker, dem Wahnsinn anheim gefallener Vater hat nie Hilfe vom Imperium erhalten, um den Norden des Reiches gegen die anstürmenden Barbaren zu verteidigen. Syr Kelen hat so seine drei Brüder verloren und ist verbittert. Ich danke euch, Bund aus Blut und Feuer. Ihr seid jetzt frei zu gehen."
Sie verließ die Hütte und wir überlegten, wie unser weiterer Weg aussehen sollte.
Nach Süden konnten wir erst einmal nicht zurück als steckbrieflich Gesuchte. Wir beschlossen, uns der Sache der Valoreaner anzuschließen.
Lyadan war erfreut, als sie von unserer Entscheidung erfuhr. Sie war gerade im Gespräch mit Medik, der ihr erklärte: "Der Nordwall wird stark bewacht. Diese blutrünstigen Helrak-Barbaren versuchen immer wieder, in den Norden der Frostmark vorzudringen, um unsere Dörfer zu plündern. Wenn ihr unbemerkt ins Wilde Land gelangen wollt, gibt es nur einen Weg. Ich werde ihn euch zeigen."
Wir folgten ihm durch den Wald bis zu einer steilen Felswand. Er drückte eine paar Büsche beiseite und wir blickten in einen dunklen Höhleneingang.
"Das ist die Passage ins Wilde Land, ein geheimes Tunnelsystem, das nur wenige Waldläufer des Nordens kennen. Syr Kelen hat mir erlaubt, es euch zu zeigen. Es könnte sein, dass ihr in den Tunneln auf ein wenig Widerstand stoßt, was aber gar nichts gegen das ist, was euch im Wilden Land erwartet. Der Tunnel endet direkt in den Helrak-Hügeln. Dort müsst ihr extrem vorsichtig sein. Falls ihr Feuer machen müsst, hebt immer eine Grube aus, sodass die Flammen nicht hoch auflodern können. Stellt immer Wachtposten auf! Wenn ihr in die Hände der Bluttrinker geratet, machen sie euch zu ihrem Festschmaus!"
Nach diesen - zumindest für mich - beängstigenden Worten verabschiedete sich Medik mit einem "Nivie zum Gruße" und verschwand in den Schatten des Waldes.