Hinter den Fenstern langweilte sich Talamrah, die Hohepriesterin von Qanat. Sie blätterte in einem alten Buch, bis sie auf etwas stieß, dass ihr ein grimmiges Lächeln ins Gesicht trieb. Ihr Herz war durstig, ihre Aura geschwächt, doch bald würde sie wieder zu neuer Kraft erblühen. Sie wusste bereits, was sie als erstes ausprobieren würde. Sie strich sich durch ihre verdrehten weißen Haare und ging dann rüber zu einem kleinen Beistelltisch. Dort öffnete sie eine Schublade und betrachtete deren Inhalt. Zwei Spiegel lagen darin: ein juwelenbesetzter Handspiegel und ein zersprungener Taschenspiegel. Warum habe ich den eigentlich noch? Dieser kaputte Spiegel erinnerte sie nur an ihre Vergangenheit, eine Vergangenheit, in der sie entstellt und hässlich gewesen war. Sie nahm den goldenen Spiegel und betrachtete sich lange darin: ihre weiße, unbefleckte Haut, ihre lila leuchtenden Augen.
Als die Tür aufging, ließ sie den Spiegel schnell wieder in der Schublade verschwinden. Altahir, ihr treuer Gefolgsmann, betrat das geheime Obergeschoss des Turmes. Er war ihre Verbindung nach draußen, was würde sie ohne ihn tun?
"Gnade Euch, große Göttin" Er verbeugte sich und bemerkte dabei das aufgeschlagene Magiebuch.
"Ich wünschte, ich hätte Zeit für eine weitere Lektion, doch ich fürchte, ich muss Euch über ein kleines ... eine Nichtigkeit eigentlich ... in Kenntnis setzen."
"Altahir, du weißt, dass du offen sprechen darfst!" Sie berührte sein Kinn und zog ihn daran sanft in die Höhe.
"Die Bevölkerung wird immer aufsässiger. Gute Worte haben nicht mehr ausgereicht, die Leute zu bewegen, Qanat auf das Fruchtbarkeitsfest vorzubereiten. Teils kam es zu Handgreiflichkeiten, ein Gardist wurde dabei verletzt."
Talamrah blickte ihn mit ihren leuchtenden Augen an -- und seufzte. "Diese Menschlein, sie wissen gar nicht, wie gut sie es eigentlich haben. Du weißt, wie du mit Aufässigen zu verfahren hast?"
Altahir nickte, konnte dabei aber Talamrahs stechendem Blick nicht länger standhalten und wich in eine der Ecken des Gemachs aus. Dort hockte eine Fantenstatue, die anklagend mit ihrem Rüssel auf ihn zeigte.
"Wie steht es aus, mein Beschauer, hast du acht freiwillige Spender gefunden?", fragte Talamrah.
Altahir senkte den Kopf. "Das ist die andere Kleinigkeit ... ein Spender fehlt noch!"
"Du weißt genau, es müssen acht sein -- immer acht!", polterte Talamrah. "Kümmer dich darum, am besten sofort! Das Ritual kann nicht stattfinden, wenn die Zahl nicht stimmt!"
Altahir, der die Insignien eines Amrapriesters trug, sich aber nicht mehr sicher war, wem er wirklich diente, verbeugte sich erneut. "So soll es sein, meine Göttin!"
Er verließ ihr Gemach.
Talamrah sortierte ihre Haare und flegelte sich dann auf ihren Diwan.
"Bringt mir ein Kind!", wies sie die Kammerdiener an, die hinter den Wandteppichen auf ihre Befehle warteten. "Ich langweile mich zu Tode!"
"Tu es nicht, ich flehe dich an! -- Was können die Kinder für deine Langeweile?" Talamrah war klar, dass sich die Stimme melden würde. Immer wenn sie sich aufregte, konnte sie ihr Bewusstsein nicht länger abschirmen und die Stimme fand eine Lücke, in ihren Kopf zu dringen.
Die Leibwächter kamen in die Kinderstube und verbanden ihr die Augen. Jemina wusste, was das bedeutete. Sie war schon mehrfach bei der Mutter gewesen, um ihr eine Geschichte vorzutragen. Aber diesmal kam das völlig unerwartet, sonst hatte sie immer Zeit bekommen, sich vorzubereiten. Als sie die Dunkelheit umhüllte, begann ihr Herz wie wild zu bubbern. Es ging die Treppen hinauf, durch die Bibliothek, das konnte sie riechen. Sie liebte den Geruch des alten Papiers und der Ledereinbände. Wie viele Stunden hatte sie schon schmökernd hier zugebracht. Wenn jemand zur Mutter wollte, mussten alle die Bibliothek verlassen. Jemina wusste, dass niemand den geheimen Schalter sehen sollte, der den Weg hinauf zum Gemach der Mutter freigab. Nur ihre Leibwächter und engsten Vertrauten wussten um die Vorrichtung. Sie hörte ein Klicken, dann ein Rattern. Dann ging es noch eine kleine Treppe hinauf. Jemina erschnupperte den Duft von Wüstenrosen. Nach einem erneuten Rattern und Klicken wurde ihr die Augenbinde abgenommen. Sie blinzelte. Die Mutter erhob sich von ihrem Diwan, sie zog ihre verdrillten Haare wie eine Schleppe hinter sich her. Jemina kniete sich nieder und faltete ihre Hände. Sie spürte, wie ihr Mund austrocknete, ihr Hals sich zuzog und ihr kleines Herz Saltos machte. Sie musste sich räuspern.
Die Mutter strich ihr durch die dunklen Haare. Ein kalter Schauder jagte ihr den Rücken hinunter, so dass sich die feinen Härchen in ihrem Nacken aufrichteten. Das Mädchen blickte zum Springbrunnen: das Plätschern des Wassers ließ Jemina ihre trockene Kehle nur um so schmerzlicher spüren. Die Mutter ließ sie los und kehrte zu ihrem Diwan zurück. Dabei rollte sie ihre langen Haare auf und bettete diese dann auf ein goldenes Kissen am Boden.
"Trage vor, mein Kind!", forderte die Mutter.
Jemina war schon lange klar, dass die sich auf dem Diwan rekelnde Frau nicht wirklich ihre Mutter war, dennoch musste sie von allen Amrakindern so genannt werden.
"Mein Kind, du wolltest mich doch mit einer deiner Geschichten beglücken. Warte nicht zu lange! Unsere Göttin verzehrt sich danach."
"Mutter, kennt Ihr die Geschichte...", fragte Jemina zögerlich. "Kennt Ihr die Geschichte vom Kamuhli und dem Dieb? Sie ist sehr alt und kommt aus Beschim."
"Lass sie mich hören!", befahl die Mutter.
Jemina holte tief Luft. Der Wind spielte mit den bunten Deckenlampen, er ließ sie hin- und herschwanken. Bunte Lichtpunkte tanzten durch den großen Raum, glitten über den mosaikverzierten Boden, den angespannten Nacken des Kindes und über den weißen Vorhang, hinter dem die Mutter lag. Das Kind fühlte sich beobachtet. Da hockten sie in ihren Ecken: Die Wüstenfantenstatuen mit ihren Stoßzähnen und Rüsseln -- diese waren alle auf sie gerichtet. Ihre Stimme bebte, als sie begann, die Worte auszusprechen, die sie neulich in einem alten Buch gelesen hatte. Sie hoffte, dass die Mutter diese Geschichte noch nicht kannte -- ansonsten würde sie ihre Schwestern nicht wiedersehen. So waren die Regeln im Tempel der Amra.
"Ein Kamuhliführer aus Beschim ging einst auf dem großen Karawanenweg und hatte den Zaum seines Kamuhlis in der Hand. Er zog es mühsam hinter sich her. Zwei Diebe aus Irem bemerkten dies.
Da sagte der Jüngere zum Älteren: Ich will diesem Mann sein Kamuhli wegnehmen!
Wie willst du es anfangen?, fragte der Ältere.
Folge mir nur, sagte der Jüngere und ging vorsichtig auf das Lasttier zu.
Er hielt jenem eine Sandmöhre hin - die essen die Kamuhlis am liebsten! - daraufhin senkte es seinen langen Hals. Da nahm der Dieb dem Kamuhli das Zaumzeug ab und übergab es seinem Freund.
Verschwinde mit dem Tier hinter der nächsten Düne!, wisperte er dem Älteren zu.
Dann legte er sich den Zaum selbst über den Kopf und lief dem nichtsahnenden Mann solange hinterher, bis sein Freund und das Kamuhli außer Sicht waren. Der Dieb blieb stehen. Der Kamuhliführer zog am Zaum, aber der Dieb rührte sich nicht. Da drehte sich der Mann um und war erstaunt, als der den Zaum über dem Kopf eines Menschen sah.
Bei Alhun dem Großen, wer bist du?
Der Dieb antwortete: Ich bin dein Kamuhli und muss dir eine wunderbare Geschichte erzählen. Du musst wissen, dass ich eine sehr fromme Mutter habe. Als ich eines Tages betrunken von zu viel Kaktusgeist nach Hause kam, tadelte sie mich:
Mein Sohn! Du musst dich zu Alhun bekehren und nicht den falschen Göttern huldigen.
Da wurde ich zornig und verprügelte sie mit einem Stock. Sie sprach einen Fluch, der mich in ein Kamuhli verwandelte, auf dass ich ewig dürstend durch die Wüste wandeln sollte.
Doch du hast mich einst erworben und seither diene ich dir. Heute hat meine Mutter an mich gedacht und hatte wohl Mitleid mit mir. Deshalb hat Alhun mir meinen Verstand und meine menschliche Gestalt zurückgegeben.
Der Kamuhliführer warf sich auf die Knie und bat den Verwandelten um Verzeihung: Es gibt keine Gerechtigkeit außer Alhun, der ewigen Sonne. Ich beschwöre dich, erlasse mir meine ..."
Jemina konnte das Kratzen im Hals nicht mehr unterdrücken. Ein heftiger Hustenanfall schüttelte sie und erst einige hundert Sandkörner später konnte sie den Satz vollenden: "... meine Schuld!"
Die Mutter schloss kurz die Augen -- dann machte sie eine rasche Handbewegung. Zu beiden Seiten des großen Saales traten Diener hinter den Wandteppichen hervor, nahmen goldene Seile in die Hand und zogen gleichmäßig daran. Die Fontäne erstarb und das Wasser des Brunnens verschwand glucksend zusammen mit der Bodenplatte aus Marmor in der Tiefe. Das Mädchen wagte nicht, sich umzublicken.
Die weißen Vorhänge schlugen Wellen, als eine Windbö durch den Raum blies. Jemina bemerkte tanzende Schatten an den Wänden, die wie Schlangen dem Spiel eines Beschwörers folgten. Ein Windspiel ließ eine seltsame Melodie erklingen. Sie bekam Gänsehaut. Wieder dieser kalte Schauder, der ihr das Rückgrat hinunterlief. Diesmal war sie sich sicher, dass etwas ihren Nacken berührt hatte. Die Luft veränderte sich, etwas Fauliges mischte sich unter den Rosenduft. Das Mädchen wagte es, leicht den Kopf zu drehen: keine Schlangen weit und breit.
Die Mutter blickte sie aus kalt leuchtenden Augen an. Ihre Gesichtszüge verrieten nicht, ob sie erwartungsfroh -- oder enttäuscht war.
"Soll ich dir sagen, wie die Geschichte weitergeht?", krächzte die Mutter.
"Der Dieb will von dem Alten Silberlinge, weil der ihn als Kamuhli geschlagen hat und ihm zu wenig Wasser gab. Der Alte ist natürlich so dumm und gibt es ihm. Dann geht der Alte nach Hause und heult seinem Weib etwas vor. Die Alte ist genauso bestürzt und verteilt Almosen an die Armen, damit ihnen vergeben wird. Weil der Alte nur noch zu Hause rumhängt und vor sich hin heult, schickt ihn sein Weib auf den Markt, ein neues Kamuhli zu kaufen. Da entdeckt er sein eigenes und beschimpft es: 'Hast du dich wieder gegen deine Mutter versündigt? Diesmal helfe ich dir nicht!'"
Die Mutter gähnte, dann verdrehte sie die Augen, nachdem sie noch einmal einen tiefen Zug aus einer goldverzierten Wasserpfeife genommen hatte.
"Alhun mag deine Geschichte gefallen, aber ich habe sie schon tausendmal gehört! Erst ist es ein Esel, dann ein Wüstenfant -- und jetzt ein Kamuhli! Die Geschichte ist immer noch so langweilig wie beim ersten Mal! Schmerzlich vermisse ich das Wirken unserer Göttin in deinen Worten! Du hast sie sehr enttäuscht, doch auch dir wird sie ihre allumfassende Liebe zuteilwerden lassen!"
Jeminas Leib schüttelte sich. "Aber, aber ... mein Hals war so trocken ..." Jemina hing eine Träne im Augenwinkel, die sich nicht lösen wollte. "Ich habe doch gefragt, ob Ihr die Geschichte schon kennt!" Die Träne kullerte herab. "Bitte, bitte ... ich will zurück zu meinen Schwestern".
Ihr Hals schnürte sich wieder zu, als sie merkte, dass etwas Fremdes, Grausames auf sie lauerte. Wieder die tanzenden Schatten. Sie sah, wie eine alte Tempeldienerin den Kopf senkte, die Augen schloss -- und sich die Ohren zuhielt. Etwas berührte sie. Sie blickte an sich herunter: ein fleischiger Tentakel schlang sich um ihren Bauch. Ruckartig zog dieser an ihr und schleifte sie in Richtung Brunnen. Sie wollte schreien, brachte aber keinen Laut mehr hervor. Der Boden war glatt poliert, sie rutschte wehrlos über die Fantenmosaike mit ihren verschlungenen Rüsseln. Es wurde dunkel um sie herum, ein süßlicher, fauliger Geruch drang ihr in die Nase, doch dann hüllte sie ein Gefühl von Wärme ein -- und Geborgenheit.
Die Mutter starrte auf das Loch, ihr Blick war leer, nur ein kurzes Zucken ihrer Augenbrauen. "Ein Jammer: Sie war eine meiner Lieblinge! Doch die Göttin entscheidet, wen sie in ihren Schoß aufnimmt."
Es folgte das schabende Kreischen der Marmorplatte. Die Fontäne sprudelte wieder, intensiver als zuvor und spritzte über den Rand des Beckens hinaus. Ein schmatzendes Geräusch drang aus der Tiefe und das laute Plätschern des Springbrunnens übertönte schließlich alles andere. Die alte Dienerin kam herbei, verbeugte sich und begann den Boden zu wischen: zwischen dem Kissen, auf dem gerade noch das Mädchen gesessen hatte, und dem Brunnen, unter dem es verschwunden war.
"Ich hoffe, die Beschauer treffen eine gute Wahl: der Göttin verlangt es nach neuen Kindern...", sagte die Mutter mehr zu sich selbst als zu den Dienern.
Sie saugte an ihrer Pfeife und blies genüsslich einen herzförmigen Ring in die Luft: "... und nach frischen Herzen!"
Der Pfeifenrauch durchwehte den Saal, drang durch die Vorhänge und verließ durch ein großes Fenster den Turm der Mutter.

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