Mittwoch, 6. September 2017

Des Henkers Braut - Kapitel 9: Besessen

Zwei Gestalten in weißen Roben verließen den Tempel des Lichts in Medea. Beide hatten ihre Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Der auffälligste Unterschied zwischen beiden war ihre Körpergröße. Während die eine Gestalt eine durchschnittliche Größe für einen Menschen hatte, war die andere winzig. Sie machte die mangelnde Schrittlänge durch schnelles Trippeln und eingestreute Sprünge wett, sodass sie gleichauf blieben.
Die Straßen Medeas waren mittlerweile leer, es hing ein Schleier kalten Rauchs in der Luft, der das Licht der Laternen trübte.

Endlich hatten sie ihr Ziel erreicht, den Gasthof »Zum Fasanenruf«. Ein paar Kerzen und das heruntergebrannte Kaminfeuer erhellten den Gastraum nur spärlich. Beim Eintreten schlugen die beiden ihre Kapuzen zurück. Sie wurden bereits erwartet.

Vivana begrüßte den Ankömmling: »Bruder Utyferus, gut, dass ihr schon da seid. Unserem Gefährten geht es sehr schlecht. Er liegt oben und windet sich in Krämpfen. Tarkin ist bei ihm. Unser Priester des Mnamn hat schon versucht, ihn zu heilen, aber sein Zustand hat sich eher noch verschlechtert.«

Der junge Priester wandte sich an seine winzige Begleiterin: »Schwester Freya, geht bitte nach oben und schaut nach ihm. Kommt wieder, falls ihr Hilfe braucht.«
Die Wichtelin machte eine kurze Verbeugung und sprang dann flink die Treppenstufen hinauf.

Der junge Alunpriester ging zu einem verschwörerischen Flüstern über: »Glaubt mir, die niederen Götter können in einem solchen Falle wenig ausrichten. Der Schratenherr, naja, man kann nicht jeden Fluch mit Schnaps vertreiben.« Aus einer dunklen Ecke kam ein beschwipstes »Das hab' ich gehört!«.

Am oberen Treppenabsatz tauchte die Wichtelpriesterin wieder auf und rief: »Bruder Utyferus, ihr müsst ihn euch selbst ansehen. Da stimmt etwas nicht!«

Der Gerufene eilte die Treppe hinauf und betrat das Zimmer. Er sah, wie der Faundruide gerade ein Gebet an die Erdmutter sprach, doch vergebens. Es knackte im Gebälk, der Barbar hustete, sonst passierte nicht.
Tarkin, der Kobold, hatte dem Barbaren Wadenwickel angelegt und kühlte gerade seine Stirn mit einem nassen Lappen. Der Gjölnar schien sich beruhigt zu haben. Er lag still da und starrte an die Decke. Er schien sehr weit weg zu sein.

Finn, der Faundruide, sah den Alunpriester verzweifelt an: »Wie kann ich ihm helfen?«

Der Priester antwortete: »Ehrlich gesagt: wenig; Ianna hat hier keine große Macht. Aber ihr könntet einmal lüften, ein übler Gestank liegt im Raum.«

Utyferus beugte sich über Saradar: »Seht, er hat die Augen nach oben verdreht, sodass man nur noch das Weiße sehen kann. Ich will versuchen, den Fluch zu bannen, der auf ihm lastet. Bitte tretet alle zurück.«

Alle folgten seiner Aufforderung. Während die Umstehenden in tiefes Schweigen verfielen, versenkte sich der junge Priester ins Gebet. Nach einer Weile holte er eine Flasche geweihten Wassers und acht kleine weiße Kerzen aus seiner Gürteltasche. Die Kerzen stellte er in regelmäßigen Abständen um Saradar herum auf und entzündete sie. Dann machte er das Sonnenzeichen. Er öffnete den Verschluss der Flasche und begann, Saradar mit geweihtem Wasser zu besprenkeln. Die Tropfen schillerten im Kerzenschein in allen Farben. Währenddessen intonierte er mit tiefer und fester Stimme einen zölestischen Gesang: »Esruch Fugon Nomo Alunas.« Das Kerzenlicht flackerte kurz auf, doch an Saradars Zustand änderte sich nichts.
Der Gesang des Priesters erstarb schließlich. Enttäuscht blickte ihn die kleine Wichtelpriesterin an: »Wenn er verflucht wäre, müsste es ihm doch jetzt besser gehen.«
Der weiße Priester sank erschöpft auf einen Stuhl. »Ich verstehe es auch nicht. Ich befürchte, es handelt sich nicht bloß um einen simplen Fluch. Fast wirkt es, als sei er … Nein, das kann nicht sein.«
Der faunische Druide sah ihn fragend an. »Es scheint fast so, als ob euer Freund von einer fremden Macht befallen sei. Ich schlage vor, dass ihr euch abwechselnd um ihn kümmert. Ich muss mit Schwester Freya in die Tempelbibliothek. Wir kommen morgen wieder. Falls sich sein Zustand in der Zwischenzeit verschlechtern sollte, wisst ihr, wo ihr uns findet.«
Mit diesen Worten verließen die beiden Alunpriester das Gasthaus und kehrten zum Tempel zurück.
Dort schickte Utyferus die kleine Wichtelfrau ins Bett: »Die Bibliothek ist abgesperrt und Bruder Amelfus hat den Schlüssel. Wir treffen uns gleich nach dem Morgengebet in der Bibliothek. Gute Nacht.«

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»So, so; ihr wollt also in den gesperrten Bereich«, stellte der alte, gebeugte Amelfus, der Verwahrer der Bücher, fest.

»Es ist eine Notlage. Einer der Abenteurer, die den Zurakkult vernichtet haben, wurde verflucht, ich muss an die Bücher über Dämonen und schwarze Künste – ansonsten ist er verloren!«, beteuerte der junge Priester.

»Bruder Utyferus, ich will es euch erlauben. Hier ist der Schlüssel. Inotius war mir schon immer ein bisschen zu fromm – das kam mir schon immer verdächtig vor. Er hatte seinen eigenen Schlüssel für den gesperrten Bereich, ich habe ihn oft des Nachts mit einer Kerze dort sitzen sehen. Jetzt weiß ich warum!«

Utyferus legte Freya einen großen Folianten auf den Tisch, blies den Staub vom Deckel und schloss ihn auf: »Der Codex ›Nomo Daemonico‹, vielleicht werdet Ihr darin fündig, Schwester Freya.«

Das Buch war sogar aufgeschlagen noch höher als sie. Sie zog sich an dem großen, geschlitzten Lesezeichen hoch und setzte sich an den unteren Seitenrand. Sie war eine schnelle Leserin. Zum Umblättern ging sie an den rechten Seitenrand, zog an der Ecke und lief mit ihr auf die linke Seite rüber, wo sie sie behutsam ablegte.
Die Strahlen der Mittagssonne fielen gerade durch das bunte Mosaikfenster, das eine Eule darstellte – ein Symbol für Skia, die Göttin der Weisheit – als Freya aufgeregt aufschrie: »Ich hab's, ich hab's gefunden!«
Freya beim Stöbern.
Utyferus trat zu ihr: »Leise! Ihr vergesst Euch! Wir sind doch in einer Bibliothek! Zeigt mir, was Ihr gefunden habt.«
Sie las ihm eine Passage aus Band X des Dämonencodex vor, in dem es um »Verfaulte Leiber« ging:

»Der Schwarze Sud.
Findet sich am Corpo sub axilla, sub lingo oder im Sacco conjunctivo eine Nigra Substancia, so ist vom Sodi Nigri, in der Gemeinen Sprache auch Schwarzer Sud genannt, auszugehen. Die Substancia hat in der Regel einen fauligen Foetorio; der Volksmund bezeichnet den Befallenen daher auch als ›Verfaulten‹. Der Befallene hat die Augen geöffnet, sie regelhaft aber so verdreht, dass nur noch die Sclera Alba sichtbar ist; er reagiert nicht auf Ansprache. Die Nigra Substancia dringt von diesen Loci aus langsam in den Corpo ein und verzehrt die Seele des Befallenen. Dieser Processo läuft langsam ab, doch nach ungewisser Duracio ist er irreversibel. Dann ist aus dem Befallenen ein williger Diener des Gottes des Hasses geworden, dessen Nomo hier nicht weiter expliziert wird.»Sehr gut, Schwester Freya.«, lobte Utyferus die kleine Wichtelin. »Findet sich dort auch etwas über eine mögliche Heilungsprozedur?«

Freya zuckte mit den Schultern: »Darüber findet sich hier nichts, Bruder Utyferus. Vielleicht im Band XX über Heilung von Besessenheit.«

Utyerus holte einen weiteren Wälzer aus dem Regal, blies wieder den Staub vom Buchdeckel und legte ihn offen auf den Tisch. Schnell hatte er die entsprechende Passage gefunden. Er las laut vor:

»Heilung vom Schwarzen Sud.
Ein rapportierter Caso von Bruder Semwellius.
--- Und so gelang es mir – ich will es, ohne mich der Sünde des Stolzes schuldig zu machen, ... mit Hilfe einer Reliquie, dem Proc. Coccygo des Schutzheiligen Podexius … mit Contacto zum Corpo … das Fortschreiten des Sodi Nigri zu verhindern … doch eine vollkommene Restitucio … ist nur einem Priester des Hauptgottes des Befallenen möglich.
Aliud denke ich, dass auch die Gebeine eines anderen Schutzheiligen in Betracht gekommen wären.«Utyferus hatte ein breites Lächeln auf den Lippen: »Wir müssen uns zunächst versichern, ob er tatsächlich vom Schwarzen Sud besessen ist. Kommt, Schwester Freya.«

Die beiden Priester wollten gerade den Tempel verlassen, als sich ihnen ein Jüngling in brauner Kutte in den Weg stellte. Es war Tolar, der einzige der Novizen aus Altem, der das Wüten des Zurakkultes überlebt hatte.
»Bruder Utyferus, Schwester Freya, Bruder Unar will euch sehen.«
Sie folgten dem jungen Mann in den hohen Tempel. Unar kniete vor dem Altar des Lichts und war in ein Gebet vertieft. Als er die beiden Priester bemerkte, machte er das Sonnenzeichen und erhob sich.

»Schön, dass ihr gekommen seid. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal die Amtsgeschäfte eines Hohepriesters und eines Stadtherrn übernehmen müsste. Nun, Alun hat so entschieden. Wie dem auch sei. Ich wollte euch unterrichten, dass eine Taube gekommen ist. Der Hochwächter des Lichts befiehlt, dass wir eine Ausgangssperre über Medea verhängen sollen. Ich habe dies direkt an die Stadtwache weitergeleitet. Sie soll bestehen bleiben, bis ein Inspektor mit seiner Gefolgschaft vom Mon Alunas eingetroffen ist, und die Angelegenheit gründlich untersucht hat. Ich habe gehört, ihr habt den ganzen Tag in der Bibliothek zugebracht und dadurch das Mittagsgebet versäumt.«

Aus den Gesichtern der beiden konnte man zunächst Erschrecken und dann Beschämung herauslesen. Sie ließen die Köpfe hängen.

»Was war so wichtig, dass ihr eure Pflichten vergesst?«, wollte Unar wissen.

Er musste sich wegen seines schlechten Gehörs etwas nach unten bücken, als ihm Freya antwortete: »Wir haben herausgefunden, dass der Barbar wahrscheinlich vom Schwarzen Sud besessen ist!«

Jetzt sah Unar erschrocken aus: »Der Schwarze Sidd? Alun, behüte uns vor den Geistern des Abgrunds!«
Er machte das Sonnenzeichen.

Utyferus ergänzte: »Wenn es so ist – wir müssen das erst noch verifizieren – brauchen wir die Reliquie eines Schutzheiligen.«

Unar schüttelte den Kopf: »Wir können sicherlich keine Reliquien an irgendwelche Barbaren aus den Nordlanden verschwenden. Aber, versucht euer Glück, stellt einen Antrag an die Reliquienbewahrer, vielleicht genehmigen sie euch die Verwendung. Ich weiß nur, dass Bruder Emerius gar nicht begeistert wäre, wenn ihr seine Reliquiensammlung durcheinander bringt. Und nun holt euer Mittagsgebet nach!«

Die beiden Priester knieten nieder und versanken ins Gebet, als von draußen schon die Abenddämmerung durch die Mosaikfenster drang.

Wieder schwebten die zwei weißen Roben wie Geister durch die Gassen Medeas, die bereits ins Zwielicht getaucht wurden.

Im dämmrigen Licht des Schankraums des Fasanenrufs hatte sich die Abenteurergruppe versammelt. Nur der Barbar aus dem Norden fehlte. Der Halbschrat Widun saß an der Theke und war in ein Gespräch mit dem missmutig dreinblickenden Wirt vertieft, der gerade jammerte: »Dumme Sache, diese Ausgangssperre. Jetzt bleibt meine Kundschaft aus. Wenn ihr nicht wärt, würde noch mein Bier schal werden.«
In einer Ecke des Raums waren zwei weißbärtige Männer in ein Würfelspiel vertieft, Bronzemünzen wanderten begleitet von einem Lachen des Gewinners und einem Seufzen des Verlierers hin und her über den Eichentisch. Eine Bank wurde fast vollständig vom riesigen Hügeltroll Urota eingenommen, sie ächzte und knackte bereits unter seinem Gewicht. Ihm gegenüber saß der Faundruide, dessen Huhn gerade – unter dem strengen Blick der übrigen Abenteurer – gackernd über den Tisch stolzierte. Vivana füttere Tarquan, ihren Liebsten – es roch nach Bohnen mit Speck, ein kühles Bier durfte natürlich nicht fehlen.
Eine rothäutige Schönheit aus dem Land des Feuers musste einer kleinen Koboldmagierin von ihrer Heimat berichteten. Ein bärtiger Krieger schaute gedankenverloren ins Kaminfeuer.
Bei jedem Geräusch von draußen hoben sich die Köpfe erwartungsvoll und blickten in Richtung Tür.
Diesmal waren sie es: die beiden ungleichen Alunpriester.

Während die Wichtelpriesterin ohne lange Vorrede die Treppe hinauf sprang, setzte sich Utyferus zu den Abenteurern: »Alun zum Gruße!« Er fuhr in einem Flüsterton fort:
»Wir sind uns ziemlich sicher, was euren Freund befallen hat. Eine dunkle Präsenz hat von ihm Besitz ergriffen, die ihm die Lebenskraft aussaugt. Es ist kein Dämon, den man austreiben könnte. Doch wartet, Freya überzeugt sich gerade, ob auch die anderen Zeichen zutreffen. Wir müssen uns erst ganz sicher sein.«

Die Wichtelin rutschte mit einem breiten Grinsen im Gesicht das Treppengeländer herunter. Sie sprang Utyferus auf die Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Es ist so, wie wir vermutet haben. Wir haben auch schon eine Idee, wie wir eurem Freund helfen können, aber es wird nicht einfach. Vertraut uns, wir machen das schon.«

Dabei zwinkerte er der Wichtelpriesterin zu.

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