Montag, 9. Dezember 2024

Der Zahn des kalten Gottes - Kapitel 6: Eis und Blut

Warum bist du nicht nach Parapolis zurückgekehrt, wie ich dir geraten hatte?“ fragte Lorik, als er das Kaninchenfleisch vom Feuer nahm.
Calvaron kam noch einmal zu mir, als ich noch am Lagerfeuer saß und beschimpfte mich. Er hatte mir das Angebot gemacht, mich mitzunehmen, nach Norden, in ein besseres Leben… er meinte, ich hätte versagt.
Warum denkst du, dass im Norden ein besseres Leben auf dich wartet?
Ich weiß nicht“, gab Hasabi zu, „ich weiß nur, dass ich hier weg will! Die Stadt erscheint mir wie ein Gefängnis!
Warum bist du nicht einfach weggelaufen? Jeder Bürger darf doch, solange er kein Verbrechen begangen hat, die Stadt verlassen!
Ich hätte niemals gewusst, wie ich allein in den gefährlichen Wäldern und den einsamen Tälern überleben kann.
Und ich soll dich jetzt mitschleppen? Oder wie hast du dir das gedacht, Kleiner?
Lorik gab Hasabi ein großes Stück des köstlich duftenden Kaninchenfleisches. Dieser bedankte sich mit einem Nicken und biss ein großes Stück davon ab.
Du willst doch in deine Heimat zurück, oder nicht? Zu zweit wandert es sich leichter! Ich beschaffe uns das nötige Geld in den Städten und du führst uns sicher durch die Wildnis.“ „Du gehörst nicht nach Yarwaques Hand Junge! Das ist ein raues Land! Und außerdem lässt du das mit dem Stehlen lieber bleiben, ich will keinen Ärger in Agilis oder Bel bekommen!
Soll das heißen, ich darf dich begleiten?
Was soll ich denn sonst machen? Du läufst mir doch wieder nur halb verhungert hinterher! Trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob dir das Leben im Norden gut bekommen wird!
Das werden wir dann ja sehen!“ lächelte Hasabi. Er wusste, dass für ihn an diesem Tag ein neuer Abschnitt in seinem Leben begonnen hatte.
Lorik, erzähl von deiner Heimat!
Manche würden sagen, es ist nur ein kalter, leerer Felsen, ein Stück unzivilisierte Wildnis. Aber es gibt wunderschöne Plätze in diesem Land. Meine Leute, die Gjölnar, sind Krieger und Jäger. Sie verehren den Gott des Mutes, Osir, der die Tapferen nach dem Tode in seinem himmlischen Heer begrüßt. Meine Sippe lebte im nördlichsten Teil des Landes, am Fuße gewaltiger, schneebedeckter Berge. Die Luft da oben ist kalt und klar und zeigt dir, dass du lebst. Hier unten in den südlichen Gefilden Thaliens drückt dir die Sonne den Geist zusammen.
Du hast gesagt, nichts hätte dich mehr im Norden gehalten. Was ist geschehen?
Eines Tages kam ein junger Krieger von den Khor’Limrik, einer anderen Gjölnarsippe, die in den Bergen lebte. Der Kerl sah ziemlich fertig aus und verbreitete das Gerücht in unserer Siedlung, ein gewaltiger weißer Eisdrache, wie Ion ihn noch nie gesehen hätte, hätte seine Leute ausgelöscht. Er beschwor uns, mit ihm nach Süden zu fliehen und uns mit weiteren Brüdern gegen den Drachen zu stellen. Wir lachten über das Geschwätz des Zerlumpten und warfen ihn aus unserer Siedlung. Oft hatten wir Zwist mit den Khor’Limrik, und wir hielten das Gerede für einen Trick, um uns aus unserem Land zu vertreiben. Wir hätten besser auf ihn gehört …“, bei diesen Worten neigte Lorik den Kopf und strich sich gedankenverloren durch den kurzen, stoppligen Bart.
Zwei Wochen später kam ich mit einer Gruppe von fünf Kriegern erfolgreich von der Bärenjagd zurück. Wir hatten drei mächtige Braunbären und sogar einen Schwarzbären erlegt und ihnen das wertvolle Fell abgezogen!“ lachte Lorik.
Von weitem sah unsre Siedlung ganz friedlich aus. Als wir aber durch das Palisadentor schritten, sahen wir, dass unsere Sippe ausgelöscht worden war. Überall lagen die zerfetzten Leiber unserer Lieben. Keiner hatte den Angriff überlebt. Die Spuren im Schnee und an den Leichen zeigten, dass der junge Krieger der Khor’Limrik recht gehabt hatte. Es war ein gewaltiger Drache, der das angerichtet hatte.
Ich wusste nicht, dass es wirklich Drachen gibt!“ staunte Hasabi, schien aber auch ein wenig erschrocken zu sein.
Ja, aber kein andrer Drache ist eine solche Bestie! In der folgenden Zeit fielen immer mehr Dörfer dem Drachen zum Opfer und wir formten eine Gruppe aus den tapfersten unserer Krieger, die den Drachen jagen und töten sollten. Unser Anführer war der junge, aber mutige Rahtak, der Letzte der Khor’Limrik. Als er fiel, übernahm ich seinen Posten bei der Jagd. Drei Jahre lang waren wir dieser Bestie auf der Spur. Viele unserer Mannschaft mussten mit ihrem Leben bezahlen. Der Drache nahm allen meiner Sippe, außer mir und meinem jüngsten Bruder, der nicht stark genug für eine solche Jagd war, das Leben. Viele weitere Dörfer fielen auch zu dieser Zeit noch dem Monster zum Opfer. Es war ein dreißig Schritt hoher weißer Drache, mit gewaltigen durchscheinenden Schwingen und Schuppen, die so dick waren, dass das schärfste Schwert sie kaum durchdringen konnte. Nach einem Jahr gesellte sich eine Gruppe der seltsamen Alwonai-Spitzohren zu unserer Jagdgesellschaft. Ihre Bögen waren unseren weit überlegen, also nahmen wir sie in unseren Reihen auf. Im dritten Jahr dann war es endlich so weit. Durch einige glückliche Umstände konnten wir dem Drachen eine Falle stellen und ihn so verletzen, dass er sich kaum noch zu rühren im Stande war. Gerade als wir dem Ungetüm zu Leibe rücken und ihm den Garaus machen wollten, schritten die Alwen ein. Sie meinten, der Drache sei zwar wahnsinnig, aber trotzdem sei er ein Bote der Frosthirtin Nivie. Sie sagten, sie müssten ihn mitnehmen nach Korilion, um ihn dort rituell zu töten, um die Göttin nicht zu erzürnen. Wie du dir denken kannst, waren wir damit nicht zufrieden. Wir wollten den Drachen tot sehen, der uns so viel Leid gebracht hatte. Die Alwonai machten das Angebot, uns mit Schätzen zu entschädigen, was einige der Gruppe von ihrer starren Haltung abbrachte, mich jedoch nicht. So erlaubten die seltsamen Spitzohren mir, mit ihnen nach Korilion zu kommen, wo der Drache getötet werden sollte.
Und wie haben die Alwen den Drachen dann getötet?“ fragte Hasabi neugierig.
Ich weiß es nicht so genau, sie hatten ihn in einer riesigen Höhle angekettet und Priester standen um ihn herum … bei dem Ritual durfte ich selbst nicht zusehen, was mich damals sehr sauer gemacht hat. Das einzig Zufriedenstellende waren die furchtbaren Schmerzensschreie der Bestie, die ich hörte, als ich vor dem Tor der Halle wartete. Als ich die Halle betrat, war der Drache weg. Irgendeine Hexerei der Alwen hatte ihn verschwinden lassen, denn außer dem Tor, vor dem ich wartete, gab es keinen Ausgang aus der Höhle, der groß genug für den Drachen gewesen wäre. Das Einzige, was ich danach jemals wieder von diesem Drachen sah, war dieser Zahn …
Lorik hielt Hasabi den glitzernden Talisman vor Augen.
Was hast du dann gemacht?“ wollte Hasabi wissen.
Ich wollte mit dem Gold und den Edelsteinen nach Süden gehen und hier in Thalien mein Glück versuchen, doch zunächst drängten mich die Alwen bei ihnen zu bleiben. Ich wurde dort sehr gut behandelt und sie ritzten mir seltsame Zeichen in die Haut, die mich schützen sollten …“ bei diesen Worten beugte sich Lorik nach vorne und strich seine Haare über seinen Kopf, so dass Hasabi Loriks Nacken gut sehen konnte. Da war ein kreisrundes Symbol, das dem auf seinem Handrücken nicht unähnlich sah.
Ich habe auch so ein Zeichen von Calvaron bekommen!“ bemerkte Hasabi und streckte Lorik seine bemalte Hand entgegen.
Hat er dir auch erzählt, dass es dich schützen soll?“ fragte Lorik. Hasabi nickte.
Das kannst du vergessen!“ bemerkte Lorik, „mich hat es vor gar nichts geschützt! Aber vor allem hat es mich nicht vor der Schmach beschützt, dass ich selbst keine Rache nehmen konnte! Für einen Krieger Osirs ist das mit das Schlimmste überhaupt, seiner Chance zur Rache beraubt zu sein. Deshalb hasse ich die Alwen. Sie haben mich zu dem gemacht, was ich heute bin: ein Säufer und Taugenichts, der sich Frauen kauft, ob hübsch oder hässlich.“ Lorik schüttelte von dieser Erinnerung angewidert den Kopf und starrte wie am Abend zuvor ins Feuer.
Aber warum wollen die Alwen den Zahn zurück?“ fragte Hasabi mehr sich selbst als den in Gedanken versunkenen Barbaren.
Vielleicht ist ihnen zu Ohren gekommen, dass ich mich etwas unfein verhalten habe und sie meinen, mir gebühre deshalb nicht mehr die Ehre, einen Drachenzahn, ein Symbol ihrer Göttin, weiterhin zu tragen.
Hasabi gähnte und streckte sich. Es war spät geworden und der Tag hatte ihn ziemlich mitgenommen.
Ich übernehme die erste Wache“, sagte Lorik, was Hasabi sich nicht lange sagen ließ. Wenige Stunden später weckte der Barbar den Jungen aus einem eigenartigen, aber nicht unangenehmen Traum. Hasabi war noch immer müde, doch er schwor sich, über seinen neu gewonnen Freund zu wachen und nicht wieder einzuschlafen.

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