Ein angenehm säuerlicher Geruch ging von dem grünen Apfel aus. Der junge Jujin bewunderte das Licht des Sonnenaufgangs auf seiner glatten Schale. Der Apfel war die erste Beute des Tages gewesen, nichts Besonderes, dennoch freute sich der kleine Dieb darüber, denn in letzter Zeit wurde es immer schwieriger, sich nicht von den Händlern erwischen zu lassen. Sie hatten den Stadtrat dazu bewegt, die Wachen auf dem Marktplatz zu verdoppeln. Das Warenangebot war zurückgegangen und durch die Androhung einiger Kaufleute, sich ebenfalls aus dem Geschäft in Parapolis zurückzuziehen, fürchteten viele der Ratsmitglieder um den Wohlstand der Stadt. Das Gezänk der Stadtväter interessierte Hasabi jedoch wenig. Als Dieb war er nur ein kleiner Fisch in einem großen Meer voller Haie. Er stahl nur, um am Leben zu bleiben. Hier mal ein Brot, da mal ein Messer, das er dann gegen sauberes Wasser oder etwas Essbares eintauschte. Es waren sicher nicht seine geschickten Finger, die die Händler und den Stadtrat so zum Schnauben brachten. Während Hasabi den Apfel genüsslich verschlang, Bissen für Bissen, schweifte sein Blick über das Treiben auf dem Marktplatz von Parapolis.
Der Markt war auf drei Ebenen verteilt, die durch breite Treppen miteinander verbunden waren. Die oberste und die unterste verliefen sich zu den Seiten hin in verwinkelte Gassen, in denen ebenfalls gerade Stände errichtet wurden. Von seinem erhöhten Standort aus, einer Mauer zwischen zwei alten Handelshäusern, hatte er eine hervorragende Aussicht. Langsam füllte sich der Platz mit Menschen. Auf der untersten Marktebene begutachteten braun und grau gewandete Mägde die Auslagen der Händler auf das genaueste. Auf der mittleren sah er Krieger aller Herren Länder, die sich Bögen, Säbel und Rüstungen zeigen ließen. Darunter waren sowohl schwarze Stammeskrieger aus den Steppen Nal‘Schirs, braungebrannte und mit Fellen bedeckte Barbaren aus den nördlichen Ländern, als auch zahlreiche Vagabunden aus den Reichen Thaliens, die mit feisten Händlern um die Preise feilschten. Die Stände auf der obersten Ebene waren den Edlen vorbehalten. Hier stand natürlich der Großteil der Wachen und beschützte Goldschmiede und Edelsteinhändler vor Langfingern. Dort traute sich Hasabi nicht zu stehlen, denn er hatte schon zu viele gute Diebe ihre Hand verlieren sehen. Doch es gab eine Möglichkeit, an die Kostbarkeiten zu kommen, das wusste er. Er musste nur den Käufern heimlich folgen und auf eine passende Gelegenheit warten.
Sein Blick fiel auf eine hagere Gestalt, die in einen braunen Kapuzenumhang gehüllt war. Sie hastete schnellen Schrittes gerade die Treppe zur mittleren Ebene hinab. Die dort postierten Stadtwachen schienen sich böse Blicke zuzuwerfen, als sie die hagere Gestalt bemerkten, machten aber keine Anstalten, sich ihr in den Weg zu stellen. Schon vermischte sich das Braun ihres Mantels mit dem bunten Gewimmel des Markttreibens. Der Junge schluckte rasch den letzten Bissen des saftigen Apfels hinunter, hatte er jetzt doch ein lohnenswertes Ziel vor Augen. Er kicherte, als er noch schnell den Apfelkrotzen auf den Kopf einer vorübergehenden Matrone fallen ließ. Diese war zunächst erschrocken, dann empört und begann eine Tirade an Verwünschungen, als sie niemanden auf der Mauer sah. Der Junge war auf der anderen Seite hinab geklettert und zwängte sich durch ein Loch in der Mauer, das durch einen schmalen Tunnel mit dem Marktplatz verbunden war. Der Tunnel mündete in eine kleine Öffnung neben der Treppe, die die unteren beiden Ebenen miteinander verband. Nur wenige waren so schmal und geschmeidig wie er, dass sie sich so mühelos hätten hindurch schlängeln können. Hasabi strich sich beim Aufstehen den Staub von der dunklen Tunika und legte sich seinen langen, gebundenen schwarzen Zopf wieder auf den Rücken. Dann bewegte er sich unauffällig, aber doch zielstrebig, in die Richtung, in der er die verhüllte Gestalt aus den Augen verloren hatte. Auf dem Weg durch die wabernde, schwitzende und unablässig schwätzende Menschenmenge, die Hasabi oft wie ein großes stinkendes Tier aus Schleim vorkam, das seine Eingeweide außen trug und bellende Laute von sich gab, begegnete er auch der fetten Frau, die seinen Apfel an den Kopf bekommen hatte und sich noch immer kopfschüttelnd bei einer anderen - nicht minder beleibten - Frau über den Vorfall beklagte, was Hasabi ein neuerliches verborgenes Kichern entlockte.
Nachdem er seine Füße auf die mittlere Ebene gesetzt hatte, dauerte es nicht mehr allzu lange, bis er den braunen Mantel, nachdem er Ausschau hielt, entdeckte. Hasabi erkannte, dass sich der Verhüllte auf direktem Wege zur untersten Ebene befand. Der Junge stellte sich kurz an einen Stand, an dem ein Händler verschiedene Öle anbot, um nicht vom Verhüllten gesehen zu werden. Der Händler gab einen zischenden Laut von sich, als er den Jungen sah und wedelte mit seiner fetten Hand, was so aussah, als wolle er eine garstige Schmeißfliege von seiner Knollennase vertreiben. Hasabi schenkte dem unwirschen Händler ein kurzes neckisches Grinsen, drehte sich dann blitzschnell um und verfolgte die hin und wieder zwischen den Menschen auftauchende braune Kapuze. Auf der untersten Ebene, auf der an diesem Tag noch am wenigsten Los war, konnte Hasabi sich ein besseres Bild von seinem Opfer machen. Obwohl die Stiefel, die hin und wieder unter dem ausladenden Mantel aufblitzten, wirklich einem Edlen zu gehören schienen, bewegte sich diese Gestalt anders als alle Edlen, die Hasabi bis jetzt gesehen und bestohlen hatte. Der Vermummte bewegte sich nicht wie einer dieser hochnäsigen Fatzken oder plumpen Geldsäcke. Obwohl er anscheinend nicht gerade bedacht darauf war, ungesehen zu bleiben, bewegte er sich eher wie ein sehr geschickter Dieb. Hasabi wusste, dass er vorsichtig sein musste, wenn er dieser Gestalt etwas entreißen wollte. Der junge Jujin war jedoch zu entschlossen, um auf seine innere Unruhe zu hören. Er musste sich nun beeilen, da sich der Verhüllte langsam aber sicher dem Rand des Marktplatzes näherte, wo immer weniger Menschen waren. Bog der Fremde in eine unbelebte Straße ab, würde es für Hasabi schwieriger sein, einem aufmerksamen Mann etwas aus dem Gürtel zu ziehen.
Hasabi näherte sich auf leisen Sohlen seinem Opfer, blickte sich noch einmal in alle Richtungen um und griff ihm dann mit einer blitzschnellen Bewegung unter den Mantel. Er spürte kalten Stahl am Gürtel und musste blinzeln, als er in einer ebenso schnellen Bewegung einen reichlich mit Edelsteinen besetzten Dolch hervorzog. Volltreffer! Gerade in dem Augenblick, als sich Hasabi freudig erregt umdrehen wollte, spürte er eine eiskalte Berührung. Sein erschrecktes Stöhnen, als er die weiße, von dunkelblauen Adern durchzogene Hand sah, die sich um sein Handgelenk gelegt hatte, wurde von einer weiteren ebenso kalten Hand erstickt, die sich über seinen Mund schloss. Noch benommen vom gerade erlittenen Schock, konnte er sich nicht wehren, als ihn die Gestalt mit ungeheurer Schnelligkeit in eine dunkle Seitenstraße zerrte. »Seit wie vielen Jahren lebst du schon wie eine Ratte?«, fragte der Verhüllte mit einer seltsam hohlen Stimme in gebrochener Gemeiner Sprache. Hasabi, der jetzt mit dem Rücken zur verhüllten Gestalt stand, konnte nicht antworten, obwohl die eiskalte Hand schon von seinem Mund geglitten war. Er hörte sein eigenes angsterfülltes, viel zu schnelles Atmen und kalter Schweiß rann über seine hohe, glattgeschabte Stirn. Hasabi wurde von der schmalen, aber kräftigen Hand des Verhüllten umgedreht. Aus dem schwarzen Schatten der Kapuze blitzen ihn zwei pupillenlose Augen an. Er wusste, dass dies kein Edler aus der Stadt war – es war wahrscheinlich nicht einmal ein Mensch. Hasabi, der als Waise sein ganzes Leben in der Gosse dieser Stadt verbracht hatte, wusste nicht viel über die Welt, und es interessierte ihn eigentlich auch nicht.
»Du bist geschickt, allerdings musst du dir in Zukunft deine Kunden besser aussuchen«, säuselte die Gestalt. »Diese fetten, behäbigen Menschenhändler wären ein besseres Ziel für dich!«. Mechanisch antwortete Hasabi dem Fremden mit einem schnellen Nicken. »Außerdem«, sprach der Fremde weiter und ließ dabei Hasabis Handgelenk los, »gibt es einträglichere Opfer als mich!«. Bei diesen Worten öffnete der Fremde seinen Mantel und gab eine weiß-bläuliche Robe preis. Am Gürtel hingen einige Beutel, die allerdings keine Schätze sondern eher Nahrung und irgendwelche fremdartigen Kräuter zu enthalten schienen.
»Der Dolch ist mein einziges kostbares Stück. Er würde dir sicherlich eine ganze Menge einbringen, wenn du ihn hier verkaufen würdest.« Wieder nickte Hasabi beiläufig, konnte seinen Blick jedoch nicht von den durchdringenden gelben Augen abwenden.
»Ich kann dir diesen Dolch nicht geben«, sprach der Fremde, »jedenfalls nicht, ohne dass du etwas für mich tust!«
»Was?«, stotterte Hasabi und blickte den Dolch an, den er die ganze Zeit über fest in der Hand gehalten hatte. Obwohl er nicht wusste, warum, gab er ihn an seinen Besitzer zurück.
»Wer seid Ihr?«, wagte sich Hasabi zu fragen.
»Oh, entschuldige, dass ich mich dir noch nicht vorgestellt habe. Ich bin Calvaron, und ich komme aus Korilion.« Bei diesen Worten nahm der Fremde seine Kapuze ab. In ein so eigenartiges Gesicht hatte Hasabi noch nie geblickt. Die gelben Augen lagen in tiefen Höhlen eines blassen, fast weißen Gesichtes. An den Seiten verliefen wie auf seinen Händen dunkelblaue Adern wie Risse nach einem Erdbeben. Am erstaunlichsten jedoch waren für Hasabi die fürchterlich langen, oben spitz zulaufenden Ohren, die aus den langen, teilweise zu dünnen Zöpfen gebundenen Haaren herausstachen.
»Ihr, Ihr seid kein Mensch …«, entfuhr es Hasabi, als er die gar nicht so unfreundlichen Züge des Fremden betrachtete.
»Nein, mein Junge, ich bin ein Alwe, um genauer zu sein, ein Alwonai. Wir leben im Norden, und nur wenige wagen sich so weit in den Süden wie ich.«
»Ich hörte einmal eine Geschichte von einem Mann, in der Alwen vorkamen, aber ich dachte das wären nur Märchen …«
»Einige meiner Leute halten die Thalier für Märchenwesen, weil sie ihre kalte Heimat niemals verlassen haben!«. Bei diesen Worten huschte ein Lächeln über die schmalen Lippen des Alwen, was ihn für Hasabi gar nicht mehr so gefährlich erscheinen ließ.
»Ich habe diese Stadt noch nie verlassen und kenne außer den missmutigen Schraten aus den Bergen, die hier manchmal über den Markt humpeln, keine anderen Völker außer uns Menschen!«
»Irgendwann wirst du sicherlich eine Reise machen und erstaunt sein über die Vielfalt unserer Welt.«
»Ich kann nicht von hier weg!«, erklärte Hasabi. »Ich könnte mir niemals genug Proviant leisten, um eine längere Reise zu machen. In der Stadt finde ich gerade so viel, dass es mir zum Überleben reicht. Gerne würde ich diese Mauern hinter mir lassen, doch größere Diebstähle werden hier schlimm bestraft und …«
»Ich bin ein Priester, ein Diener der Götter und könnte dir dabei helfen, von hier fort zu kommen. Die Gnade der Götter wird jedoch nur denen zuteil, die es sich verdienen. Weißt du was ich meine, mein Junge?«
»Sie wollen sicher darauf hinaus, dass ich irgendetwas für sie tue, habe ich recht?«
»Du bist klug, das gefällt mir!«, sprach Calvaron und gab dem jungen Jujin mit der Hand Zeichen, ihm tiefer in die Schatten der Nebenstraße zu folgen.
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