Montag, 9. Dezember 2024

Der Zahn des kalten Gottes - Kapitel 2: Loriks Laster

Der Wind, der vom Meer herauf durch die verwinkelten Gassen Parapolis' blies, erschien Lorik in dieser Nacht kälter als sonst. Mit seiner Hand tastete er über seine mächtige Brust. Sein Umhang aus Wolfsfell war weg. Er musste ihn irgendwo zwischen hier - wo immer das auch war - und der letzten Taverne, aus der man ihn rausgeprügelt hatte, verloren haben. Erschrocken fasste er an seinen Gürtel und stellte erleichtert fest, dass sein Beutel voll Münzen noch da war. Die Silberlinge würden noch für die nötige Wärme in einer der zahlreichen anderen Schenken ausreichen. Außerdem musste der Weg von hier bis zur nächsten Taverne kürzer sein als bis zur Gaststätte, wo er ein Zimmer hatte, denn er konnte sich nicht mehr an deren Namen erinnern. Lorik entschied, dass er einfach dort aufwachen würde, wo er – natürlich nach einigen Vergnügungen – eingeschlafen war. Aber das konnte nicht hier auf der Straße sein, da ihm die Kälte der See wirklich unangenehm in die Glieder fuhr.
Lorik, Gjölnar vom Stamm der Khor'Benrick.
Lorik trieb sich nun schon einige Jahre in den Städten Thaliens herum und genoss sein Leben als Mann ohne Verpflichtungen. Früher war er ein raubeiniger Krieger gewesen, auf dessen Taten Osir, der Gott des Mutes und der Tapferkeit, stolz gewesen wäre. Vom früheren Glanz seiner Taten war nicht viel mehr als der immer kleiner werdende Sack klimpernder Münzen übriggeblieben. In einiger Entfernung, etwas die Gasse hinauf, bemerkte der Barbar, dass sich ein schmaler, verschwommen leuchtender Spalt stetig dehnte, um dann wieder zu seiner ursprünglichen Größe zusammenzufallen. In seiner Phantasielosigkeit folgerte Lorik, dass es sich um eine Tür handeln musste, die geöffnet wurde und wieder zufiel. Wankend näherte er sich der Erscheinung und bellte einem der Schatten, der ihm entgegenkam, er solle ihm die Türe aufhalten. Auf diese Weise gelangte Lorik, der sich, nachdem er versehentlich den Türpfosten geküsst und sich dann bei diesem entschuldigt hatte, in seiner ursprünglichen Annahme, es könne sich um eine Tür handeln, bestätigt fühlte, in ein warmes Haus.

»Ungewöhnlich!«, gluckste er, als er sich in dem großen Raum umschaute. Kerzen erhellten einige Stuhlreihen vor einer großen Steintheke, auf der eine Art Buch lag. An den Wänden standen Regale, die mit Schriftrollen und Büchern angefüllt waren. Die Decke und Säulen waren mit seltsamen Zeichen geschmückt, die Lorik weder in seinem jetzigen, noch in nüchternem Zustand hätte entziffern können. Alles, was er erkannte, war eine Abbildung einer Eule über der Theke, die ihm ein kräftiges Kichern entlockte. »Hoho!«, rief der Barbar. »Also so 'ne bescheuerte Verzierung hab’ ich ja noch nie geseh‘n! Na ja, Hauptsache das Bier hier schmeckt!«, rief er lauthals und schlug einem der Schatten kräftig auf die Schulter. »Wow!«, pfiff Lorik, als er drei in weiße Togen gewandete Frauen vor der Steintheke sah. »Aber die Bedienungen sind ganz schön heiß! Bringt mir und meinem schattigen Freund hier mal ein schmackhaftes Bierchen!«, grunzte er mehr, als dass er sprach durch die Reihen der Menschen, die auf einmal laut anfingen, miteinander zu schnattern. Davon unbeeindruckt sah er sich weiter um und entdeckte am Eingang zwei große Wasserbecken. Lorik begrüßte die Möglichkeit, sich vor dem Trinken zu waschen, denn er erinnerte sich vage daran, dass nicht alle Getränke, die er in dieser Nacht zu sich genommen hatte, auch wirklich seine Kehle nur einmal durchquert hatten. Er beschloss, nicht das Wasser seinem Gesicht anzunähern, sondern sein Gesicht und fast seinen ganzen mächtigen Oberkörper tief in das kalte Wasser zu tauchen. Als er unter Wasser seine Augen öffnete, sah er, dass etwas bläulich funkelndes auf dem Grund des Beckens lag. Gerade als er nach dem Gegenstand greifen wollte, zerrten ihn starke Hände aus dem Becken.
»Lass dich hier nie mehr blicken, elender Wilder!«, rief man ihm nach, als man ihn unsanft aus der Tür warf. Etwas missmutig und verstört blickte Lorik nach kurzer Zeit wieder auf und spuckte in Richtung des Lichtspaltes. Als sein Blick danach getrübt auf eine weitere Lichterscheinung fiel, entglitt seinem Gesicht ein schiefes Lächeln.

***

Als Lorik am nächsten Tag mühsam ein Auge öffnete, bemerkte er, dass er in einem Bett lag, und dass eine Rothaarige ihren Kopf auf seine Brust gelegt hatte. Noch etwas benommen vom vielen Bier richtete er sich keuchend auf und stöhnte. Sein Kopf wollte am liebsten sofort in tausend Stücke zerspringen. Die junge, gar nicht mal so hübsche Frau rollte sich auf dem Bett zusammen, als Lorik aufstand. Er hatte sich wohl in einem der vielen Gasthäuser volllaufen lassen und sich mit einem der Mädchen ein Zimmer genommen. Er erinnerte sich daran, dass er seinen Umhang verloren hatte. Sein Säckchen mit den Silberlingen lag auf dem kleinen Tisch neben dem Bett und hatte erneut etwas von seinem Gewicht eingebüßt. So wie es aussah, würde es allerdings noch für die Bezahlung des Zimmers ausreichen. Erst jetzt bemerkte er, dass ihm sein Hals irgendwie sonderbar nackt vorkam. Dann wurde es ihm plötzlich klar. Er hatte seinen Talisman verloren, den er an einer ledernen Schnur um seinen sehnigen Hals getragen hatte. Sein Blick fiel auf die Rothaarige. Mit einem zornigen Knurren entriss er der Frau die Bettdecke, worauf sie einen lauten Entsetzensschrei ausstieß.

»Wo ist mein Talisman?«, fauchte der Barbar die zitternde, nackte Frau an. Sie schüttelte nur benommen den runden Kopf.
»Mein Talisman? Wo ist er? Hast Du Dirne ihn mir gestohlen?«. Tränen rannen über die Wangen der jungen Frau, die keines der Worte des Barbaren verstanden hatte und ihre Nacktheit plötzlich vor dem vor Wut schäumenden Barbaren verbergen wollte. Lorik kam auf die junge Frau zu und legte seine mächtigen Hände um ihren zierlichen Hals und hob sie so aus dem Bett heraus.
»Ich frage dich nur einmal. Wo ist der Talisman, den ich gestern Abend trug, als ich in diese Taverne trat?« Mehr quiekend als sprechend gab die Rothaarige nur spärliche Laute von sich: »Ihr … nichts … Hals. Kein Talisman … nur … Silberlinge!«

Lorik ließ die junge Frau auf das Bett zurückfallen, die sich sofort ihren nun wunden Hals rieb. Er hatte nicht vorgehabt sie zu töten, aber dieser Talisman bedeutete ihm sehr viel. Es war ein Talisman, den er schon einige Jahre trug. Er erinnerte ihn an seine wagemutigen Abenteuer mit seinen mächtigen Kampfgenossen. Doch nun schien er verloren und mit ihm der letzte Rest seiner Kriegerehre. Als er, so nackt wie er war, mit geschlossenen Augen dastand und über seine nun völlig überflüssig erscheinende Existenz nachsann, kam ihm plötzlich das Bild eines funkelnden blauen Gegenstandes in einem Wasserbecken in den Sinn. Er hatte seinen Talisman beim Waschen verloren. Und nun fiel ihm auch wieder ein, dass das in einer Schenke gewesen war, in der eine große hässliche Eule über dem Tresen hing. Er musste diese Schenke und damit seinen Talisman finden! Er zog sich rasch an und warf der Dirne einige seiner Silberlinge aus seinem Beutel als Entschädigung zu und verließ rasch über eine knarrende Holztreppe das kleine Zimmer. Unten erwartete ihn schon ein freundlich dreinblickender,  pausbäckiger alter Mann, der mehr Haare auf den Armen als auf dem Schädel zu haben schien. Die grünliche Schürze, die er sich über seinen schwabbligen Bauch gebunden hatte, zeichnete ihn für Lorik als Gastwirt aus.

»Guten Morgen!“, grüßte der Alte und bemerkte schnell, dass in diesem Falle ein zu freundliches Benehmen auch keine gute Lösung sein würde.
»Sie haben ihr Zimmer heute Nacht schon bezahlt. Ich wünsche ihnen noch einen angenehmen Tag!«
»Jaja, ich suche eine Taverne …«, brummte Lorik missmutig.
»Tavernen gibt’s viele in Parapolis«, merkte der Alte an, »kennen Sie vielleicht den Namen, der außen auf dem Schild steht?«
»Nein, ich weiß nur, dass da eine Verzierung mit einer Eule über dem Tresen hing!«
»Eine Eule? Mhm, nein, tut mir leid, ich kenne keine Taverne, in der man so was findet, tut mir leid, … allerdings kenne ich auch nicht alle meine Konkurrenten!«

Missmutiger als zuvor wankte Lorik auf die Straße. Das Sonnenlicht stach ihm in die Augen und schickte ihm eine neue Schmerzwelle durch die Schläfen. Einen Fluch auf Alun, den Gott des Lichts, ausstoßend, erhob er seine Hand gen Himmel und erstarrte plötzlich, als er einige Schritte über sich genau so eine Eule erspähte, wie er sie in Erinnerung hatte.

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