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Calvaron, der Alwonai-Priester. |
Trischon, der einarmige Schlossknacker aus dem Hafenviertel, glaubte sich an einen Mann mit einer solchen Tätowierung erinnern zu können. Er beschrieb Hasabi die Schenke, in der er den Barbaren gesehen zu haben glaubte. Dort hatte er von einem alten Seebär erfahren, dass sich der Wilde, der wirklich Lorik zu heißen schien, nachts häufig durch sämtliche Schenken des Hafenviertels soff. Nun war er dabei eben diese Spelunken nacheinander abzuklappern, um zu überprüfen, ob der Barbar in einer der vielen Tavernen mit Gästezimmern übernachtet hatte. In der letzten Gaststätte, einer kleinen Holzstube auf deren Schild 'Zum hämischen Hecht' stand, hatte man ihm erzählt, dass man in der vergangenen Nacht einen stockbesoffenen Wilden, der Streit anfangen wollte, auf die Straße geworfen hatte. Hasabi beschloss die Gaststätten in der Nähe zu erkunden, weit konnte Lorik, falls er wirklich so besoffen gewesen war, nicht gekommen sein. Als Hasabi die Straße hinauf sein nächstes Ziel, eine teures Gasthaus namens 'Goldesel', erspähte, huschte er hinter die Marmorsäule eines Gebäudes, um nicht von der heraustretenden Person gesehen zu werden. Vorsichtig lugte er um die Säule herum und erkannte, dass er Lorik gefunden hatte. Er starrte zum Giebel eines Skia-Tempels, auf der eine kunstvoll gemeißelte weiße Eule aus Marmor saß. Die Tätowierung, die der Barbar trug, ließ den mächtigen Körper des wilden Nordmannes noch furchteinflößender erscheinen, als er in Anbetracht seiner Muskeln sowieso schon war. Seine lange braune Mähne hing ihm bis auf seine breiten Schultern herab. Außer einer ausgemergelten ledernen Hose, an der ein kleiner Geldbeutel hing und einigen Fellstiefeln in noch schlimmerem Zustand trug er offensichtlich nichts bei sich. Von einem Drachenzahn war nichts zu sehen. Zielstrebig schritt der mächtige Barbar auf die Tür des Tempels, der der Göttin der Weisheit geweiht war, zu. Sein heftiges Rütteln an der mit Eisen beschlagenen Tür zeigte ihm, dass die Tür ganz offensichtlich verschlossen war und er sie nicht aufbrechen konnte. Interessiert sah Hasabi, dass der Barbar ganz offensichtlich nach einem Weg suchte, um in den Tempel zu gelangen.
„Was will dieser schwankende Riese in dem Tempel?’ fragte sich Hasabi.
„Sicherlich ist er kein Anhänger Skias, die all das verkörpert, was dieser Wilde gerade nicht ist!“
Erstaunt sah der junge Dieb, wie sich der unbeholfene Barbar an einem Holzgerüst, an dem eine Kletterpflanze emporgewachsen war, hochzog. Als Lorik oben angekommen war, schaute er sich noch einmal flüchtig um, bevor er das bunte Fenster unter dem Dach eintrat. Das laute Splittern des Glases ließ den jungen Jujin zusammenzucken.
„Was für ein Trottel!“ dachte sich Hasabi und war sich sicher, dass der Wilde mit dem Lärm die ganze Straße geweckt hatte. Nervös blickte sich Hasabi in der Gasse um und entdeckte wenig später einen wild schimpfenden Priester in fliegender weißer Robe. Hinter ihm tauchten drei Stadtwachen auf, die ihre Breitschwerter gezogen hatten. Aus ihren Gesichtern las Hasabi Erstaunen. Wahrscheinlich fragten sie sich, warum der Priester schon so früh am Morgen drei von ihnen von ihren Posten abziehen musste. Der Priester schloss mit einem großen eisernen Schlüssel die Tür des Tempels auf. Laut schnaubend riss er den großen Holzflügel zur Seite, entzündete mit einem Feuerstein eine Fackel und eilte mit zwei der Wachen in die Dunkelheit. Die dritte Stadtwache blieb vor der Tür stehen und blickte sich gelangweilt auf dem Platz vor dem Tempel um. Hasabi war gut versteckt und die müden Augen des Wächters übersahen ihn.
„Diese verdammten Kinder!“ hörte Hasabi den erbosten Priester rufen.
„Das ist nun schon das dritte Mal in diesem Jahr, dass sie unsere Scheiben einwerfen!“ Hasabi musste sich ein Kichern verkneifen. Er hörte, wie der Priester nicht weniger aufgeregt innen mit den beiden Stadtwachen sprach, die in der Dunkelheit wahrscheinlich nach einem Stein suchten. Plötzlich kam Lorik mit einer enormen Geschwindigkeit aus der Tür gestürmt und schickte den Wächter mit einem einzigen gewaltigen Nackenschlag ins Reich der Träume. Der Barbar musste sich im Dunkeln vor dem Priester und den Stadtwachen versteckt haben. Blitzschnell krallte sich der Barbar das Schwert der bewusstlosen Wache, noch bevor dieses auf den Boden fallen konnte. Danach rannte der Wilde so schnell er konnte die Straße in Richtung Hafen hinunter. Hasabi verschwand hinter dem Haus auf der anderen Straßenseite des Tempelplatzes und folgte der engen Parallelstraße, die ebenfalls zum Hafen führte. Vom Tempelplatz hörte er noch die Stimme des Priesters, der die Stadtwachen anschrie, sie sollten den Einbrecher verfolgen. Nach einiger Zeit verlangsamte Hasabi seine Schritte und wollte sich gerade eingestehen, dass er die Spur des Barbaren verloren hatte, als er ein Keuchen in einer der Seitengassen hörte. Langsam schlich sich Hasabi zur Hausecke und blickte mit einem Auge in die Straße. Lorik lehnte sich, sichtlich von seinem Spurt geschafft, mit dem gestohlenen Schwert in der Hand, an eine Hauswand. Er hatte die Augen geschlossen und atmete schwer. Hasabi vermutete, dass das ausschweifende Leben in der Stadt der Ausdauer des Barbaren nicht gerade zuträglich gewesen war. Als der junge Dieb näher hinsah, erkannte er, dass Lorik nun ein Lederband um den muskulösen Hals trug, an dem ein wunderschön funkelnder Gegenstand hing. Das musste die Reliquie sein! Aber wie sollte Hasabi an diese herankommen? Er hatte gesehen, wie leicht der Krieger die Stadtwache niedergeschlagen hatte und jetzt trug er ja auch noch ein Schwert. Lorik öffnete die Augen und schien erst jetzt zu bemerken, dass er ein Schwert in der Hand hielt. Hasabi konnte ein Funkeln in den Augen des Kriegers sehen, als dieser seinen Blick über die Schwertklinge hin zum Himmel richtete. Hasabi musste seinen nächsten Schritt genau planen, dieser Mann war sehr gefährlich, dass spürte er. Der Dieb lehnte sich an die Hauswand um über sein Vorgehen nachzudenken und kratzte sich dabei beiläufig an seinem Handrücken auf das der Alwe Calvaron ihm ein hübsches Symbol gemalt hatte.
Calvaron hatte ihm erzählt, es sei ein Schutzsymbol seiner Göttin, der Frosthirtin, Nivie, die ihn beschützen würde. Jetzt juckte ihn die Farbe auf seiner Haut und schien auch nicht mehr weg zu gehen. Als er Geräusche aus der Seitenstraße hörte, vergaß er seine Hand. Der Barbar hatte das Schwert der Stadtwache in ein braunes Leinentuch gehüllt, das er irgendwo auf der Straße gefunden haben musste. Mit einem weiteren Lederriemen verschnürte er es zu einem festen Paket und verließ aufrechten Schrittes die Seitenstraße in der entgegengesetzten Richtung. Auf leisen Sohlen folgte Hasabi dem Barbaren und blieb immer ein gutes Stück zurück. Lorik nahm die Straße, die hinab zum Hafen und auf der anderen Seite zum Marktplatz führte, wo er gestern zum ersten Mal Calvaron begegnet war. Auf dem Markt blieb der Barbar an einigen Ständen stehen und ließ sich Pökelfleisch, Zwieback und Wein geben, was er mit klingender Münze aus seinem Beutel bezahlte. Hasabi erkannte, was der Barbar vorhatte: Er wollte die Stadt verlassen. Das war der Zeitpunkt, den Alwen-Priester aufzusuchen. Er musste dem heiligen Mann erzählen, dass sich der Wilde mit der Reliquie aus dem Staub machen wollte. Hasabi blickte sich auf der untersten Ebene des Marktes um und fand nach kurzer Zeit, was er suchte. Zwischen zwei Obstständen kauerte eine in dunkelbraune Tücher gehüllte Gestalt. Das war Jock, einer von Hasabis Quellen und einer seiner besten Freunde im Marktviertel. Heimlich gesellte sich Hasabi zu seinem versteckten Freund zwischen die Marktstände.
„Hallo, Hasabi! Was machst du denn hier?“ fragte Jock seinen Freund.
„Ich hab’ ‘nen Auftrag, was ziemlich Großes … ich brauche deine Hilfe!“
„Moment …“, unterbrach der dürre Jock seinen Freund mit erhobener Hand.
„Fünf Silberlinge!“ rief Hasabi da und brachte damit Jock zum Schweigen.
„Siehst du diesen Wilden da hinten?“
„Du meinst den tätowierten Gorilla?“
„Ja, genau den. Du musst ihn für mich beschatten.“
Jock nickte seinem jungen Freund zu.
„Und dann?“ fragte er.
„Wir treffen uns zu Marktende am oberen Stadttor!“
Jock wartete mit der Verfolgung des Barbaren bis Hasabi aus der Hafenstraße verschwunden war.
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