Um nicht von seiner Müdigkeit übermannt zu werden, stocherte Hasabi immer wieder mit einem langen Stock in der Glut des Feuers. Trotzdem fielen ihm hin und wieder seine Augen zu. Immer wenn er aufschreckte, verfluchte er sich selbst für seine Schwäche. Hasabi blickte über das Feuer zu seinem barbarischen Freund, der ruhig auf dem Rücken lag. Der Drachenzahn lag wie am Abend zuvor auf der mächtigen, tätowierten Brust, die sich gleichmäßig hob und senkte.
Plötzlich bemerkte Hasabi wieder dieses Jucken in der Hand, die Calvaron bemalt hatte. Mit Entsetzen stellte er fest, wie sich ein kalter Schauer von seiner Hand den Arm hochlief und sich über seinen gesamten Körper verbreitete. Die Kälte erreichte jetzt seine Füße. Ohne sein Zutun erhob er sich und seine Beine setzten sich von alleine in Bewegung. Vor seinen Augen wirkte alles so unwirklich und irgendwie glaubte der Junge, er sei wieder eingeschlafen und befinde sich in einem Traum. Der junge Jujin-Dieb ging langsam um das Feuer herum, bückte sich und zog behände die Lederschnur mit dem Talisman vom Hals des Barbaren. Hasabi konnte nichts dagegen tun, er sah alles wie durch eine mehrere Schritt dicke Eisschicht eines zugefrorenen Sees. Seine Hand bewegte sich so geschickt, dass der Lederriemen Loriks Kopf nicht berührte. Dieser schlief weiter und merkte nichts.
Hasabi verließ die Höhle und trat in den kalten Morgenwind. Die frische Luft tat seinem Kopf gut, trotzdem konnte er seine Bewegungen nicht selbst lenken. Er versuchte zu schreien, um Lorik zu wecken, aber er schaffte es nicht, seinen Mund zu öffnen. Seine Füße traten durch den feuchten Schlamm in die Dunkelheit zwischen den Bäumen.
Dann sah er ihn - Calvaron. Er hatte seinen Kapuzenumhang abgelegt. Das fahle Licht des Morgens schimmerte auf der entblößten, muskulösen Brust des Alwen. Seine rechte Hand hatte er erhoben, als hielte er etwas. Aber da war nichts. Seine Hand war leer. Seine Finger öffneten und schlossen sich und aus dem leicht geöffneten Mund des Alwen kam ein Flüstern, das sich wie die Stimmen tausender Hexer anhörte, deren Beschwörungen vom Wind davongetragen werden.
„Jetzt hast du doch noch deinen Zweck erfüllt, kleiner Dieb!“ flüsterte Calvaron mit der gleichen, wahnsinnigen Stimme.
„Die Zeichnung auf deiner Hand macht dich zu meinem Sklaven. Sie war es auch, die mich zu euch geführt hat.“
Hasabi wollte erneut schreien, um seinen schlafenden Freund in der Höhle zu wecken, doch kein Wort drang aus seinem Mund.
„Kämpfe nicht dagegen an, es wird dir nichts nutzen!“
Hasabi näherte sich dem Hexer Schritt für Schritt. Je näher der Junge kam, desto besser konnte er die Symbole auf Brust des Alwen erkennen: Ein kreisrundes Symbol, das dem auf seiner Hand sehr ähnelte. Jetzt sah er es - es war identisch mit dem auf Loriks Nacken: seltsam detaillierte Runen, die ineinander verschlungen wieder eine Art Rune bildeten.
Lorik erwachte, als er bemerkte, dass es in der Höhle kühler geworden war. Ein kurzer Blick und er wusste, dass Hasabi verschwunden war. Schnell packte er sein Schwert, das er an die Wand gelehnt hatte und rannte aus der Höhle. Je näher er dem Ausgang kam, desto eigenartiger fühlte er sich. Sein Hinterkopf schmerzte, als würde er einem Feuer des Abgrunds immer näher kommen. Als er mit blitzendem Schwert aus der Höhle trat, war der Schmerz in seinem Nacken unerträglich geworden. In einiger Entfernung sah er den Jungen, wie er langsam, fast humpelnd, zwischen den Bäumen verschwand.
„Hasabi, wo willst du hin?“ rief er so laut er konnte, erhielt aber keine Antwort. Erst jetzt bemerkte er, dass sein Talisman weg war. Zornig rannte er dem jungen Dieb aus Parapolis hinterher. Da war er, und an seiner Hand baumelte sein Drachenzahn! Kurz verfluchte er sich im Geiste selbst, dass er auf den Jungen hereingefallen war. Doch als er das Ziel des Jungen in einiger Entfernung sah, wusste er, was hier gespielt wurde. Der alwische Hexer schien den Jungen wie ein Puppenspieler zu lenken.
„Was tust du da, alwischer Hund?“ brüllte Lorik den Hexenmeister an, der erst jetzt den Barbaren zu bemerken schien.
„Komm nicht näher, Wilder, oder es wird dein Tod sein!“ rief Calvaron zurück, als er sah, dass Lorik näher kam. Unbeeindruckt stapfte dieser weiter in die Richtung des Alwen, obwohl die Schmerzen in seinem Nacken immer stärker wurden. Als er noch etwa zehn Schritte vom Alwen entfernt war, verkrampften sich alle seine Muskeln und sein Nacken drohte zu bersten. Auch der Alwe schien sich für einen Moment nicht rühren zu können, gewann aber schnell wieder an Haltung. Lorik war rückwärts umgefallen. Ihm kam es so vor, als sei er gegen eine massive Wand aus Feuer gelaufen, die ihn zurückgeworfen hatte, obwohl nichts zu sehen war.
„Es sind die Runen meiner Brüder!“ lachte Calvaron voller Wahnsinn.
„Sie haben sie uns verpasst, damit ich niemals in deine Nähe kommen kann. Sie sollten verhindern, dass ich meinen Zahn zurückbekomme! Sie dachten, das würde mich davon abhalten, wieder zu dem zu werden, was ich einst war!“
„Wer bist du, alwischer Hund? Und was willst du mit meinem Talisman?“ brüllte Lorik, der immer noch mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden lag.
„Du kennst mich, Barbar, doch du hast meine wahre Gestalt niemals erkannt“, fauchte Calvaron.
„Ich bin ein Gott! Der Herr der Kälte und Herrscher über die schneebedeckten Länder Ions!“ Mit zugekniffenen Augen beobachtete Lorik, wie Hasabi direkt vor den bleichen Hexer trat und die Hand mit dem Drachenzahn, der plötzlich hell aufleuchtete, über seinen Kopf erhob. Mit großem Erstaunen sah Lorik, wie Hasabi Calvaron den Zahn mitten in sein kaltes Herz stach. Der Leib des Alwen zuckte unter heftigen Schmerzen zusammen. Die Schreie, die er aus Calvarons Mund hörte, erinnerten Lorik an die schrecklichen Todesschreie des Drachen, der in Korilion von den Alwonai getötet worden war. Der schmale Leib des Alwen sackte in sich zusammen. Ein letztes Zucken durchlief sein Rückgrat, dann stoppten die Schreie und es herrschte eine tödliche Stille.
Hasabi kam langsam wieder zu sich. Er sah den übergebeugten, regungslosen Körper Calvarons und erstarrte. Als er das Keuchen seines Freundes Lorik hörte, wandte er sich ab und trat zu dem großen Mann, der immer noch auf dem Boden lag. Hasabi half ihm aufzustehen. Mühevoll führte Hasabi den Barbaren zurück in die Höhle, als sie plötzlich ein schrilles, dem Wahnsinn entsprungenes Lachen vernahmen. So schnell sie konnten, wandten sie sich wieder dem Wald zu. Der vermeintliche Leichnam des Alwen zuckte und der bleiche, bläulich schimmernde Rücken des Alwen schien zu pulsieren, als ob sich unter seiner dünnen Haut etwas bewegte. Die Blätter, die um den Körper lagen, schienen unruhig zu zittern und die Schatten der Bäume wurden von einem fahlen Licht ausgelöscht, das von dem gerade niedergestreckten Leib Calvarons ausgesendet wurde. Mit einem schrecklichen Geräusch, das klang wie das Zerreißen der Glieder beim Vierteilen, richtete sich der Körper Calvarons auf und begann zu wachsen. Sein Gesicht hatte sich auf schreckliche Art verändert. Es hatte jetzt keine Ähnlichkeit mehr mit den makellosen Zügen eines Alwen, sondern glich eher der verzerrten Fratze eines Dämons aus dem tiefsten Abgrund.
„Erkennst du mich jetzt?“ schrie das sich umformende Wesen, das immer noch gewaltig an Größe zunahm.
„Ich bin es, dein Gott! Knie nieder!“ Das Gesicht wurde zu einer Schnauze, aus der lange weiß-blaue Zähne ragten, die dem Talisman glichen, den Lorik so lange getragen hatte. Hinter der Gestalt traten gewaltige weiße Schwingen hervor und die Hände und Füße des Alwen hatten sich in bizarre Krallen verwandelt. Auf der Brust des Wesens schimmerten hellgraue Schuppen, wie ungeschliffene Diamanten. Mit einem markerschütternden Schnauben beendete er seine Verwandlung. Vor ihnen stand ein dreißig Schritt hoher Drache, dessen gewaltige Hörner und Zähne seinen Anblick unerträglich machten. Sein Schatten hüllte Lorik und Hasabi in völlige Dunkelheit. Mit gefletschten Zähnen wogte er seinen langen reptilienhaften Hals vor den beiden Freunden hin und her, die die ganze Zeit wie gebannt zugesehen hatten. Als der Drachenhals mit einem ungeheuren Tempo nach vorne schnellte, um die beiden zu zerfetzen, stieß Lorik Hasabi zurück in die Höhle und hob das Schwert. Doch zu spät. Die spitzen Zähne bohrten sich in den Leib des Barbaren und der Drache schleuderte ihn durch die Luft. Aus den Bisswunden quoll Blut. Lorik schaute sich nach seinem Schwert um, das er durch den Ruck verloren hatte. Es lag für ihn unerreichbar zu Füßen des Drachen. Dieser trat langsam an den Barbaren heran und verspottete ihn mit einem reptilienhaften Lachen. Er stand jetzt direkt vor der Höhle, in der die Freunde übernachtet hatten. Mit einem schrillen Kampfschrei schoss Hasabi aus der Höhle hervor und rammte dem Drachen einen glühenden Stab in die Flanke. Das einfache Holz schob sich tief in das kalte Drachenfleisch und entlockte dem gewaltigen Rachen ein schmerzhaftes Fauchen. Der Drache drehte seinen langen Hals zu Hasabi, der sich gerade abgewandt hatte, um in den Wald zu fliehen. Die riesigen Nüstern des Drache stieben eisige Luft aus. Im letzten Moment hechtete Hasabi hinter einen Baum, als die Luft um ihn herum vom Atem des Drachen zu Eis erstarrte. Diesen Moment der Ablenkung nutzte Lorik, um sich das verlorene Schwert zurückzuholen. Als der Drache gerade seinen gehörnten Kopf wieder zu ihm herumdrehte, schlug Lorik zu, so fest er konnte. Das Schwert prallte klingend vom Hals der Bestie ab. Mit einem Kopfstoß schleuderte der Drache Lorik genau vor die kleine Höhle, in die sich der Barbar humpelnd zurückzog. Der Drache stürmte vor die Höhle und spie einige Male kräftig seinen tödlichen Atem hinein.
Hasabi, der das gesehen hatte, wusste, dass das das Ende des Barbaren gewesen sein musste. Angsterfüllt rannte Hasabi in den Wald und verfluchte sich dafür, dass er jemals die Stadt verlassen hatte. Obwohl er so schnell rannte wie es seine müden Beine zuließen, kam er nicht weit. Schnell legte sich der breite Schatten des Drachen über ihn und die Windstöße, die der riesige Drache mit seinen Flügeln erzeugte, wirbelten Blätter auf, die ihm in die Augen flogen. Er stürzte und krümmte sich vor Angst auf dem Boden zusammen. Plötzlich erklang ein dumpfes Geräusch, das sich mit dem Knacken und Brechen von Ästen und Stämmen vereinte. Als Hasabi in Todeserwartung über sich blickte, sah er den schrecklichen Drachenkopf, der sich vor Lachen auf und ab bewegte.
„Du Made wirst mein erster Diener sein! Durch mein Zeichen auf deiner Hand wirst du ewig mein willenloser Sklave sein! Also steh auf!“
„Nein!“ brüllte Hasabi, nahm einen Stein, der in seiner Nähe lag und schleuderte ihn dem Drachen an den Kopf. Dieser kicherte nur unbeeindruckt weiter und begann daraufhin in einer fremden Sprache eine Beschwörung zu flüstern. Hasabi spürte, wie sein Wille wieder aus seinem Körper verbannt wurde. Als sich sein Blick zu trüben begann, erkannte er gerade noch so, wie eine schleierhafte Gestalt auf den Rücken des Drachen sprang.
Es war Lorik, der sich breitbeinig zwischen die Schultern der Bestie stemmte und sein Schwert mit beiden Händen packte.
Der Drache war darauf nicht gefasst gewesen - mit einem gewaltigen Stich rammte der Barbar sein Schwert tief in den Drachenhals. Erschrocken, dass das Schwert überhaupt seine dicke Haut durchdringen konnte, schüttelte er den Barabaren ab und wand sich schließlich schmerzerfüllt auf dem Boden. Mit ungeheuer wilden Bewegungen schlug der Drache in seinem Todeskampf um sich, bis er schließlich bewegungslos liegen blieb. Langsam verwandelte sich der tote Drache wieder in die Gestalt des Alwen zurück, dem der blaue Drachenzahn aus der Brust ragte. Die Runenzeichnung war verschwunden, dafür hatte er gewaltige Wunden am Hals und an der Seite.
Hasabi wurde es schwarz vor den Augen - er fiel in den Schlamm. Als er nach einiger Zeit die Augen wieder aufschlug, sah er den toten Leib Cavalorns immer noch neben sich liegen, es war also kein Traum gewesen. In der Nähe saß der übel zugerichtete Lorik, der lächelte, als er sah, dass sich Hasabi erhob.
„Lorik!“ freute sich auch Hasabi und humpelte zu ihm rüber.
„Wie konntest du in der engen Höhle dem Frostatem der Bestie widerstehen?“
„Weiß du, als ich in die Höhle kam, war das Feuer fast heruntergebrannt. Ich warf mich auf den Boden und bedeckte meinen Leib schnell mit der glühenden Asche. Als ich spürte, dass der Drache aufgehört hatte, entzündete ich rasch ein neues Feuer und erhitzte die Klinge. Die Idee kam mir, nachdem ich gesehen hatte, wie einfach dein glühender Ast durch die Drachenhaut geglitten ist.“
„Jetzt hast du deine Rache!“ stellte Hasabi fest und blickte dabei noch einmal zum toten Calvaron hinüber.
„Ja, Osir ist erfreut!“ lächelte der Barbar, während ihm das Blut von den Lippen tropfte.
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